Nachhaltigere Lieferketten bei EVUs
Möglichkeiten und Herausforderungen
Die Energiebranche befindet sich mitten in einem grundlegenden Wandel. Neben neuen gesetzlichen Anforderungen ist der berufliche Alltag geprägt von Innovationen und neuen Geschäftsmodellen zur Energiewende. Zudem wird von den EVUs zunehmend verlangt, nachhaltige Beschaffungsstrategien umzusetzen. Aber was heisst dies konkret?
Nachhaltig beschaffen bedeutet, die ganze Wertschöpfungskette unter Einhaltung ökologischer, sozialer und wirtschaftlicher Kriterien zu gestalten. Dabei spielt der Einkauf eine strategische Rolle, um sicherzustellen, dass die Anforderungen an sogenannte ESG-Kriterien (Environment, Social, Governance) erfüllt werden.
Wenn die globale Erwärmung unter der kritischen Grenze von 1,5°C bleiben soll, müssen die global emittierten Treibhausgas-(THG-)Emissionen bis spätestens 2050 auf Netto-Null sinken – also dauerhaft durch natürliche oder technische Senken der Atmosphäre wieder entzogen werden. In der Schweiz ist das Netto-Null-Ziel seit der angenommenen Volksabstimmung über das «Klima- und Innovationsgesetz» vom 18. Juni 2023 gesetzlich verankert.
Die St. Gallisch-Appenzellische Kraftwerke AG (SAK) hat sich gemäss der Science Based Targets Initiative (SBTi) als erstes Schweizer EVU dazu verpflichtet, bereits bis 2040 Netto-Null über alle Scopes (Bild 1) zu erreichen. Dabei zeigt sich ein eindeutiger Schwerpunkt: Der Grossteil der THG-Emissionen (94%) fällt unter Scope 3. Dort stellt die Kategorie «eingekaufte Güter und Dienstleistungen» (GHG-Protocol 3.1) den grössten Verursacher dar, mit 78% der Gesamtemissionen (Daten 2023).
Neue Anforderungen an Einkauf
Die «traditionelle» Aufgabe der Beschaffung bestand darin, anforderungsgerechte Leistungen zu den geringsten Kosten sicherzustellen. Durch die Digitalisierung und ein wachsendes Bewusstsein für Nachhaltigkeit wird diese Sichtweise jedoch grundlegend verändert.
Durch automatisierte Prozesse können operative Aufgaben reduziert werden. Dadurch entstehen Kapazitäten für strategischere Tätigkeiten wie Lieferantenmanagement, Risikomanagement und Innovationsförderung. Gleichzeitig stellen Digitalisierung und Automatisierung neue Anforderungen an die Verfügbarkeit und Qualität von Daten.
Zudem hat sich die Nachhaltigkeit in der Gesellschaft zu einem zentralen Anliegen entwickelt. Firmen sind gefordert, Entscheidungen wirtschaftlich, sozial und ökologisch verantwortungsvoll zu treffen und entsprechende Unternehmensprozesse zu definieren.
Regulatorische Anpassungen forcieren den Wandel
Die Änderung der Interkantonalen Vereinbarung über das öffentliche Beschaffungswesen (IVöB) per 1. Juni 2023 zeigt deutlich, wie sich die Rolle des Beschaffungswesens aus regulatorischer Sicht verändert hat. Neu stehen folgende Schwerpunkte im Fokus:
- Nachhaltigkeit als Grundhaltung
- Qualität als zwingendes Zuschlagskriterium
- Zuschlag an das «vorteilhafteste» statt an das wirtschaftlich günstigste Angebot [1].
Durch geopolitische Spannungen und Klimarisiken rückte die Resilienz von Lieferketten in den vergangenen Jahren vermehrt in den Fokus. Eine rein kostenoptimierte Beschaffungsstrategie reicht heute für viele Unternehmen nicht mehr aus.
