Fachartikel Eigenverbrauch , Erneuerbare Energien

«Quartierstrom» – eine Schweizer Premiere

Mini-Solarstrommarkt

31.03.2019

Im Januar ist in Walenstadt der erste lokale Strommarkt der Schweiz gestartet, in dem Produzenten und Konsumenten in einem Quartier untereinander direkt Solarstrom kaufen und verkaufen. Im einjährigen Pilotversuch im Rahmen des Projekts «Quartierstrom» wollen die Beteiligen aufzeigen, wie die dezentrale Stromversorgung der Zukunft aussehen könnte.

Immer mehr Strom wird dezentral produziert. Der Eigenverbrauch von Solarstrom ist seit Anfang 2018 auch über die Grundstückgrenzen hinweg gesetzlich verankert. In der Regel läuft dies über ein privates Leitungsnetz zwischen den verschiedenen Gebäuden, bei dem nur ein Anschluss ans öffentliche Netz vorhanden ist. Doch in bestehenden Quartieren, wo alle Liegenschaften bereits über einen eigenen Netzanschluss verfügen, lohnt sich der Aufbau einer parallelen Netzstruktur kaum. Im Projekt «Quartierstrom» in Walenstadt wird deshalb das öffentliche Verteilnetz zum Austausch des Stroms benutzt. Liegenschaften beziehungsweise Haushalte mit und ohne Solarstromanlagen werden über das Verteilnetz zu einem Quartiernetz zusammengeschlossen, das über einen «virtuellen» Netzanschlusspunkt zum Verteilnetzbetreiber verfügt.

In diesem Quartiernetz handeln die angeschlossenen Haushalte Solarstrom, der lokal produziert wird. Im Gegensatz zu Eigenverbrauchslösungen, bei denen in der Regel ein fixer Preis für die Solarenergie gilt, entsteht in Walenstadt ein wirklicher Strommarkt: Die Preise werden gemäss Angebot und Nachfrage zeitnah via Blockchain festgelegt, Käufe und Verkäufe gemäss individuellen Präferenzen der Teilnehmenden automatisch abgewickelt. Produzenten und Konsumenten können den Handel aktiv beeinflussen und ihre Gebote anpassen.

Am Projekt, das vom Bundesamt für Energie als Leuchtturmprojekt gefördert wird, beteiligen sich mehrere Hochschulen, Partner aus der Industrie sowie das Wasser- und Elektrizitätswerk Walenstadt (WEW) als Umsetzungspartner. Anfang Jahr ist der einjährige Pilotbetrieb von «Quartierstrom» gestartet.

Zurück zur Physik

«Mit dem Projekt Quartierstrom bewegen wir uns zurück zur Physik», sagt Christian Dürr, Geschäftsleiter des WEW. Wenn eine PV-Anlage Strom ins Netz einspeist, fliessen die Elektronen auf dem kürzesten Weg zu einem Haushalt, in dem gerade gekocht wird. Der dezentral produzierte Solarstrom fliesst also in der Regel nur durch das lokale Verteilnetz. Deshalb wird für den lokal gehandelten Strom nur die Netznutzungsgebühr der untersten Verteilnetzstufe erhoben. Dadurch wird der lokal produzierte Strom preislich attraktiv.

Das Energiegesetz schreibt jedoch vor, dass die vollen Netzentgelte fällig werden, sobald Strom in ein öffentliches Netz ausgespeist wird. Um diese rechtlichen Rahmenbedingungen einzuhalten, werden am Ende des einjährigen Pilotversuchs die Netzentgelte für die übergeordneten Netzebenen über das Projektbudget ausgeglichen. Christian Dürr betont: «Wir müssen für neue Lösungen offen sein, sonst ist keine Innovation möglich. Der Markt muss sich den Bedürfnissen der Kunden anpassen, denn von ihnen leben wir.» Das Projekt soll zeigen, wie viel Solarstrom direkt vermarktet werden kann und wie autark solche Netze funktionieren können.

Produzenten und Konsumenten gestalten mit

Kauf und Verkauf des Stroms werden direkt unter den Teilnehmenden abgewickelt – das WEW ist als Zwischenhändler ausgeschaltet. Es stellt jedoch sein Verteilnetz zur Übertragung des Solarstroms zur Verfügung und liefert Netzstrom, wenn die Stromnachfrage höher ist als das Solarstromangebot.

