Netze in Nordamerika und der Schweiz
Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Die Bedingungen der Netzführung in Nordamerika sind anders als in Europa – obwohl viele Fragen gerade im Hinblick auf die Zukunft ähnlich sind. Die Kerneigenschaften und -strategien nordamerikanischer Netzbetreiber werden hier am Beispiel der atlantischen Ostküstenprovinzen Kanadas vorgestellt und mit der Schweizer Situation verglichen.
Whiteout – Boden und Horizont sind für das Auge nicht mehr zu unterscheiden (Bild 1). Der Schneesturm jagt mit über 100 km/h über die kanadischen Ostküstenprovinzen. Es ist dunkel, mitten in der Nacht, und Tausende Menschen sind ohne Strom. In den Häusern sind teils flackernde Lichter von Taschenlampen zu sehen, ganz selten brennt noch die normale Beleuchtung: Nur wenige Häuser sind mit Notstrom-Generatoren versorgt. Die meisten Haushalte haben die Sturmwarnungen in den Medien und die Informationsbroschüren der Energieversorger verfolgt und sich vorbereitet. Bei –20°C Aussentemperatur muss die Stromversorgung dennoch rasch wiederhergestellt werden, denn die meisten Kunden sind nun ohne Wärmeversorgung. So heizten laut Department of Natural Resources Canada im Jahr 2018 36% der kanadischen Haushalte rein elektrisch und knapp 60% mit Gas- oder Ölheizungen, die teilweise ebenfalls auf Elektrizität angewiesen sind. Auch unter Whiteout- und Sturmbedingungen muss ein Entstörungsdienst also sofort ausrücken und entlang kilometerlanger Küsten- und Waldgebiete umgefallene Masten oder Leitungsschäden finden und beheben. Die Ausdehnung kanadischer Netzgebiete ist dabei aus schweizerischer Perspektive kaum vorstellbar. So erstreckt sich der Versorgungsauftrag des Energieversorgungsunternehmens (EVU) New Brunswick Power über eine Fläche, die fast doppelt so gross ist wie die Schweiz. Ein Übertragungsnetz von knapp 7000 km Länge und ein Verteilnetz von über 21’000 km versorgen mit rund 410’000 Anschlüssen mehr als 700’000 Menschen und damit den Grossteil der Einwohner der Provinz mit elektrischer Energie. Bei einer Einwohnerdichte von elf Menschen pro Quadratkilometer sind Siedlungen weit über die Provinz verteilt und Mehrfamilienhäuser die Minderheit. Ähnlich sind die Verhältnisse in den anderen drei Atlantikprovinzen Neufundland, Neuschottland und Prince Edward Island (P.E.I.). Zum Vergleich: Die BKW als einer der grössten Energieversorger der Schweiz versorgt mit etwa 185’000 Netzanschlüssen und über 22’000 km Verteilnetz rund eine Million Menschen bei einer Einwohnerdichte von 175 Menschen pro Quadratkilometer im Kanton Bern.

Die Geografie prägt die Netze weit über Flächenaspekte hinaus. So bestehen die Provinzgebiete zwischen 45% (P.E.I.) bis 80% (New Brunswick) aus Wald und auch Siedlungsgebiete haben einen hohen Vegetationsanteil. Dazu kommen Tausende Kilometer Küstenlinien – zwischen 13’000 km (Neuschottland) und 1100 km (P.E.I.). In Europa wenig bekannt ist, dass diese Küstenlinien Ausläufergebiete tropischer Atlantikstürme und karibischer Hurrikane sind.
Schon diese ersten Eindrücke machen es klar: Die Bedingungen und Herausforderungen der Netzführung in Nordamerika sind anders als in der Schweiz. Das schlägt sich auch in den Kennzahlen des Netzbetriebs nieder.