Synergetische Effekte lassen sich u. a. durch die Verkürzung der Beschaffungswege erzielen. Dies führt zu kürzeren Reaktionszeiten und niedrigeren Treibhausgasemissionen. Die Lieferkette wird robuster und klimafreundlicher. Gleichzeitig müssen Abwägungen getroffen werden, wie etwa beim Multiple Sourcing: Robustheit durch Diversifikation von Lieferanten versus höhere Kosten und mögliche zusätzliche THG-Emissionen.
Innovation in Beschaffungsprozessen kann helfen, diese Herausforderungen zu bewältigen. Die SAK testet derzeit einen Ansatz, bei dem Transportemissionen in die Lagerhaltung einbezogen werden, indem die Emissionen monetarisiert und in das «Economic Order Quantity»-(EOQ)-Modell integriert werden. Der Nutzen: Durch die Monetarisierung entsteht ein Hebel, der die Kosten einer eingesparten Tonne CO2 berechenbar macht. Das Unternehmen kann so den Preis pro Tonne CO2 festlegen und die entstehenden Mehrkosten kalkulieren.
Dieser Ansatz verdeutlicht, wohin die Entwicklung führen soll: Durch die Nutzung von Daten können Prozesse ökonomischer und ökologischer werden. Zunächst bedeutet dies meist einen Mehraufwand, etwa durch die Erfassung der Transportemissionen.
Kreislaufwirtschaft fördern
Nicht nur produzierende Unternehmen, sondern auch EVUs müssen die klassische lineare Wirtschaft zu einer zukunftsfähigen zirkulären Wirtschaft weiterentwickeln.
In der Schweiz wird zwar bereits ein grosser Teil der Wertstoffe recycelt, doch die direkte Rückführung von Materialien in den ursprünglichen Produktionsprozess bietet weitere Vorteile. So können beispielsweise ausgebaute Kabel direkt an den Kabelhersteller zurückgegeben werden, um sie für die Produktion neuer Kabel zu verwenden.
Der Einkauf spielt hierbei eine zentrale Rolle: Er muss Potenziale für Kreislaufwirtschaft erkennen und zusammen mit Lieferanten fördern.
Das Verbesserungspotenzial beschränkt sich aber nicht nur auf technische Produkte. So hat die SAK im Jahr 2024 zusätzliche Büroräumlichkeiten mit aufbereiteten statt neuen Möbeln ausgestattet.
Schwerpunkt THG-Emissionen
Die Erreichung der Netto-Null-Ziele hängt massgeblich von der Verfügbarkeit und Qualität von Daten ab. Ohne eine genaue Datenerfassung können keine fundierten Massnahmen zur Emissionsreduktion ausgearbeitet und deren Wirksamkeit gemessen werden. Diese Datenbasis ist nicht nur die Grundlage für interne Verbesserungsschritte, sondern auch entscheidend für die Weiterentwicklung entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass dabei einige Herausforderungen zu meistern sind.
Datenverfügbarkeit
Die Verfügbarkeit von Daten variiert stark zwischen Branchen und Lieferanten. Viele Lieferanten können zwar heute noch nicht detaillierte THG-Emissionen ausweisen, aber die Bereitschaft zur Verbesserung in diesem Bereich ist vorhanden.
Besonders herausfordernd wird es, wenn Produkte über Händler bezogen werden, denn zusätzliche Akteure in der Lieferkette erhöhen den Aufwand für die Datenerhebung. Gleichzeitig sind Grosshändler aufgrund ihrer hohen Absatzmengen wichtig. Das Bild ist aber gemischt: Während einige Händler bereits einen Grossteil der THG-Emissionen anhand der eingekauften Produkte kundenspezifisch ausweisen können, hat dieses Thema bei anderen noch keine hohe Priorität.
Datenqualität und -konsistenz
Die bereitgestellten Informationen sind oft uneinheitlich: Einige Lieferanten können bereits umfassende Daten zu den THG-Emissionen und anderen relevanten Umweltauswirkungen ihrer Produkte liefern, die mittels Environmental Product Declarations (EPDs) kommuniziert werden.
Sind so detaillierte Daten nicht verfügbar, wurde mit einigen Lieferanten eine alternative Lösung gefunden: Mit Materialdaten (z.B. aus Stücklisten) und entsprechenden Emissionsfaktoren aus Durchschnittsdaten können die eingekauften THG-Emissionen ausreichend genau berechnet werden.