In erster Priorität wird der produzierte Solarstrom im eigenen Haushalt im klassischen Eigenverbrauch genutzt. Nur Überschüsse werden im lokalen Strommarkt gehandelt: Die Produzenten platzieren ihre Angebote auf dem Markt, die Konsumenten legen fest, zu welchen Konditionen sie Solarstrom kaufen. Beide können über ein Portal das Marktgeschehen, die Preisentwicklung sowie ihre Käufe und Verkäufe beobachten und ihre Preislimits anpassen (siehe unten: «Web-Portal als User Interface»).

Hat der Produzent zum Beispiel einen Minimalpreis für seinen Solarstrom definiert, der deutlich über dem Preis im lokalen Strommarkt liegt, wird er diesen nach unten korrigieren, weil er sonst keinen Strom verkauft. Konsumenten können angeben, wie viel sie für den lokalen Solarstrom zu bezahlen bereit sind. Wollen sie einen möglichst hohen Solarstromanteil, legen sie die Grenze höher; wollen sie gegenüber heute Stromkosten sparen, wählen sie einen Maximalpreis, der unterhalb des Netzstrom-Preises liegt.

Insgesamt 37 Haushalte nehmen in Walenstadt am Strommarkt teil, 28 besitzen eine Solarstromanlage. Alle Anlagen zusammen verfügen über eine Leistung von 290 kW und liefern jährlich rund 300 000 kWh Strom. Der Strombedarf der ganzen Community bewegt sich um 250 000 kWh. Nebst den Haushalten werden im Verlauf des Projekts noch acht Batterien mit einer Gesamtkapazität von 80 kWh und eine Tesla-Schnellladestation in Maienfeld als flexible Kapazitäten in den lokalen Strommarkt integriert. Für alle Batterien werden die gleichen Präferenzen definiert, bei welchem Preisniveau sie Strom speichern beziehungsweise wieder abgeben. Auch die Ladestation für Elektrofahrzeuge wird nach einem festgelegten Preismuster eingebunden.

Automatischer Handel gemäss individuellen Präferenzen

Abgewickelt wird der Handel über eine Blockchain. Hierzu wurden in allen Haushalten Mini-Computer mit integriertem Stromzähler eingebaut, die mit einem Blockchain-Knoten ausgerüstet sind. Alle Knoten kommunizieren miteinander und wissen voneinander, wie viel Energie produziert und nachgefragt wird. Gemäss den Preisangaben der Nutzerinnen und Nutzer platzieren die Blockchain-Knoten ihre Gebote auf dem Markt – wie viel Strom sie zu welchem Preis anbieten respektive kaufen wollen.

Welche Partei in diesem Handel wie viel Strom zu welchem Preis ersteht beziehungsweise verkaufen kann, wird basierend auf einem Marktmodell ermittelt: Der Anbieter mit dem tiefsten Preis und der Konsument mit dem höchsten Gebot werden als Erste handelseinig. Der Preis entspricht dem Mittelwert der beiden Gebote. Hat der Höchstbietende damit seinen Strombedarf noch nicht gedeckt, wird die bleibende Strommenge vom Produzenten mit dem zweitgünstigsten Verkaufsangebot bezogen.

So werden der Reihe nach alle Angebote und Nachfragen zusammengebracht. Ein Beispiel: Liegt das höchste Kaufgebot bei 22 und der tiefste Verkaufspreis bei 6 Rp., wird der Strom als Erstes zwischen diesen beiden Teilnehmern gehandelt. Auf den gebotenen Verkaufspreis wird das Netzentgelt von knapp 6 Rp. hinzugerechnet. Der Strompreis für den Konsumenten berechnet sich aus dem Mittelwert zwischen Kaufgebot und Verkaufsgebot plus Netzentgelt, also bei 17 Rp. Davon erhält der Prosument 11 und das WEW 6 Rp. Mit diesem Verfahren werden Konsumenten und Produzenten belohnt, die ihre Angebote so gestalten, dass möglichst viel Strom lokal gehandelt wird.

