Fachartikel Erneuerbare Energien , Konventionelle Kraftwerke , Sicherheit

Optimierter Schutz und Betrieb der Infrastruktur

Wetterradardaten besser nutzen

25.01.2022

Starke Gewitter können erhebliche Auswirkungen auf die alpine und städtische Infrastruktur sowie auf den Betrieb von Wasserkraft­werken haben. Es ist jedoch sehr anspruchsvoll, Niederschlags­intensitäten von Gewittern so früh wie möglich mit einer hohen räumlichen und zeitlichen Genauigkeit vorherzusagen. Das Projekt Radar4Infra widmet sich dieser Aufgabe.

Starke Gewitter treten in der Schweiz immer öfter auf. Zahlreiche Ereignisse führten in den vergangenen Jahren zu grossen Schäden. Im Val d’Anniviers wurden die Wasserkraftwerke Mottec und Vissoie ausser Betrieb gesetzt. In Lausanne wurde der Hauptbahnhof und das Stadtzentrum überschwemmt. Im Val-de-Ruz und in Chamoson waren Tote zu beklagen. Und im Juni 2021 hat ein aussergewöhnlich starkes Gewitter das Dorf Cressier im Kanton Neuenburg heimgesucht (Einstiegsbild).

Heftige Gewitter wurden zwar schon immer beobachtet, aber in den letzten Jahren hat der Klimawandel zu einer Zunahme der Gewitter geführt. Dieser Eindruck wird durch zahlreiche Daten bestätigt, die eine Zunahme der starken Intensitäten in den Alpen oder Cevennen um bis zu 20% belegen.[2] Darüber hinaus führen die räumliche Entwicklung und die Ausdehnung von Siedlungs­gebieten nicht nur zu einer gefährlichen Versiegelung der Oberfläche, sondern auch zu einer Konzentration von Gütern in der Nähe von Flüssen oder in Ballungs­räumen. So steigt das Risiko, das von solchen Ereignissen ausgeht, von Jahr zu Jahr.

Leider sind solche Ereignisse nur schwer vorhersehbar. Im grossen Massstab wird die Entwicklung von konvektiven Zellen durch Instabilitäten in der Atmosphäre und die Konvergenz von Winden in den atmosphärischen Grenz­schichten beeinflusst. Im kleinen Massstab geschieht dies jedoch fast zufällig. In einigen Minuten entwickelt sich dieses Phänomen, verschiebt sich, um sich dann in starke lokale Niederschläge zu transformieren. Die numerischen Modelle der Wetter­vorhersagen – obwohl mit einer hohen Auflösung von 1 km ausgestattet – schaffen es nur selten, die Bildung von konvektiven Gewittern im richtigen Moment und am richtigen Ort vorauszusagen. Deshalb können Niederschlags­messungen mit Radar von grossem Nutzen sein.

Das Projekt Radar4Infra, unterstützt durch Innosuisse, hat zum Ziel, alle Komponenten der Vorhersage-Prozesskette zu verbessern, um genauere Warnungen für Hochwasser­risiken in Städten oder entlang betroffener Gewässer bereitzustellen. Betreiber von Wasserkraft­werken ihrerseits möchten in der Lage sein, mögliche Ausfälle von Wasserzuflüssen besser vorherzusehen. Dies würde ihnen erlauben, die kurzfristige Stromproduktion für den Intraday-Handel oder die Regulierung besser zu planen.

