Fachartikel IT für EVU , Smart Grid

Neue Methode zur Quantifizierung der Versorgungssicherheit

Eris zeigt konkreten Handlungsbedarf bei Netzoptimierungen auf

04.01.2017

Der Betrieb eines schlanken, versorgungssicheren Netzes rückt bei Netzbetreibern zusehends in den Mittelpunkt. Die Bedeutung der quantitativen Beurteilung der Versorgungssicherheit im Betrieb wie auch in der Netzplanung steigt. Axpo hat deshalb die Qualitätskennzahl Eris – Evaluation of Reliability Index for electric Systems – entwickelt, die sich aus Lastfluss-, Struktur- und Zustandsparametern zusammensetzt. Sie berücksichtigt neben der Netztopologie und dem Zustand einzelner Betriebsmittel verschiedene Last- und Produktionssituationen. Dadurch fliessen alle netzrelevanten Parameter in die Bewertung mit ein. Mit Eris können zudem die Auswirkungen von Investitionen auf die Versorgungs-sicherheit bewertet werden.

Die Aufgabe eines Netzbetreibers ist es, ein zuverlässiges und gleichzeitig effizientes Netz zu betreiben. Diese beiden auf den ersten Blick eher gegensätzlichen Ziele müssen für einen optimalen Zustand gegeneinander abgewogen werden. Für das erste Ziel – die Zuverlässigkeit – werden häufig Kennzahlen wie Saidi (System Average Interruption Duration Index) oder Saifi (System Average Interruption Frequency Index) verwendet. Diese haben entscheidende Nachteile: Beide Zahlen nehmen keine Rücksicht auf die angeschlossene Verbraucherstruktur. Zudem geben die Kennzahlen keine Hinweise auf mögliche Versorgungsrisiken. Hängt ein ganzes Ballungszentrum für längere Zeit im Stich an einer einzigen Leitung, so wird sich dieses hohe Risiko nur in diesen Kennzahlen niederschlagen, wenn diese Leitung dann auch tatsächlich ausfällt.

In der Netzplanung sind Zuverlässigkeitsberechnungen ein anerkanntes Werkzeug für die Beurteilung von Netzen. Da für die Eingangsgrössen zur Bestimmung der Zuverlässigkeit meist grös­sere, statistisch belastbare Datenbestände Verwendung finden, widerspiegeln die Kennzahlen in der Regel nicht oder nur teilweise die Gegebenheiten des eigenen Netzes. Zudem werden Anlagenzustände in den Zuverlässigkeitsberechnungen nicht mitberücksichtigt. Auch rein topologische Kriterien in der Netzplanung von vermaschten Netzen wie die Anzahl von (n-1)-Verletzungen greifen meist zu kurz, da beispielsweise das Ausmass bei einem Ausfall eines weiteren Betriebsmittels in diese Kenngrösse nicht einfliesst. Schliesslich wird bei Netzbetreibern in der Regel die Erweiterungs- und die Erneuerungsplanung getrennt betrachtet. Der Handlungsbedarf für die Erneuerung von Betriebsmitteln bei einem (n-2)-sicheren Netz ist jedoch zweifellos niedriger als bei einem (n-1)- oder gar (n-0)-sicheren Netz. Die Systemsicht muss deshalb auch in der Erneuerungsplanung adäquat berücksichtigt werden.

Aufgrund dieser Gegebenheiten und in Folge der zunehmenden Komplexität und Dynamik in den Stromnetzen, wie etwa vermehrte Lastflusswechsel durch die Einspeisung von Strom aus neuen Energien, hat Axpo zur Beurteilung der Versorgungssicherheit die Netzqualitätskennzahl Eris (Evaluation of Reliability Index for electric Systems) entwickelt und zum Patent angemeldet.