Internationale Anbieter von EPDs bieten eine gewisse Standardisierung, dennoch bleibt eine Überprüfung und Harmonisierung der Daten nötig: Unterschiede in der Definition von Systemgrenzen stellen dabei ein Problem dar. Obwohl die ISO 14040 ein Rahmenwerk für Ökobilanzen vorgibt und die ISO-Norm 14021 die Erstellung von EPDs beschreibt, können Systemgrenzen unterschiedlich definiert sein.
Ein Beispiel ist die Nutzungsphase, die oft Installation, Betrieb, Wartung und Reparatur umfasst. Für den Betrieb wird ein Strommix angenommen. Wurden jedoch für die Bilanzierung von Konkurrenzprodukten andere Annahmen getroffen (z.B. Strommix EU/CH) und ist der Stromverbrauch nicht ausgewiesen, führt das zu zwei Problemen: Erstens wird der Vergleich der beiden Produkte nahezu unmöglich, denn die Nutzungsphase ist entscheidend, da sie oft den grössten Einfluss auf die Gesamtemissionen hat. Zweitens können solche undifferenzierten Angaben zu Doppelzählungen führen, da die SAK für viele Aktivitäten bereits Primärdaten (Netzverluste, Stromverbrauch) erhebt und ausweist.
Deshalb ist nicht nur eine einheitliche Definition der Systemgrenzen wünschenswert, um die Vergleichbarkeit zu gewährleisten, sondern auch eine ausreichende Granularität der Daten. Dadurch wird eine realitätsnähere Bilanzierung ermöglicht und sichergestellt, dass verfügbare Primärdaten effektiv genutzt werden können.
Neue Anforderungen an ERP- und SRM-Tools
Die erstmalige Erstellung des Nachhaltigkeitsberichts für das Geschäftsjahr 2023 hat bei der SAK das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer konsequenten und detaillierten Datenerfassung geschärft. Um den gestiegenen Anforderungen an Transparenz und Nachverfolgbarkeit gerecht zu werden, ist es wahrscheinlich, dass bestehende Enterprise Resource Planning (ERP)-Systeme weiterentwickelt und angepasst werden müssen.
Gleiches gilt für Supplier Relationship Management (SRM)-Tools, die künftig nicht nur klassische Lieferantenbewertungen unterstützen, sondern auch die Erfassung und Überwachung von ESG-Kriterien ermöglichen müssen. Darüber hinaus müssen zusätzliche Berichte und Zertifikate zentral abgelegt werden. Um die Daten effektiv nutzen zu können, sind Schnittstellen zu Tools erforderlich, die weitere Analysen ermöglichen.
Einheitliche Einkaufsstrategie
Um ESG-Ziele zu erreichen, muss die Einkaufsstrategie einheitlich und konsequent ausgerichtet sein. Dies betrifft sowohl die Bewertungskriterien für Einkaufsentscheidungen als auch die Kommunikation mit Lieferanten.
EVUs im sogenannten «regulierten Bereich» tragen eine besondere Verantwortung: Durch transparente öffentliche Ausschreibungen und die Berücksichtigung von ESG-Kriterien als Teilnahme- oder Zuschlagskriterien können sie die Transformation aktiv fördern. Solche Massnahmen setzen Anreize für Lieferanten, ESG-Anforderungen entlang der gesamten Lieferkette zu berücksichtigen.
Lieferkettenübergreifende Lösung ist gefragt
Die SAK setzt auf einen kooperativen Ansatz, der partnerschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung über reine Kostenoptimierung stellt. Das Ziel ist es, die Lieferkette gemeinsam nachhaltiger zu gestalten, indem alle Akteure voneinander lernen.