Verbesserung der Abschätzung der Niederschlags­intensitäten

Es gibt zahlreiche Herausforderungen. Zunächst geht es darum, die Schätzung der vom Radar beobachteten Regenintensität zu verbessern. Konkret muss die Interpretation des bekannten Parameters Z (Reflexion des Radarsignals), erlauben, die Tropfengrösse des Regens wie auch die Typen der Schneekristalle oder das Vorhandensein von Hagelkörnern in den Wolken zu unterscheiden. Diese Interpretation führt zu den Werten der Niederschlags­intensitäten, was der ausschlaggebende Faktor für die Abfluss­bestimmung in den Gewässern ist. Machine-Learning-Techniken wurden entwickelt, um die Unsicherheiten bei den deterministischen Modellierungen des Signals zu reduzieren. Schliesslich muss dieser Schritt alle fünf Minuten durchgeführt werden, um der raschen Entwicklung dieser Phänomene gerecht werden zu können. Das aktuelle System, basierend auf Combi­Precip [3] und Rain­Forest [4], soll dank dem Projekt verbessert werden.

Gewitter besser vorhersagen

Die Bestimmung des aktuellen Niederschlags in einem Gebiet reicht jedoch bei Weitem nicht aus. Um von einer Antizipations­fähigkeit zu profitieren, die es ermöglicht, sich vor einem durch Gewitter verursachten Hochwasser zu schützen, muss es gelingen, die Entwicklung des Gewitters zu erahnen, insbesondere seine Verstärkung oder Abnahme sowie seine Verlagerung. Im Idealfall würde die Vorhersage dieser Entwicklung einige Stunden im Voraus erfolgen, um einen wirksamen Schutz zu ermöglichen. Die Entwicklung von Gewittern ist jedoch ein chaotisches Phänomen, was eine grosse Unsicherheit mit sich bringt.

Die Techniken, um diese Vorhersagen umzusetzen, basieren auf einer Kombination aus den vorher beschriebenen Radarsignalen, der Integration der Daten der Wetterprognose­modelle (u. a. Windfelder) und der Erstellung von mehreren möglichen Entwicklungs­szenarien, sogenannten «Ensembles». Die Vorhersage wird berechnet, indem ein typischer Anfangszustand basierend auf Wind­geschwindigkeiten auf Wolkenhöhe verschoben wird. Eine laufende Verbindung mit dem Wetterprognose­modell erlaubt es, eine gute Vorhersage für die nächsten fünf Minuten bis sechs Stunden zu erzeugen, bevor andere Modelle weitere Ergebnisse für längere Zeithorizonte liefern (Bild 1a). Das System Now­Precip [5] ist mit dem System Inca (Integrated Nowcasting through Comprehensive Analysis system) kombiniert und wird seit einigen Jahren bei MeteoSchweiz eingesetzt. Seine Leistungsfähigkeit muss jedoch weiter verbessert werden, weil die Detektionsrate von Starkintensitäten 60 Minuten im Voraus aktuell nur bei 30% liegt. Das bedeutet, dass viele Gewitter schlecht vorhergesagt werden: Sei es, dass ihr Ort schlecht prognostiziert wird, sei es, dass sie durch das Modell gar nicht erfasst werden. Dank den Ensembles sollten diese Detektionsraten verbessert werden und eine verlässlichere Vorhersage erlauben.

Lokale Abfluss­vorhersage für verlässliche Warnungen

Die Berechnung der Fliesswege in den Städten und den Gewässern soll die Umwandlung von zukünftigen Niederschlägen in lokale Informationen zu den Abflüssen erlauben. Diese Arbeit ist nicht einfach, da die Abflussbildung von zahlreichen Parametern wie der Bodenfeuchte, dem Blätterdach in den obersten Bereichen von Wäldern oder von der Durchlässigkeit und Morphologie der Böden abhängt. Diese Parameter sind räumlich sehr heterogen und ihre lückenhafte Kenntnis führt zu Unsicherheiten, speziell in Berggebieten. Die Niederschlag-Abfluss-Modellierungen werden daher durch Wasserstand- oder Abfluss­messungen in den Kanalisations­leitungen oder den Gewässern verbessert.[6, 7]