Mit Eris besteht die Möglichkeit, Erweiterungs- und Erneuerungsinvestitionen direkt mit der Versorgungssicherheit zu verbinden. Der Einfluss der getätigten Massnahme lässt sich quantitativ mit der Qualitätskennzahl darstellen. Investitionen können so gezielt anhand des gewünschten Masses der Versorgungssicherheit sowie zeitgerecht geplant werden. Ausserdem eignet sich Eris zum Vergleich von Netzvarianten, zur Bewertung bzw. Optimierung der Zielnetzplanung sowie zur Beurteilung der zeitlichen Verschiebung von Investitionen hinsichtlich der Versorgungssicherheit.

Anforderungen bestimmen

Zunächst wurden die Anforderungen an eine Methodik zur Beurteilung einer zukünftigen Versorgungsqualitätskennzahl definiert. Dabei stand die möglichst breite Anwendbarkeit der Kennzahl im Fokus. Ausserdem sollte die Kennzahl nicht nur mit Blick auf die Zukunft für anstehende Investitionsentscheide, sondern auch rückblickend zur Messung der tatsächlichen Versorgungssicherheit einsetzbar sein. Eine weitere Anforderung betraf die hohe Flexibilität bei der Eingabe von Eingangsgrössen. Und schliesslich sollte die Kennzahl sowohl für Gesamtnetze wie auch für Teilnetze anwendbar, d.h. skalierbar, sein.

Definition der neuen Qualitätskennzahl

Eris setzt sich aus Informationen zur Netzbelastung, der Netztopologie und den Anlagenzuständen zusammen. Mit diesen drei Hauptparametern lassen sich elektrische Netze umfassend bewerten. Dies ist an sich nicht neu. Dennoch wurde bei der Entwicklung von Eris eine Vielzahl von Fragestellungen geprüft und analysiert. Schliesslich zeigte sich, dass die Verbindung der Antworten zu folgenden Fragen zum gewünschten Resultat und damit zu einer belastbaren Qualitätskennzahl führt:

  • Wie ist die Belastung des Netzes? Wie stellt sich die Spannungshaltung dar?
  • Wie ist das Netz vermascht? Welche Netzstruktur ist gegeben? Sind Redundanzen vorhanden?
  • Wie ist der Zustand der Netzelemente? Was hat es mit dem Alter der Netzelemente auf sich?

Zur Berechnung der Qualitätskennzahl Eris müssen zuerst die belastungsabhängigen Parameter «Lastfluss- und Ausfallrechnungen» ermittelt werden. Die daraus gewonnenen Knotenspannungen und Elementbelastungen werden mit «idealen» Werten verglichen. Der Festlegung dieser Ideal-Werte bzw. der dazugehörigen Systematik wurde grosse Beachtung geschenkt, was zum Teil detaillierte Studien erforderte. Die Ergebnisse der Berechnungen fliessen in das Eris-Modell ein.

Der zweite Teil beschäftigt sich mit der Netztopologie. Diese wird u.a. anhand des Vermaschungsgrads des Netzes und der Schaltanlagenlayouts (Anzahl Leitungsanschlüsse, Umschaltmöglichkeiten in den Anlagen: Doppel-Sammelschiene, Längs­trennung usw.) im Eris-Tool abgebildet.

Das dritte Berechnungselement, die Informationen zur Bestimmung der Zustandsparameter der Betriebsmittel, werden aus einer Zustandsdatenbank oder einer gleichwertigen Informationsquelle entnommen. Gegebenenfalls kann als Annäherung für die Ausfallwahrscheinlichkeit auch nur das Alter der Komponenten berücksichtigt werden.

Die Quantifizierung dieser drei Hauptgruppen und deren Abbildung in einer Kennzahl erfolgt anhand von 17 definierten Parametern, welche mittels eines Qualitätsmodells gewichtet, berechnet bzw. bewertet werden (Bild  1).

Der Versorgungssicherheit einen Wert geben

Mit Eris erhält die Versorgungssicherheit einen Wert: eine einheitslose Zahl zwischen 0 und 120 (Bild  2). Dabei entspricht 120 einem möglichst idealen Netz. Das Zielband kann entsprechend den gestellten Anforderungen eines Netzes festgelegt werden.