Halb-öffentliche Blockchain

Nach diesem Modell berechnen alle Blockchain-Knoten, wer wem wie viel Strom zu welchem Preis verkauft. Kommen zwei Drittel der Knoten zum gleichen Preis- und Verteilschlüssel, werden die Stromverkäufe freigegeben. «Dieser Konsens-Prozess erfolgt viertelstündlich», erklärt Sandro Schopfer vom Bits to Energy Lab der ETH Zürich, der das Gesamtprojekt leitet.

Zum Konsensprozess sind nur die Produzenten des lokalen Strommarkts zugelassen. Somit handelt es sich um eine Konsortiums-Blockchain. Bei einer öffentlichen Blockchain, die zum Beispiel bei der Kryptowährung Bitcoin eingesetzt wird, kann jede Person am Konsensprozess teilnehmen und die Transaktionen einsehen. Eine Konsortiums-Blockchain ist gegenüber einer öffentlichen schneller und bietet einen höheren Datenschutz. Zudem braucht sie weniger Energie. «Die Energieeffizienz ist uns ein grosses Anliegen», erklärt Schopfer. Die grössten und bekanntesten Blockchains benötigen für eine einzige Transaktion zirka 50 (Ethereum) bis 250 kWh (Bitcoin) Strom. Die Technologie entwickelt sich aber rasant weiter: Neue öffentliche Blockchain-Netzwerke mit sehr geringem Stromverbrauch und vergleichbarer Sicherheit stehen am Start, und auch Ethereum stellt seine Blockchain auf effizientere Validierungsprozesse um.

Von diesen Fortschritten möchten die Projektbeteiligten profitieren: «Unsere Blockchain, die vom Bosch-IoT-Lab an der HSG entwickelt wird, ist speziell auf den Energiehandel unter Nachbarn abgestimmt und lässt sich später für gewisse Transaktionen auch an eine energieeffiziente öffentliche Blockchain anschliessen», erklärt Schopfer. «Wir haben bewusst diesen hybriden Ansatz gewählt, weil über eine öffentliche Blockchain auch ganz neue Geschäftsmodelle möglich werden.»

Mit der Validierung der Preise und Käufe in der Blockchain wird die Strom­abrechnung automatisiert. Es ist zu erwarten, dass dieser Prozess deutlich günstiger ist als eine zentrale Kostenabrechnung über das EW. Kostenlos ist aber auch die Blockchain nicht. Jeder Validierungsschritt bringt Energie- und Infrastrukturkosten mit sich. Hinzu kommen Anreize für die Validierungsstellen. «Wir gehen im Projekt aber davon aus, dass diese Kosten vernachlässigbar sind», so Schopfer. Vorerst wird deshalb für den Betrieb der Blockchain nichts auf den Preis aufgerechnet. Die Erfahrungen aus dem Pilotprojekt sollen zeigen, wie hoch dieser Preis angesetzt werden müsste.

Erste Betriebserfahrungen

Im ersten Monat wurde noch nicht viel Strom tatsächlich gehandelt. «Anfang Januar hatten wir eine sehr tiefe Stromproduktion, weil sich die Sonne wenig zeigte oder Schnee die Solaranlagen bedeckte», erzählt Christian Dürr. Den wenigen Strom, der produziert wurde, haben die Prosumenten meist im eigenen Haushalt verbraucht. Erst wenn Überschüsse produziert werden, kommt es zum Handel über die Blockchain. Im sonnenreichen Februar zog der Handel deshalb deutlich an: Die Quartierstrom-Gemeinschaft produzierte rund 19 000 kWh Solarstrom. 43% davon flossen im klassischen Eigenverbrauch direkt in die Haushalte der Prosumenten, 31% oder rund 5800 kWh wurden in der Nachbarschaft verkauft. Insgesamt wurden also 74% der Produktion vor Ort verbraucht. Zu 30% deckte das Quartier seinen Energiebedarf selbst.

Die Teilnehmenden beteiligten sich bisher aktiv am Geschehen und loggten sich überraschend häufig in das Portal ein, um ihre Preislimits anzupassen oder ihre Handelsdaten abzurufen. Einige fragten ihre Daten sogar mehrmals täglich ab. Nur wenige haben sich nach der erstmaligen Anmeldung nicht mehr um das Geschehen im lokalen Strommarkt gekümmert.

