Fachartikel Infrastruktur , Konvergenz

Ökosystem-Ansatz für flexiblere Energiesysteme

Innovation durch Kollaboration

25.04.2025

Die Dekarbonisierung des schweizerischen Energie­systems kann durch Kopplung von erneuer­barer Energie­produktion und -nachfrage gefördert werden. Am Beispiel des Nano­verbunds, dem Gewinner des Watt d’Or 2025 «Gebäude und Raum», wird dargelegt, wie mittels dem Ökosystem-Ansatz mehr Flexibilität im Energie­system geschaffen werden kann.

In der Schweiz steigt der Anteil der Wärme­bereit­stellung aus erneuerbaren Energien. Elektrisch betriebene Wärme­pumpen nehmen bei neuen Heizungen stetig zu – 2023 waren es 9,6%. Dennoch dominieren in Wohnhäusern weiterhin fossile Heizsysteme. Deren Ersatz ist teuer und deshalb nicht prioritär, zumindest solange die Heizung noch funktioniert. Fällt sie aus, ist guter Rat oft teuer. Häufig werden wieder fossile Heizsysteme installiert, weil die Zeit für eine Ersatzplanung fehlt. Ein wichtiger Stolperstein für die Dekarbonisierung der Haushalte.

Das Pilotprojekt Nanoverbund der Industriellen Werke Basel (IWB) setzt hier an und ermöglicht kleine, schnell umsetzbare Schritte. Durch die gemeinsame Nutzung von bestehenden Heizgeräten sollen Energie gespart und Sanie­rungs­kosten reduziert werden. Der Ansatz stammt aus der Strombranche, wo sich Nachbarn Solarstrom und Batterien teilen, indem sie einen Zusammen­schluss zum Eigen­verbrauch (ZEV) bilden. Statt Strom kann hier aber Wärme mit den Nachbarn geteilt werden. Das Teilen kann auf zwei Arten erfolgen: Zum einen durch die gemeinsame Anschaffung und gleich­berechtigte Nutzung des Heizgerätes durch mehrere Parteien. Zum anderen durch die alleinige Anschaffung durch einen Haushalt, der im Gegenzug die Wärme an die Nachbarn verkaufen kann. In beiden Fällen können die Investitions­kosten der einzelnen Parteien entsprechend schneller amortisiert werden.

Sektorenkopplung basiert auf Modularität

Bei der Sektoren­kopplung geht es um die Verbindung von Energie­erzeu­gungs- und -nachfrage­sektoren. Die Kopplung kann in den Energie­erzeu­gungs­sektoren erfolgen, z.B. zwischen Strom aus PV-Anlagen und Wärme aus Wärmepumpen (Haushalts­sektor). Zwischen den Sektoren ist die Fernwärme ein Beispiel, bei der Abwärme aus der Industrie für die Beheizung privater Wohngebäude genutzt wird. Mit der Sektoren­kopplung wird die Flexibilität von Energie­systemen erhöht, denn sie führt zu einer effektiveren und effizienteren Energienutzung.

Um die Sektoren­kopplung besser nutzen zu können, werden Energie­systeme modular betrachtet. Ein Modul ist eine unabhängige, austauschbare Komponente, die mit anderen Modulen interagiert und einen Beitrag zum Gesamt­system leistet. Die Energie­erzeugung (Kraftwerk) ist ein Modul, die Beleuchtung im Haushalt ein weiteres. Die Stromleitung zwischen Erzeuger und Verbraucher stellt ein weiteres Modul dar. Wie diese einfache Skizze im nationalen Kontext, so verhält sich dies auch im lokalen Kontext: Die Heizung eines Wohnhauses ist ein System, das aus diversen Modulen besteht, wie der Wärmequelle (Heizgerät), der Wärmeabgabe (oft Radiatoren) und dem Wärmeträger (Wasser).