Beispielsweise kann durch einen Netzbetreiber ein Zielwert zwischen 80 und 100 für die angestrebte Versorgungsicherheit definiert werden. Bewegt sich das Netz im grünen Bereich (Bild 2), ist die Anforderung erfüllt. Wenn eine Netzvariante einen Wert grösser als 100 aufweist, ist die Versorgungssicherheit überdurchschnittlich (übererfüllt), umgekehrt besteht bei Eris-Werten unter 80 Handlungsbedarf.

Werte zwischen 50 und 60 stehen für Netze, bei denen bereits bei kleinen Ereignissen die Versorgungssicherheit nicht mehr gewährleistet ist. 

Der Nutzen von Eris

Eris ist ein ideales Instrument für die Netzplanung und -entwicklung. Die Versorgungssicherheit von Netzen kann damit systematisch ermittelt und gemessen werden. Dies erlaubt eine transparentere Planung und gezieltere Optimierungen, sodass sich die Versorgungssicherheit in einem bestimmten und definierten Rahmen bewegt. Beispielsweise lassen sich die Auswirkungen auf die Versorgungssicherheit bei Projektverschiebungen oder Anpassungen in der Netztopologie quantitativ darstellen.

Eris eignet sich daher bestens für die Beurteilung von möglichen Zielnetzvarianten. Der Vergleich von unterschiedlichen Netzstrukturen sowie Last- und Produktionsszenarien ist leicht umsetzbar. Gerade im Hinblick auf zukünftige Anforderungen zur Integration von Strom aus erneuerbaren Energien in Kombination mit der Lastentwicklung hilft eine Messgrösse zur Quantifizierung der Versorgungssicherheit, um die notwendigen Investitionen gezielt zu tätigen.

Ein Vergleich von unterschiedlichen Netzvarianten ist in Bild 3 ersichtlich. In diesem Beispiel werden drei Netzstrukturen bei einem definierten Lastszenario miteinander verglichen. Als sinnvolle Netzstruktur kommen nur die Netzstrukturen  1 und  2 in Frage. Netzstruktur  3 führt zu Überlastungen sowie Spannungsverletzungen und ist somit keine umsetzbare Option.

Die Verwendung von Eris beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Netzplanung. Die Qualitätskennzahl kann auch als Kriterium zur Ausserbetriebnahmeplanung von Netzelementen wie Leitungen oder Transformatoren eingesetzt werden. Beispielsweise kann vorgegeben werden, dass bei der Bewertung von Betriebssituationen ein bestimmter Eris-Wert nicht unterschritten werden darf. Die Systematik führt automatisch zu einem definierten Stand der Versorgungssicherheit. Zudem kann Eris dazu dienen, Netzbetriebssituationen aus der Vergangenheit zu analysieren und daraus die entsprechenden Lehren für die Zukunft zu ziehen.

Weitergehend besteht die Möglichkeit, den aktuellen Eris-Wert laufend im Netzleitsystem zu ermitteln und so den aktuellen Wert eines Netzes oder eines Teilnetzes zeitnah der Netzbetriebsführung zur Verfügung zu stellen. Die Information stellt einen Indikator dar, der frühzeitig auf eine ungenügende Versorgungssituation hinweist, um zeitgerecht notwendige Massnahmen einzuleiten. Durch Zielvorgaben und die retrospektive Messung von Eris wird auch der Anreiz an den Anlagenbetrieb gesetzt, die Zeitintervalle für Ausserbetriebnahmen von Elementen möglichst klein zu halten.

In der Praxis bei Axpo

Bei Axpo wird Eris in der Netzplanung sowohl für grosse Hochspannungsnetze als auch für Mittelspannungsnetze eingesetzt. Die erhaltenen Informationen werden dazu genutzt, die Netze zu optimieren und damit die Effizienz im Netz zu steigern sowie die Investitionsplanung bedarfsgerecht zu gestalten. Die Kombination von Eris mit der Zustands-/Wichtigkeitsbewertung (ZWAB) erlaubt zudem die Priorisierung der finanziellen Mittel sowohl aus Netzsystemsicht wie auch aus Anlagensicht.

