Netflix-Mobilität für Städte
Nachhaltigkeit
Paris, Barcelona und Kopenhagen wollen maximale Mobilität bei kleinstmöglichem Verkehrsaufkommen. Dafür verbannen sie das «Besitzauto» zunehmend und setzen auf das Velo, gut vernetzten ÖV und Sharing-Angebote.
Leere Autobahnen und Züge, reger Betrieb auf den Fahrradwegen und Joggingrouten – die weltweiten Lockdowns ab Frühjahr 2020 haben unsere Mobilitätsmuster mit einem Schlag auf den Kopf gestellt. Innert weniger Wochen entstanden in den Zentren von Mailand, London und Paris neue Velowege, um den öffentlichen Verkehr zu entlasten und das Covid-19-Übertragungsrisiko zu senken. Vergangenen September gab die Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, bekannt, dass 50 Kilometer Strasse, die im Rahmen des Lockdowns temporär den Autofahrern entzogen worden waren, nun permanent den Velofahrern zugesprochen werden. Die sonst stark befahrene Rue de Rivoli zwischen der Bastille und Place de la Concorde ist heute eine mehrspurige Velo-Schnellstrasse. Und auch die Champs-Elysées werden bald neu gestaltet, mit halb so viel Platz fürs Auto wie zuvor.
Hidalgo, die von französischen Medien auch schon «Antiauto-Bürgermeisterin» genannt wurde, war 2014 mit dem Versprechen angetreten, das verkehrsgeplagte Paris zu einer Velostadt umzubauen. Die Hälfte der insgesamt 140’000 Parkplätze sollen in den kommenden Jahren zugunsten von Velofahrern und mehr Grünflächen aufgelöst werden. Hidalgos erklärtes Ziel: Der Umbau von Paris zu einer «15-min-Stadt». Alle wichtigen Funktionen des täglichen Lebens – Einkaufen, Gesundheitsversorgung, Ausbildung, soziale Kontakte, Arbeit und Erholung – sollen in einer Viertelstunde zu Fuss oder mit dem Velo verfügbar sein. Hidalgo ist überzeugt, dass Pariserinnen und Pariser keinen Verkehr wollen, sondern Mobilität und besseren Zugang zu wichtigen städtischen Dienstleistungen. Entscheidend ist dabei der individuell wahrgenommene Nutzen eines Weges und nicht die Anzahl zurückgelegter Kilometer.
Fehlende Abkehr vom «Besitzauto»
Heute geht rund ein Fünftel der globalen CO2-Emissionen auf den Transportsektor zurück; 75% davon auf den Strassenverkehr. Und anders als in den Bereichen Wohnen, Industrie und Energiebereitstellung steigen die Treibhausgasemissionen beim Transport weiter an. Eine Förderung der Elektromobilität, wie sie von vielen Regierungen betrieben wird, ist deshalb in Hinblick auf die Klimakrise bei entsprechendem Strommix sinnvoll. Doch wenn Neuwagen nach wie vor 1,7 t schwer und 179 PS stark sind sowie 23 Stunden am Tag ungenutzt herumstehen, um danach eineinhalb Personen zu transportieren, so der aktuelle Durchschnitt in der Schweiz, bleibt das Automobil für die Bereitstellung von Mobilität extrem ineffizient. Ganz abgesehen davon, dass auch Elektroautos in der Herstellung viel Emissionen erzeugen, weiterhin Unfälle verursachen, Parkplätze und Ladestationen benötigen und im öffentlichen Raum mit anderen Bedürfnissen konkurrenzieren.
«Wir Verkehrsplaner haben bislang leider darin versagt, attraktive Alternativen zu entwickeln, um die Leute von einer Abkehr vom Besitzauto zu überzeugen», sagt Thomas Sauter-Servaes, Professor und Leiter des Studiengangs Verkehrssysteme an der ZHAW. Der Traum von uneingeschränkter Mobilität hat dazu geführt, dass heute 1,3 Milliarden Autos weltweit in Betrieb sind; davon alleine in Europa rund 300 Millionen. Städte wurden seit Beginn des 20. Jahrhunderts nach den Bedürfnissen von Autofahrenden geplant und die Strasseninfrastruktur stetig erweitert. Laut Daten der OECD verschlangen Transportinfrastrukturen, allen voran Autostrassen, im Jahr 2006 in Städten zwischen 25 bis 40% des öffentlichen Raums.