Gespannt sind nun alle Projektpartner, wie sich Eigenverbrauch und Autarkie in den sonnenreichen Monaten entwickeln werden und ob sich das Interesse der Beteiligten auf dem hohen Niveau halten wird. «Ich rechne damit, dass sich der lokale Markt in 30 bis 40 Prozent der Zeit autark mit Strom versorgt und dass rund 30 Prozent als überschüssiger Solarstrom an uns verkauft werden», so Dürr. Dass er mit dem Projekt quasi am eigenen Stuhlbein säge, glaubt er nicht. «Der Stromhandel bringt uns schon heute kaum mehr Wertschöpfung.» In Zukunft sieht er die Elektrizitätsversorger vermehrt als Infrastrukturanbieter und Dienstleister im Bereich Energiemanagement. Ob und wie sich auch mit Modellen wie Quartierstrom Geld verdienen lässt, soll das Pilotprojekt zeigen. In einem Projektteil werden entsprechende Business-Modelle entwickelt. Denn nur, wenn auch die Wirtschaftlichkeit stimmt, haben solche dezentralen Energieversorgungsmärkte in Zukunft eine Chance.

Web-Portal als User Interface

Die Teilnahme am Markt geschieht über eine Online-Portal, das ohne vorheriges Herunterladen bequem im Browser genutzt werden kann. Das Portal hat zwei Hauptfunktionen: Zum einen erhalten Haushalte in Echtzeit detaillierte Einblicke in ihre Stromdaten (Verbrauch, Produktion und finanzielle Aspekte davon). Das System bietet auch Vergleiche mit der Gemeinschaft, um die Daten besser beurteilen zu können. Zum anderen können die Nutzer Preislimits festsetzen, zu denen sie lokalen Strom höchstens beziehen beziehungsweise mindestens verkaufen wollen. Quartierstrom schreibt somit keinen Preis für lokalen Strom vor. Die Nutzer stellen ihr Preislimit in einem Regler im Übersichtsportal ein. Selbstverständlich können sie dieses jederzeit ändern, um den Ein- und Verkauf von lokalem Strom zu optimieren.

Dynamische Netznutzungsgebühren

Speisen mehrere Solarstromanlagen gleichzeitig Strom ins Netz, können im Verteilnetz unerwünschte Lastspitzen entstehen. Im Quartierstrom-Netz werden solche Spitzen durch Zuschalten von flexiblen Lasten wie Elektroboilern oder durch die Speicherung der Energie in dezentralen Batterien abgeschwächt. Um die intelligente Einbindung solcher Regelkapazitäten sowie Stromspeicher attraktiver zu machen, wird eine Lösung entwickelt, mit der die Netzentgelte dynamisch gestaltet werden könnten. Unterhalb der Trafostation der Pilotregion und bei der Tesla-Schnellladestation wurde je eine sogenannte Smart Box installiert. Die Smart Box und die Smart Meter überwachen das Verteilnetz hochauflösend und erkennen kurzfristige Spannungsabweichungen, zum Beispiel infolge einer hohen Solarstrom­einspeisung. Liegt die Spannung über dem definierten Band, ist ein Überangebot an Energie vorhanden und das Netzentgelt könnte kurzzeitig gesenkt werden, um die Einspeisung in Batterien und die Zuschaltung von flexiblen Lasten attraktiver zu machen. Liegt die Spannung unter dem Soll-Band, würde die Netznutzungsgebühr steigen. Dieses Modell soll im Pilotprojekt in Walenstadt ab Frühling erprobt werden. Ziel ist herauszufinden, ob damit ein netzdienliches Verhalten von Batterien und anderen flexiblen Lasten gefördert werden könnte, was insbesondere in schwach ausgebauten Verteilnetzen mit hoher Solarstromproduktion eine Entlastung bringen würde.

Autorin
Irene Bättig

ist Wissenschaftsjournalistin bei der Sprachwerk GmbH und Medienverantwortliche des Projekts Quartierstrom.

  • Sprachwerk GmbH, 8005 Zürich

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