Die vom Projekt Radar4Infra aufgeworfene Problematik besteht darin, zufrieden­stellende Modellierungen für einen kleinen räumlichen Massstab (einige km2) mit kleinen Einzugs­gebieten mit einer Reaktionszeit von einigen Minuten zu ermöglichen. In diesem Kontext haben Modell­ungenauigkeiten wie die zeitliche Verschiebung der Flutwelle erhebliche Auswirkungen auf die Zuverlässigkeit der Vorhersage, speziell auf die prognostizierte Hochwasser­spitze (Bild 1b). Modellanpassungen mit Aufbereitung von Abflussdaten oder durch Nach­prozessierungen von Oberflächen­abflüssen werden berücksichtigt. Weiter werden mit Machine Learning Alternativen zum Niederschlag-Abfluss-Modell entwickelt, um Unsicherheiten weiter zu reduzieren.

Schliesslich muss der Algorithmus zur automatischen Ausgabe von Alarmen weiterentwickelt werden. Dabei geht es nicht nur darum, ein Signal auszulösen, wenn ein prognostizierter Schwellenwert überschritten wird, sondern auch darum, die Unsicherheiten der Prognosen zu berücksichtigen. Die retrospektive Analyse der Ensembles soll somit die Regeln für die Auslösung von Alarmen bestimmen, damit Detektionsraten maximiert und Fehlalarme minimiert werden können.

Erste Ergebnisse

Die ersten Resultate des Projekts Radar4Infra erlauben es, die Zuverlässigkeit der Prognosen in Funktion des Ausgangs­zustands zu definieren. So können beispielsweise Vorhersage-Berechnungen auf der Basis von existierenden Inca-Vorhersagedaten durchgeführt werden. Dieser Arbeits­schritt der «Re-Analyse» wird im Englischen «hindcast» genannt.

Die Prozesskette funktioniert wie folgt: Die Inca-Niederschlags­prognosen werden alle fünf Minuten aktualisiert und für Warnungen bis 90 Minuten im Voraus genutzt. Mehrere Niederschlag­sintensitäts-Alarmwerte werden definiert, auch für Abflüsse oder andere Parameter. Alarmwert-Überschreitungen zwischen 0 und 90 Minuten werden mit Messwerten verglichen und bezüglich ihrer Detektionsrate (Hit Rate HIT) und ihrer Fehlalarmrate (False Alarm Ratio FAR) beurteilt.

Die ersten Ergebnisse beziehen sich auf Niederschlags­intensitäten mit kumulierten Werten von über 8,33 mm in 1 h. Über 36 Monate und für 153 Niederschlags-Messstationen liegt der HIT für 90 Minuten im Mittel im Bereich von 40%, während der FAR bei 30% liegt. Dieser HIT ist noch relativ schwach und muss verbessert werden.

Die zweiten Ergebnisse beziehen sich auf Abfluss­prognosen des Baches Flon in Lausanne, genau an der Stelle, wo am 12. Juni 2018 Hochwasserschäden aufgetreten sind. Für diesen Fall ist die Performance der hydro-meteorologischen Prozesskette ähnlich derjenigen der Niederschläge. Für Ereignisse mit Abflüssen von ca. 30 m3/s liegt der HIT-Wert bei ca. 45%, bei einem FAR-Wert von rund 40%. Für grössere Abflüsse kann der FAR-Wert bis zu 100% ansteigen. Das Verbesserungspotenzial ist also noch gross.

Eine wissenschaftliche und technische Herausforderung

Aufgrund der Klima­veränderung, der Versiegelung der Böden und der Konzentration der Sachwerte werden die Auswirkungen von starken Gewitter­ereignissen Jahr für Jahr schlimmer. Die Verbesserung der Gewitter­vorhersagen ist daher enorm wichtig. Diese Arbeit stellt aufgrund der chaotischen Natur der Gewitter­bildung, der fehlenden Daten in den unteren Atmosphären­bereichen und der Vielfalt der natürlichen Prozesse eine grosse wissenschaftliche und technische Herausforderung dar.