Nordamerikanische Situation im Vergleich
Die durchschnittliche jährliche Dauer von Stromausfällen pro Kunde gibt der SAIDI an, die durchschnittliche Häufigkeit pro Kunde ermittelt der SAIFI. In der Schweiz betrug der SAIDI im Jahr 2020 gemäss Elcom 21 Minuten pro Kunde. Davon entfielen zwölf Minuten auf ungeplante Ausfälle und neun Minuten auf geplante betriebliche Arbeiten. Bei den ungeplanten Störungen führen Naturereignisse gefolgt von betrieblichen Störungen die Ursachen an. Jährlich sind im Schweizer Durchschnitt 0,32 Kunden von einem Stromausfall betroffen. Damit ist die Schweiz europaweit Spitzenreiter in der Versorgungsqualität. Zum Vergleich: Typische SAIDI-Werte von Ländern wie Frankreich, Norwegen, Bulgarien oder Grossbritannien lagen in den letzten zehn Jahren teilweise deutlich über 60 Minuten.
Im nordamerikanischen Raum wird der SAIDI nicht in Minuten, sondern in Stunden angegeben – das sagt schon vieles zum Vergleich mit Europa aus. So betrug im selben Jahr der SAIDI von NB Power 5,51 h bei einem SAIFI von 2,20. In der Nachbarprovinz Neuschottland gab es rund 2,7 Ausfälle pro Kunde mit einer Durchschnittsdauer von 6,6 h.
Was sind die Ursachen für diese grossen Unterschiede? Die obigen Ausführungen haben es schon angedeutet: Räumlich ausgedehnte, wenig besiedelte Versorgungsgebiete, hoher Vegetationsanteil und raue Atlantikstürme entlang der Küsten machen den Betrieb zur Herausforderung. Somit sind aus Sicht der Energieversorger, aber auch der Gesellschaft Prävention und Vorbereitung auf Störfälle traditionell essenzieller Teil des Betriebskonzepts. Dieser Aspekt wird weiter verschärft durch den Klimawandel.
Grundsätzlich sind Naturereignisse als Ursachen ungeplanter Störungen der Energieversorgung weltweit auf dem Vormarsch. Die Netzauftrennung des europäischen Netzes 2021 aufgrund von Waldbränden in Frankreich und die Überschwemmungen des letzten Sommers sind jüngste Beispiele. Gerade vor diesem Hintergrund lohnt ein Blick auf die Strategien auf der anderen Seite des Atlantiks.
Aufgrund der harschen Betriebsbedingungen und der lebensbedrohlichen winterlichen Kälte hat hier das Störungsmanagement von Grund auf ein ganz anderes Gewicht als in Europa. Entsprechend aufgestellt sind die Energieversorger. Kunden können jederzeit im Störungsportal bekannte Störungen lokalisiert sehen, melden und die erwartete Zeit bis zur Wiederherstellung der Energieversorgung ablesen. Das von NS Power gesetzte Jahresziel 2022, innert 48 h bei 78 bis 95% aller Kunden den Strom wieder herzustellen, gibt jedoch schon einen Eindruck, wieweit sich auch die andere Seite des Anschlusses auf einen Stromausfall vorbereiten muss. Entsprechend gibt es, teilweise in Kooperation mit den Gemeinden, Krisenzentren und -pläne, zu denen auch die Bereitstellung von Warmräumen für die Bevölkerung gehört. Energieversorger, Medien und Notfallorganisationen informieren zur Sturmsaison mit Informationsbroschüren, Berichten und Kurzvideos, wie sich Privathaushalte vorbereiten sollten, etwa mit der sogenannten 72-h-Notfall-Vorsorge.