Nicht die Technologie, sondern der modulare Ansatz ist das Neue am Nanoverbund. Die Aufteilung von Wärmequellen im Grossen wie im Kleinen ist bereits heute Realität: Fern­wärme­systeme haben eine oder mehrere Wärmequellen, die meist nicht im Besitz des Endkunden sind. In Kleinst­verbunden oder Über­bau­ungen versorgt ein privater Heizkessel die Nachbarn mit Wärme. Der Vorteil des Nano­verbunds liegt in der Idee des Ökosystems, in dem die Flexibilität der Energie­nutzung durch modulare Wertbeiträge erweitert wird.

Von Modulen zum Ökosystem

In einem Ökosystem schliessen sich mehrere unab­hängige Mitglieder zusammen, um dem Endkunden ein Wertversprechen zu bieten, das ein Unternehmen alleine nicht erbringen kann. Die Mitglieder eines Ökosystems sind die Endkunden, der Orchestrator (Bereitsteller des Basismoduls, Koordinator des Ökosystems) und die Kom­ple­men­toren (Anbieter zusätzlicher Wertbeiträge). Durch die Modularität können Endkunden neben dem Basismodul zusätzliche Wertbeiträge integrieren bzw. nutzen. Diese werden von Kom­ple­men­toren angeboten. Zur Veranschau­lichung dient das Beispiel des Smartphones: Auf dem Telefon (Basismodul) kann jeder Nutzer selbst Apps von weiteren Anbietern installieren und die damit verbundenen Wert­ver­sprechen nutzen: zum Beispiel den Fahrplan abrufen, Nachrichten lesen oder den Kaffee bezahlen.

Beim Nanoverbund teilen sich mehrere Haushalte ihre Heizsysteme und schliessen sich zu einem Wärmeverbund zusammen. Dazu wird in jedem Haushalt eine Wandstation installiert, die die Wärme­einspeisung und -entnahme misst. Da die Heizgeräte der Endkunden mehr Kapazität haben, als ein einzelner Haushalt an den meisten Tagen benötigt, kann die Wärme eines Heizgeräts an die anderen Haushalte übertragen werden. So kann ein einzelnes Heizgerät andere Geräte im Wärmenetz entlasten oder sogar ersetzen.

Im Piloten des Nanoverbunds werden die Heizgeräte – eine Erdsonde-Wärmepumpe und zwei Gasheizungen – von drei Endverbrauchern über eine Warm­wasser­leitung gekoppelt. Die Wärme­einspeisung und -entnahme wird über den Rücklauf des Heizgerätes gemessen. So kann ein Heizgerät als Modul im Nanoverbund auch von anderen Gebäuden genutzt werden. Von welchem Heizgerät, dem eigenen oder dem des Nachbarn, der Endverbraucher die Wärme beziehen möchte, kann gesteuert werden. Die Steuerung kann frei konfiguriert werden, sodass die ökologischste oder die preisgünstigste Wärme genutzt wird. Im Idealfall, je nach Strom- und Gaspreis, schliessen sich diese Präferenzen nicht gegenseitig aus.

Durch die Verbindung verschiedener Heizsysteme über mehrere Wohnhäuser können weitere Energie­kompo­nenten (Module) integriert werden. So wurden im Piloten zwei Solarthermie-Anlagen integriert, die zuvor nur Warmwasser aufbereiteten. Die überschüssige Energie aus diesen Anlagen wird im Sommer zur Regeneration der Erdsonde genutzt – eine weitere Synergie. Denkbar ist auch die Integration von PV-Anlagen, mit denen Wärmepumpen betrieben werden können. Bei Überlastung des Stromnetzes kann mit dem Solarstrom die Wärmepumpe betrieben werden, statt ihn ins Netz einzuspeisen.

Für eine erfolgreiche Integration und Nutzung der diversen Energie­kompo­nenten ist eine Kooperation zwischen den Haushalten und unter Umständen den Netz­betreibern nötig. Der Nanoverbund ist als Prinzipskizze in Bild 1 dargestellt.

Erfolgsfaktoren

Koordination und Kooperation sind das Herzstück von Ökosystemen. Die einzelnen Mitglieder des Ökosystems müssen sich aufeinander abstimmen, damit ihre individuellen Wertbeiträge (Module) zusammen­wirken können. Um einen ständigen Austausch aller Beteiligten zu vermeiden, der zu hohen Transaktions­kosten führen würde, übernimmt diese Koordi­nation meist ein sogenannter Orchestrator, also das Mitglied mit dem Basismodul.