Auch wenn die heutigen Werkzeuge ein guter Ausgangspunkt sind, so sind sie noch deutlich zu verbessern. Die Verbesserung der Prognose­methoden bedingt eine Erhöhung der Rechenleistung, einerseits durch die Vervielfachung der probabilistischen Szenarien der Ensembles, andererseits durch eine Kombination mit Simulations­methoden des Maschinellen Lernens. Schliesslich ist auch der Ausbau der Messnetze und der langfristigen Daten­grundlagen ein wichtiger Erfolgsfaktor für diesen Prozess.

Die Verbesserung dieser Informationssysteme erlaubt es Behörden und Privaten, auf immer häufiger auftretende Gefahrenereignisse besser vorbereitet zu sein und gezielter zu reagieren.

Referenzen

[1] arcinfo.ch/articles/regions/inondations-a-cressier-le-jour-d-apres-1084919.
[2] A. Ribes, S. Thao, R. Vautard, B. Dubuisson, S. Somot, J. Colin, S. Planton, J.-M. Soubeyroux, «Observed increase in extreme daily rainfall in the French Mediterranean», Climate Dynamics 52, S. 1095–1114, 2019.
[3] I. V. Sideris, M. Gabella, R. Erdin, U. Germann, «Real-time radar–rain-gauge merging using spatio-temporal co-kriging with external drift in the alpine terrain of Switzerland», Quart. J. Roy. Meteor. Soc. 140, S. 1097–1111, 2014.
[4] D. Wolfensberger, M. Gabella, M. Boscacci, U. Germann, A. Berne, «RainForest: a random forest algorithm for quantitative precipitation estimation over Switzerland», Atmos. Meas. Tech. 14, S. 3169–3193, 2021.
[5] I. V. Sideris, L. Foresti, D. Nerini, U. Germann, «Now­Precip: localized precipitation nowcasting in the complex terrain of Switzerland», Quart. J. Roy. Meteor. Soc. 146, S. 1768–1800, 2020.
[6] F. Jordan, «Modèle de prévision et de gestion des crues – Optimisation des opérations des aménagements hydroélectriques à accumulation pour la réduc­tion des débits de crue», PhD thesis n° 3711, École polytechnique fédérale de Lausanne, Suisse, 2007.
[7] F. Jordan, J.-L. Boillat, R. Martinerie, «Modélisation du réseau d’assainissement de la ville de Lausanne – Outil de diagnostic et de planification», Gas-­Wasser-Abwasser GWA, 3/2010.

Hinweis

Innovationsprojekt InnoSuisse 48218.1 IP-EE, das Projekt Radar4Infra wird durch Hydrique Ingénieurs, MeteoSchweiz, EPFL und das Bundesinstitut WSL durchgeführt, mit Unterstützung der folgenden Projektpartner: Kanton Wallis, Alpiq AG, Stadt Lausanne und Stadt Basel.

Über Innosuisse

Innosuisse, die Schweizerische Agentur für Innovationsförderung, ermöglicht Unternehmen und Forschenden die Zusammenarbeit bei der Entwicklung innovativer Produkte, Dienstleistungen oder Prozesse. Unternehmen erhalten Zugang zu wissenschaftlichem Know-how, während Forschende von betriebswirtschaftlicher Expertise und der Kundenperspektive profitieren. Innosuisse unterstützt jährlich mehr als 400 Innovationsprojekte, insbesondere in den Bereichen Energie, Umwelt, Mobilität und Nachhaltigkeit.

Weitere Informationen: www.innosuisse.ch

Autor
Frédéric Jordan

ist Mitgründer und Direktor von Hydrique Ingénieurs.

  • Hydrique Ingénieurs
    1052 Le Mont-sur-Lausanne
Autor
Urs Germann

leitet die Division Radar, Satelliten und Nowcasting beim Bundesamt für Meteorologie und Klima­tologie ­MeteoSchweiz.

  • Bundesamt für Meteorologie und Klimatologie ­MeteoSchweiz
    6605 Locarno-Monti

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