Städteallianz als Treiber nachhaltiger Mobilität
Viele Städte haben mittlerweile verstanden, dass Mobilität komplett neu gedacht und konsequent dekarbonisiert werden muss, um das Ziel des Pariser Abkommens zu erreichen und die globale Erhitzung auf 1,5 bis 2°C im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter zu beschränken. Sie haben sich in der Vereinigung «C40 Cities» zusammengeschlossen, um Erfahrungen auszutauschen und Massnahmen gegen die Klimakrise zu treffen, die über die Versprechen ihrer nationalen Regierungen hinausreichen. Ihr Hebel ist riesig: Heute leben 55% der Menschheit in Städten; bis 2050 werden es beinahe 70% sein.
Paris ist bei Weitem nicht die einzige Stadt, die dem «Besitzauto» den Kampf angesagt hat und Mobilität von Seiten der Städteplanung her neu denkt. Auch Barcelona hat mit seinen «Superblocks» international für Aufsehen gesorgt. Neun Häuserblöcke werden planerisch zu einem Superblock zusammengefasst, um die Strassen dazwischen zu begrünen und sie für Fussgänger und Velofahrer aufzuwerten. Für den Durchgangsverkehr werden die Superblocks gesperrt. Anwohner, Gewerbe und die Müllabfuhr müssen darin eine Höchstgeschwindigkeit von 10 km/h respektieren. Die Bürgermeisterin Ada Colau hat im November angekündigt, dass das Konzept auf das gesamte Stadtzentrum ausgeweitet wird. Kopenhagen wiederum hat sich einen Namen als velofreundlichste Stadt der Welt gemacht, indem das Fahrrad in der Planung Priorität gegenüber dem Auto hat. 45% der Stadtbewohner pendeln schon heute mit dem Velo zur Arbeit, Uni oder Schule.
Die Mobilität der Zukunft ist geteilt
«Die Elektrifizierung der Mobilität ist ein wichtiger Baustein», sagt Sauter-Servaes. «Aber sie muss zusammengehen mit Mikromobilität, Sharing-Angeboten und einer Abkehr vom Besitzauto.» Genau dies verspricht das Konzept «Mobility as a Service» (MaaS). Manche umschreiben MaaS als das Netflix der Stadtmobilität – weg vom physischen Besitz und hin zur digital vermittelten Nutzung. Das Unternehmen «MaaS Global» aus Helsinki gehört zu den Vorreitern und zeigt mit seiner App «Whim», wie die urbane Mobilität der Zukunft organisiert sein könnte. Mit einem All-inclusive-Package für rund 500 € pro Monat haben Nutzer über die App Zugang zum öffentlichen Verkehr, zu Bike-Sharing-Angeboten, Taxidiensten und Mietautos. Sie können sich jederzeit spontan für ein Transportmittel entscheiden, ohne dafür Billette zu lösen oder Mitgliedschaften bei Autovermietungen einzugehen. Und wer am Wochenende zum Skifahren in die Berge fahren will, hat weiterhin Zugang zu einem Privatfahrzeug – gegen Aufpreis sogar zu einem Sportwagen oder einer Limousine. Mittlerweile gibt es «Whim» für Helsinki, Turku, Antwerpen, Birmingham und Wien. Das erklärte Ziel des Unternehmens: Bis 2030 eine Million Autos durch ein Whim-Abo zu ersetzen.
Für Jörg Beckmann, Direktor der «Mobilitätsakademie» des TCS, sind solche Angebote zukunftsweisend. Auch er glaubt, dass die Hegemonie des Privatautos gebrochen ist und eine «Deprivatisierung» des Verkehrs dringend nötig ist: «Die Zeit der klassischen Autohersteller ist vorbei. Auch diese positionieren sich immer stärker als Mobilitätsdienstleister.» Dieser Trend zeigt sich selbst bei Beckmanns Arbeitgeber TCS, der sich nicht mehr als Autoklub, sondern als Mobilitätsklub versteht. Mittlerweile betreibt er auch ein Netzwerk mit 350 Miet-Cargobikes und installiert E-Auto-Heimladestationen. «Mit der Elektrifizierung des Verkehrs kommt auch die Digitalisierung», sagt Beckmann, wobei mit einem «Smartphone auf Rädern», das ständig Daten zu den Mobilitätsgewohnheiten der Nutzer sammelt und diese mit anderen Geräten teilt, komplett neue Anwendungen und Dienstleistungen möglich würden.