Mehr Austausch und Transparenz fördern die Sensibilisierung aller Beteiligten. Dies ermöglicht eine präzisere und einfachere Datenbeschaffung. Allerdings bedeutet dies zunächst einen erheblichen Mehraufwand für die Lieferanten. Dennoch entstehen dadurch auch für die Lieferanten langfristig relevante Vorteile:
- Erhebung eigener Emissionen. Lieferanten können ihre eigenen Emissionen besser verstehen und als Grundlage für Prozessverbesserungen nutzen. Zudem liefert diese Datenerhebung eine wesentliche Basis für den Nachhaltigkeitsbericht des Unternehmens.
- Erhöhte Transparenz und Risikominimierung. Durch transparente Lieferketten können Risiken erkannt und kontrolliert werden. Offenheit fördert eine konstruktive Zusammenarbeit, bei der Probleme gemeinsam gelöst werden können.
- Erfüllung regulatorischer und gesetzlicher Vorgaben. Gesetzliche Regelungen wie die Zielvorgabe von Netto-Null bis 2050 betreffen alle Unternehmen. Zukünftige Vorschriften in der Schweiz, die sich an EU-Standards orientieren, erhöhen die Anforderungen an Nachhaltigkeitsberichte. Im öffentlichen Beschaffungswesen werden ESG-Kriterien bereits heute berücksichtigt. Lieferanten, die Nachhaltigkeitsangaben machen und diese aktiv fördern, haben aktuell einen Wettbewerbsvorteil und werden in Zukunft ESG-Anforderungen erfüllen müssen, um wettbewerbsfähig zu bleiben.
- Anpassungsfähigkeit an Marktbedürfnisse. Nachhaltigkeit wird zunehmend zum Marktvorteil. Eine McKinsey-Studie zeigt, dass die Umsätze nachhaltig deklarierter Konsumgüter zwischen 2017 und 2022 um 28% zunahmen, während die restlichen Artikel nur ein Wachstum von 20% verzeichneten. Produkte mit Angaben zu mehreren ESG-Klassifizierungsthemen erzielten dabei nochmals höhere Wachstumsraten [2].
Obwohl diese Studie auf Konsumgüter abzielt, lässt sich ein ähnlicher Trend auch im B2B-Bereich vermuten. Kunden erwarten zunehmend mehr Transparenz – sei es aus eigener Überzeugung, Vermarktungspotenzial oder aufgrund regulatorischer Anforderungen. Lieferanten, die ESG-Daten bereitstellen, sichern sich dadurch einen Wettbewerbsvorteil.
Fazit
Das Ziel von SAK, bis 2040 über alle Scopes Netto-Null-Emissionen zu erreichen, ist ambitioniert. Trotzdem gibt es auf lange Sicht wohl keine Alternative zu diesem Weg. Wichtig ist es, jetzt den ersten Schritt zu machen und dem Ziel durch kontinuierliche Verbesserung Schritt für Schritt näherzukommen.
Eine partnerschaftliche Zusammenarbeit entlang der Lieferkette ist dabei essenziell. Interne Verbesserungsmassnahmen wie die Optimierung der Lagerhaltung können zwar selbstständig umgesetzt werden, die Auswirkung auf die Gesamtemissionen ist jedoch eher bescheiden. Trotzdem ist es wichtig, auch interne Potenziale zu finden.
Transparenz schafft nicht nur die notwendige Sicherheit, sondern offenbart auch Potenziale zur Optimierung und bietet einen Marktvorteil. Der Erfolg bei der Umsetzung nachhaltiger Ziele hängt von mehreren Faktoren ab: einem effektiven Lieferantenmanagement, einer einheitlichen Einkaufsstrategie und der Bereitschaft zur Zusammenarbeit entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Ohne Kollaboration sind Fortschritte nur schwer zu erreichen.
Der Weg zu Netto-Null erfordert umfassendes Handeln in ökologischer, ökonomischer und sozialer Hinsicht. Es gilt nicht nur, Verpflichtungen und Normen einzuhalten, sondern auch Chancen zu erkennen und zu ergreifen.
Referenzen
[1] Kanton St. Gallen, Neues Beschaffungsrecht ab 1. Juni 2023.
[2] Jordan Bar Am et al., «Consumers care about sustainability—and back it up with their wallets», McKinsey/NielsenIQ, 6. 2. 2023.
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