Der Orchestrator besetzt im Idealfall die Kunden­schnitt­stelle. Beim Nanoverbund ist dies der Versorger IWB selbst: IWB gewann die Kunden für den Piloten, erarbeitete das Vertragsmodell und garantierte Sicherheiten für die Kunden. Besonders für die Garantie kam der IWB die historische Rolle des Energie­dienst­leisters zugute, denn ihr werden Kompetenz und Zuverlässigkeit im Bereich Wärme zugeschrieben.

Früher liessen die Kunden bei Abwesenheit den Hausschlüssel im Milchkasten, damit der Energie­dienst­leister den Heizzähler ablesen konnte. Dieses bewährte Vertrauen ist essenziell für den Testbetrieb eines Piloten, denn es stärkt die Wahrnehmung der Kunden, dass die Rechnungs­aufteilung gerecht ausgeführt wurde. Dies heisst nicht, dass alle künftigen Nano­verbünde von der IWB direkt vertrieben werden müssen. Nach einem Pilot werden Innovations­projekte für die Skalierung standardisiert. Dann können auch andere Energie­dienst­leister den Endkunden oder Heizungsbauer das Ökosystem als Lösung anbieten.

Um den Ökosystemnutzen zu erzielen, nutzt der Orchestrator die Expertise der Kom­ple­men­toren. Zwar könnte sich der Orchestrator das entsprechende Wissen auch selbst aneignen, aber dies wäre kosten- und zeitintensiv. Stattdessen nutzt ein Orchestrator bestehendes Wissen anderer Unter­nehmen wie Inge­nieur­büros, Heizungs­bauer, Software­firmen usw., um die ergänzenden Kompo­nenten effizient bereitzustellen.

Diese Kom­ple­men­toren tragen mit ihren Beiträgen (Modulen) zum Wert­ver­sprechen bei, auch wenn sie nicht immer gegenüber den Endkunden in Erscheinung treten. Die Endkunden selbst sind durch den Wandel zum Prosumer ebenfalls Kom­ple­men­toren, denn sie erweitern mit ihren Heizgeräten das Wert­ver­sprechen, indem sie die Möglichkeit bieten, zwischen mehr oder weniger ökologischen Heizquellen zu wählen. Durch die Nutzung der Beiträge heterogener Kom­ple­men­toren entstehen Synergien, die ein einzelner Akteur selbst nicht erzielen kann. Die Organi­sations­form der Akteure ist in Bild 2 dargestellt.

Für eine erfolgreiche Zusammenarbeit in einem Ökosystem müssen sich die Mitglieder gegenseitig abstimmen. Zwar koordiniert der Orchestrator die Mitglieder, er kann jedoch nicht über die Kom­ple­men­toren bestimmen.

Die Abstimmung erfolgt auf drei Ebenen; kognitiv, ökonomisch und technisch. Die erste Ebene bezeichnet das Zielbild des Ökosystems, zu welchem Zweck sich die Mitglieder zusammen­schliessen. Dieses Zielbild muss nicht zwingend für alle Mitglieder identisch sein, aber jedes Mitglied muss für sich einen Sinn in der Kollaboration sehen. Alle sind sich jedoch bewusst, dass sie das Wert­ver­sprechen nicht allein oder zumindest weniger gut erbringen können.

Ein Nanoverbund kann für ein EVU finanziell attraktiver sein als der Ausbau des Fern­wärme­netzes in nicht erschlossenen Gebieten mit geringem Wärmeabsatz. Zudem muss ein effizienter, technisch abgestimmter Betrieb gewährleistet sein, damit die Komponenten wie Module ineinander­greifen und Synergien bilden. Zusätzliche Energie­kompo­nenten wie eine PV-Anlage oder Solarthermie müssen auch integrierbar sein, um einen Mehrwert zu erzielen. Die technische Integration der Komponenten wird durch Plattformen gewährleistet.