Vorbereitungen für den Sturm
Geben die meteorologischen Dienste dann eine Sturmwarnung heraus, heisst das für die Bevölkerung, spätestens jetzt vorbereitet zu sein: Beleuchtungsmittel wie Taschenlampen betriebsbereit halten, Trink- und Brauchwasser für die nächsten drei Tage kaufen oder in die überall erhältlichen 25-l-Behälter abfüllen, Essen für die kalte Küche oder das Aufwärmen auf dem Holz- oder Gasofen vorbereiten, Elektronik aufladen und Holz für die Holzöfen ins Haus bringen. Erledigungen werden noch rasch durchgeführt oder verschoben und Schulen geschlossen. Gleichzeitig werden mittels meteorologischer Modelle mit dem Netzbetrieb Stellen im Versorgungsgebiet identifiziert, die voraussichtlich besonders betroffen sein werden. In diesen Gebieten werden noch vor dem Sturm Netzelektriker und Mitarbeiter der Energieversorger in Hotels untergebracht, je nach Sturmstärke unterstützt von externen Arbeitern. Auch das im Störfall nötige Material ist an strategischen Stellen bereits gelagert. Diese Massnahme senkt nicht nur die Reaktionszeit, sondern schützt auch die Mitarbeiter, indem die Anfahrtswege unter oftmals schwersten Wetterverhältnissen und schlechter Sicht so kurz wie möglich gehalten werden.
Tritt ein Schaden ein, hat die schnellstmögliche Wiederherstellung der Energieversorgung, gerade im Interesse derer, die nicht oder nicht ausreichend vorsorgen oder heizen können, Priorität über blossen Komfort hinaus. Dabei haben kritische Infrastrukturen wie Krankenhäuser Priorität. Trotz aller Massnahmen: Einsätze unter diesen Bedingungen sind ein Risiko für die Mitarbeiter. Entsprechend hoch sind die Standards der Arbeitssicherheit der Energieversorger und extensive Schulungen gehören für jeden Mitarbeiter zum Alltag.
Präventive Arbeiten minimieren Ausfälle
Wichtiger ist es jedoch, einen Ausfall und die damit verbundenen Risiken und Kosten zu vermeiden. Entsprechend ist aus Sicht der Energieversorger ganzjährig Sturmsaison. Präventiv wird die Vegetation mit einem Rotationsplan entlang der Freileitungen gekappt, gekürzt und geschnitten. Dazu arbeitet etwa NB Power mit eigenen Baumpflegern und 14 externen Dienstleistern, die jährlich wechselnde Abschnitte des Übertragungs- und Verteilnetzes sturmsicher machen. Hinzu kommen Leitungsabschnitte, die vom EVU mittels Data Analytics, Lidar oder von Kunden mittels eines Meldeprozesses als allfällige Risiken identifiziert wurden. Die Zunahme extremer Wetterereignisse in Form von stärkeren Winterstürmen in teilweise wöchentlichem Takt, Überflutungen und sogar tropischen Regenstürmen macht dieses proaktive Handeln wichtiger denn je. Rund 10 Mio. CAD werden dafür jährlich allein bei NB Power ausgegeben – doppelt so viel wie noch vor zehn Jahren. Den Wendepunkt stellte 2014 der tropische Sommersturm Arthur dar, der rund 200’000 Kunden vom Netz trennte. Allein die Erfassung der Schäden dauerte mehrere Tage. Eine Hauptschadensursache waren umgestürzte Bäume, die teilweise in Dominoeffekten ganze Mastenreihen mit sich rissen.
Vielfach wird angesichts der zunehmend ungemütlichen oberirdischen Lage ein Blick auf unterirdische Leitungen geworfen, sind sie doch gerade im dicht besiedelten Raum optisch weniger auffällig. Doch die Kosten sind nicht nur initial, sondern auch im Störfall allein durch die schwierige Lokalisation von Fehlern sowie dem grösseren Aufwand im Reparaturfall höher. Zudem sind die unterirdischen Leitungen nicht ohne weitere zusätzliche Isolation flutsicher und können etwa bei Bauarbeiten oder auch durch Nagetiere beschädigt werden. Aus diesem Grund wird im nordamerikanischen Raum zunehmend in Richtung sturmfester, höherer und verstärkter Masten und Leitungen und angepasster Verankerungen sowie Isolatoren gearbeitet (Bild 2).