MaaS in der Schweiz noch in Kinderschuhen
MaaS könnte auch in der Schweiz einen wichtigen Beitrag für einen effizienteren und nachhaltigeren Stadtverkehr leisten. Dies zeigt eine Studie von ETH-Professor Kay Axhausen. Sein Team hat ein MaaS-System für die Stadt Zürich simuliert und dabei gezeigt, dass der Energieverbrauch für ein bestimmtes Mobilitätsniveau durch geschickte Vernetzung von Autos, ÖV, Velos und Fusswegen um einen Viertel reduziert werden könnte. Zudem konnte die allgemeine Effizienz des Verkehrssystems um 11% erhöht werden, wenn der ÖV in leicht besiedelten Gebieten durch Sharing-Angebote substituiert wurde. Laut Sauter-Servaes steckt die Schweiz punkto MaaS aber noch in den Kinderschuhen. «Wohl gerade weil die Schweiz das beste ÖV-System der Welt hat – und damit eigentlich eine ideale Grundlage für ein attraktives MaaS-System –, ruhen sich die Städte derzeit noch auf ihren Lorbeeren aus.»
Zudem steht noch nicht fest, welche Akteure in Zukunft bei der digitalisierten Bündelung und Vernetzung von Mobilitätsangeboten federführend sein werden. Sind es grosse Verkehrsunternehmen wie die SBB? Oder die heutigen Autobauer? Sind es Plattformanbieter wie Uber, Google oder Apple, die über technologisches Know-how und enorme Datenmengen zu den Mobilitätsmustern ihrer Kunden verfügen? Oder sind es am Ende doch die Städte, die ein verkehrspolitisches Mandat haben und für die Bereitstellung von öffentlichen Verkehrsinfrastrukturen verantwortlich sind? Absehbar ist aber heute schon: MaaS wird zum Zukunftsmarkt. Das Tech-Marktforschungsinstitut «Emergen Research» schätzt dessen Volumen bis 2027 auf 520 Mia. US $.
Das selbstfahrende Auto als Treiber
Die hohen Erwartungen punkto Effizienzgewinne durch MaaS werden vom Trend zur Automatisierung des Verkehrs befeuert. Der «unmittelbar bevorstehende» Durchbruch des selbstfahrenden Autos, wie er von der Industrie bereits mehrmals verkündet wurde, lässt jedoch weiter auf sich warten. Und die Pandemie wird diesen weiter hinauszögern. Unternehmen wie Waymo, Uber, Cruise und Lyft mussten ihre Testprojekte aus Sicherheitsgründen unterbrechen oder in den digitalen Raum verlagern und können derzeit keine oder nur bedingt gültige Daten für die Weiterentwicklung sammeln. Der Thinktank «Zukunftsinstitut» prognostizierte kürzlich, dass sich die Coronakrise «signifikant negativ auf die Einführung dieser Technologie auswirken wird».
Sauter-Servaes ist trotzdem überzeugt, dass die Automatisierung kommen wird, die Frage sei lediglich wann. Er mahnt Städte dazu, sich schon heute darauf vorzubereiten: «Die Automatisierung wird ein ‹game changer› für alles! Dadurch werden komplett neue Segmente der Gesellschaft mobil.» Eine 90-jährige Oma könnte nun mit dem selbstfahrenden Auto ihre Enkel besuchen; ein fünfjähriger Knopf aus gutem Haus täglich in den Kindergarten pendeln. Die Folgen: Ein starker Mobilitätszuwachs und viele Leerfahrten. «Autonome, elektrifizierte Fahrzeuge könnten dermassen zugänglich und günstig werden, dass sie den ÖV, das Fahrrad und die Fusswege konkurrenzieren», befürchtet Sauter-Servaes. Deshalb ist der Mobilitätsforscher überzeugt, dass Konzepte wie die «15-Minuten-Stadt» in Paris oder die «Superblocks» in Barcelona in die richtige Richtung zielen. «Wir brauchen keine ‹technology fixes›, sondern ein ‹grand design›; also eine umfassende Planung zugunsten eines neuen Umgangs mit Mobilität und öffentlichem Raum.»
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