Plattformen bieten Optionen

Ökosysteme befassen sich mit organisatorischen Aufgaben. Die gegenseitige Koordination für die Zusammenarbeit wird von den Ökosystemen übernommen. Beispielsweise müssen Prosumer langfristig sicherstellen, dass sie die Wärme an ihre Nachbarn weiterverkaufen. Um den Koordi­nations­aufwand zwischen den Mitgliedern des Ökosystems sowie die technischen Einstellungen möglichst effizient zu gewährleisten, bieten sich Standardisierungen an. Solche Standards werden über Plattformen umgesetzt.

Eine Plattform bildet die technische Basis, auf der die Module miteinander funktionieren, und ist wesentlich für die Flexibilität des Energiesystems. Der Nanoverbund hat zwei Plattformen: eine physische und eine digitale. Erstere dient dem Anschluss aller Komponenten wie Heizgeräte, Radiatoren bzw. Verbindungs­rohre. Über das Warmwasser «kommunizieren» die Heizsysteme miteinander. Über die digitale Plattform wird die Heizung oder die auto­matisierte Abrechnung gesteuert. Sie wird auch zur Optimierung genutzt, wofür weitere Informationen wie Wetterdaten genutzt werden. Das Zusammen­spiel zwischen beiden Plattformen ist für die Integration verschiedener Module zentral.

Das Projekt SWEET-PATHFNDR untersucht, wie die Flexibilität durch Sektor­kopplung für das Schweizer Energiesystem erhöht werden kann. Im Rahmen des Projekts wird der Pilot-Nano-Verbund getestet. Laufende Studien weisen auf das Potenzial der Kopplung verschiedener Plattformen hin. So werden in einer Studie der Hochschule Luzern Wohnhäuser als Flexibilitäts­modul getestet. Wohnhäuser sind in der Wärme­aufnahme und -abgabe träge. Wärmeverbünde können deshalb genutzt werden, um Spitzenlasten zu brechen oder den Stromverbrauch bei Mangellagen zu reduzieren. Das Denken in Energie­kompo­nenten als Module, deren Kopplung über Plattformen und der organisa­torischen Integration über ein Ökosystem ist dabei wesentlich.

Ausblick

Die Aufteilung des Problems in Module zeigt neue Koope­rations­möglich­keiten und Potenziale zur Erhöhung der Flexibilität des Energie­systems auf. Es müssen nicht unbedingt neue Technologien entwickelt werden, sondern es ist die Nutzung bestehender Systeme in neuer Kombination, die neue Potenziale eröffnet. Dazu müssen die Module über Plattformen gekoppelt werden, um traditionelle Systemgrenzen zu überwinden. Ein erfolg­reiches Beispiel aus der Praxis ist der Nanoverbund. Die Technologie ist nicht neu und auch die Kooperationsform ist aus der Idee des ZEV entstanden. Letztlich zeigt sich, dass Innovation oft aus der Rekombination bestehender Lösungen entsteht.

Weitere Forschung ist nötig, um neue Lösungen zu identi­fizieren, Konzepte zu testen, zu verbessern und zu erweitern und ihren Nutzen in der Praxis nachzu­weisen. Die Sektor­kopplung kann zwar mit bestehenden Technologien erreicht werden, braucht jedoch Koordination und Kooperation für die Abstimmung zwischen den Mitgliedern des Energiesystems. So können weitere Potenziale erschlossen werden, um die Dekarboni­sierung des Schweizer Energiesystems bis 2050 zu realisieren.

Die theoretischen Überlegungen werden in diesem Artikel am Beispiel des Nanoverbunds der IWB illustriert. Weder der Autor noch die ETH Zürich geben eine Empfehlung oder Stellungnahme zum Produkt Nanoverbund und/oder der IWB ab. Die hier veröffentlichten Forschungsarbeiten wurden mit Unterstützung des Schweizerischen Bundesamtes für Energie im Rahmen des SWEET-Konsortiums PATHFNDR durchgeführt.
Autor
Dr. Lucas Miehé

ist Senior Researcher an der Group for Sustain­ability and Techno­logy der ETH Zürich.

  • ETH Zürich, 8092 Zürich

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