Neue Strategien
Gemeinsam mit den weltweit gesetzten Dekarbonisierungszielen macht die stetige Verstärkung gravierender Wetterereignisse aus Sicht der EVUs neue Strategien der Energieversorgung nötig. Dazu gehören höhere Anteile erneuerbarer Energien und ein Aufbau dezentral verteilter Produktionsanlagen. Als Ansätze werden zum Beispiel sogenannte small modular reactors (SMR), also Kernspaltungsreaktoren im unteren MW-Bereich, Mikrogrids und Gezeitenkraftwerke verfolgt. Mit dem weltweit grössten Tidenhub von bis zu 16 m und rauen klimatischen Bedingungen stellt die atlantische Bay of Fundy zwischen Neuschottland und New Brunswick eines der wichtigsten Entwicklungsgebiete der Gezeitenkraftwerke dar. Das nutzbare Potenzial wird dabei auf etwa 2,5 GW geschätzt. Zum Vergleich: Das Kernkraftwerk Gösgen hat eine Nennleistung von 970 MW. Während der Weg zu einer grossskaligen operativen Gezeitenkraft noch viel Forschung und Entwicklung benötigt, sind die ersten Pilotanlagen der neuen Generation von Gezeitenkraftwerken inzwischen im Einsatz. Die schwimmende Offshore-Anlage von Sustainable Marine Energy Canada erreicht dabei knapp 0,5 MW.
Den Ansatz der Mikrogrids verfolgt die Insel P.E.I. schon seit der Jahrtausendwende. Die klimatischen Verhältnisse und die Insellage motivierten die Provinz früh, neue und potenziell wirtschaftlich attraktivere Möglichkeiten der Energieversorgung zu untersuchen. Wie in allen Provinzen verstärkt der Klimawandel den Veränderungsdruck weiter, etwa auch hinsichtlich Netzstabilität. Nur zwei Seekabel verbinden als Konnektoren das Elektrizitätsnetz mit dem Festland. Die Spitzenlast der Provinz beträgt knapp 300 MW. Mit diesen Ausgangsbedingungen liegen erneuerbare Energien und Mikrogrids nahe. Acht Windfarmen produzieren zusammen über 204 MW und die Provinz hat eines der attraktivsten Förderprogramme für private Photovoltaikanlagen Kanadas. Im Rahmen des Projekts Slemon Park wird aktuell ein inselfähiges Mikrogrid erbaut. Rund 10 MW AC Photovoltaik und mehr als 3 MWh elektrische Speicher werden dafür installiert und intelligent gesteuert (Bild 3).
Bemerkenswert an der kanadischen Situation ist wiederum der Einfluss des Winters, der bis zu 50% des Spitzenlastbedarfs ausmacht. Dieser Spitzenbedarf wird mit fossilen Brennstoffen wie Kohle oder Diesel gedeckt. Aus planerischer und betrieblicher Sicht steht damit ein signifikanter Anteil der Infrastruktur nur für den Winter bereit. Im Rahmen der näher rückenden zu erreichenden Dekarbonisierungsziele und den ersten Abschaltungen von Kohlekraftwerken 2030 sind Alternativen nun umso drängender. Gemeinsam mit der in Kanada noch langsam stattfindenden Zunahme von E-Mobilität ist die Energiewelt massiv im Umbruch.
Auch die Schweiz steht vor teilweise grundlegenden Entscheidungen – und der vertiefte Blick in die schweizerischen Netzkennzahlen verrät auch, wo anfangen: Berg- und ländliche Regionen der Schweiz sind bezüglich SAIDI und SAIFI gar nicht so weit von den kanadischen Werten und Grössenordnungen entfernt. Der Blick über den Teich lohnt sich also.
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