Anwendungsbeispiel

Das Hochspannungsnetz in der Nordostschweiz wurde ursprünglich mit 50 kV betrieben und wird seit den 1980er-Jahren kontinuierlich auf 110 kV umgestellt. Dabei wurden zwischen den beteiligten Partnern Zielnetze in Fünfjahres-Zyklen vereinbart. Beim Start der Spannungserhöhung war das Vorgehen durch starke Lastzunahmen geprägt. Mitte der 1990er-Jahre wurde die Zielnetzplanung dahingehend angepasst, dass fortan der altersbedingte Ersatz von Netzanlagen im Vordergrund stand. Bis heute blieb dieser Ansatz im Wesentlichen unverändert. Neu ist jedoch, dass der Einsatz der finanziellen Mittel noch gezielter erfolgen soll und muss. Mit der Qualitätskennzahl Eris steht ein Werkzeug zur Verfügung, das diese Anforderung unterstützt und die Priorisierung von Anlagenerneuerungen unter einer definierten Versorgungssicherheit ermöglicht.

Bild 4 zeigt ein 50-kV-Teilnetz mit zehn Ausspeise-Unterwerken, zwei Kraftwerksstufen sowie drei Netzanschlüssen ans Übertragungsnetz, Zustand 2014. Auf Bild 5 ist das gleiche Netz nach der geplanten Spannungsumstellung auf 110 kV mit optimierter Netzstruktur sowie zwei neuen Netzanschlüssen (NE1 und NE4) zu sehen, Zustand 2020.

Beim 50-kV-Teilnetz, Zustand 2014, errechnet sich ein Eris-Wert von 83 (Bild 6). Ohne Massnahme sinkt die Qualitätskennzahl (50-kV-Betrieb) bis 2020 auf den Wert 76 ab, weil für diese Region eine leichte Verbrauchszunahme prognostiziert und der Anlagenzustand mit zunehmendem Alter schlechter bewertet wird.

Durch die geplanten Anlagenerneuerungen (Unterwerke und Leitungen) sowie die Anhebung der Spannung auf 110 kV wird das beschriebene Absinken von Eris verhindert, d.h. der Wert erhöht sich auf 95. Diese markante Steigerung der Qualitätskennzahl Eris erfolgt durch die Abnahme der Elementbelastungen, da der Strom aufgrund der Spannungserhöhung kleiner wird, durch die bessere Spannungshaltung sowie durch die Erneuerung von Netzelementen und somit des Zustands.

Zusammenfassung

Die Qualitätskennzahl Eris gibt der Versorgungssicherheit einen Wert. Mit der neuen, innovativen Methode können die Auswirkungen von Erweiterungs- und Erneuerungsinvestitionen auf die Versorgungssicherheit bewertet werden, sodass Investitionen gezielter getätigt werden können. Mit dem Einsatz von Eris von der Netzplanung bis zum Netzbetrieb sowie in einer möglichen Kombination mit der Zustands-/Wichtigkeitsbewertung (ZWAB) ist ein Mehrwert verbunden. Die Anwendung ist sowohl in weitläufigen Transportnetzen wie auch in kleineren Mittelspannungsnetzen möglich. Eris setzt sich aus Lastfluss-, Struktur- und Zustandsparametern zusammen und berücksichtigt neben der Netztopologie und dem Zustand einzelner Betriebsmittel verschiedene Last- und Produktionssituationen. Axpo bietet die Analyse von Netzen mit Eris als Dienstleistung an.

Autor
Lukas Mösch

ist Leiter Studien und Netztechnik bei Axpo Power AG.

  • Axpo Power AG
    5401 Baden
Autor
Daniel Moor

ist Leiter Strategisches Asset Management bei Axpo Grid AG.

  • Axpo Grid AG, 5401 Baden

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