Fachartikel Eigenverbrauch , Erneuerbare Energien , Integration ins Netz

Multi-Energy-Hubs in Quartieren

Simulation dezentraler Energiesysteme

28.09.2017

Im Kontext der Energiestrategie 2050 des Bundes stellen dezentrale erneuerbare Energiesysteme einen vielver­sprechenden Ansatz dar, da erneuerbare Energie­quellen bereits verfügbar sind. Um technische, ökonomische und soziale Heraus­forderungen solcher Systeme untersuchen zu können, wurden solche Energy-Hubs auf Quartierebene simuliert.

Durch die verstärkte Verbreitung der Energiebereitstellung mit erneuerbaren Energien sowie durch den Wandel nationaler Rahmenbedingungen hat sich der Energiesektor in den letzten Jahren fundamental verändert. Aufgrund der Energiestrategie 2050 in der Schweiz und der Energiewende in Deutschland erleben diese Länder eine wichtige Neuorganisation im Energiebereich. In beiden Fällen ist die Langzeitvision – nebst einer Reduktion der Treibhausgase – vom Ausstieg aus der Nuklearenergie dominiert. Um diese ehrgeizigen Ziele zu erreichen, sind verschiedene Aktionen notwendig, wie zum Beispiel die Reduzierung des Energieverbrauchs, ein Ausbau von erneuerbaren Energien sowie das Design eines neuen Strommarkts. Diese Vision führt zu verschiedenen Herausforderungen, wie zum Beispiel der Kopplung von Verbrauch und Erzeugung bei gleichzeitiger Wahrung der Systemstabilität, der Integration von dezentraler Produktion ins heutige Stromnetz oder der Ausgleich von täglichen und saisonalen Lastschwankungen durch Speicherkapazität. Gleichzeitig muss die Wettbewerbsfähigkeit und Versorgungssicherheit gewährleistet bleiben. In diesem Rahmen stellen dezentrale Multi-Energie-Systeme eine vielversprechende Lösung dar, denn dezentrale Energietechnologien sind bereits kommerziell verfügbar und dabei technisch effektiver und preisgünstiger als noch vor einigen Jahren. Zudem können sie einige Herausforderungen von Grossprojekten und den entsprechenden Investitionen überwinden. So können dezentrale Energiesysteme durchaus als Vorreiter in der Transformation des Energiesektors betrachtet werden.

In diesem Rahmen hat das IMES-Projekt eine umfassende Herangehensweise entwickelt, um sogenannte «Multi-Energy-Hubs» auf Areal-/Quartierebene zu simulieren und zu optimieren, und um technische, ökonomische sowie soziale Herausforderungen solcher Systeme untersuchen zu können. So soll ein optimales Energiesystem in Bezug auf Technologieportfolio, Layout, Betriebs- und Kontrollstrategien für zwei Fallstudien identifiziert werden: für das alpine Dorf Zernez (GR) sowie für das suburbane Altstetten (ZH), jeweils für einen Zeitraum von 2015 bis 2050. Die Optimierungsmethode ist das Ergebnis eines iterativen Austauschs verschiedener Teilaspekte, u.a. Technologiesimulationen, Potenzialbewertung erneuerbarer Energien, Gebäudeintegration, Netzmodellen, Kontrollstrategien sowie ökonomischen und sozialen Analysen. Im Folgenden werden verschiedene Aspekte der Herangehensweise detaillierter beschrieben.

Energiebedarf und Ressourcen

Der Energiebedarf (Elektrizität und Wärme) und potenzielle erneuerbare Ressourcen eines Quartiers werden als Input für das Optimierungsmodell genutzt. Der Energiebedarf der Gebäude wird durch ein dynamisches Energiesimulationsmodell ermittelt, welches georeferenzierte Geometriedaten sowie Schweizer Gebäudestatistikdaten nutzt, um Energiemodelle für jedes individuelle Gebäude zu erstellen. Renovationsraten und sich verändernde Wetterkonditionen sind im Modell berücksichtigt, um den Energiebedarf der Nachbarschaft von 2015 bis 2050 zu berechnen. Dabei wird methodisch die optimale Platzierung von dezentralen erneuerbaren Technologien bestimmt, wie zum Beispiel Photovoltaik, Bohrlöcher für Erdreich-Wärmepumpen, Windkraftanlagen sowie kleinere Wasserkraftwerke.

Design des Multi-Energy-Hubs

Die Auswahl der Technologien, die in der Optimierung genutzt wurden, umfasst erneuerbare Technologien (z.B. Photovoltaik), erdgasbasierte Blockheizkraftwerke (BHKW), Wärmepumpen, Elektrolyseure und Energiespeicher (Batterien). Die Optimierung bestimmt die Technologiekonfiguration, Dimensionierung und den Betrieb für ein Jahr in stündlicher Auflösung.[1] Die Optimierungsmethode ist in der Lage, für den Entwurf von kurz- und langfristigen Speichertechnologien die tägliche und saisonale Variabilität des Energiesystems zu erfassen. Neue Algorithmen wurden entwickelt, um die Genauigkeit der Optimierung zu erhöhen, bei gleichzeitiger Reduktion des Rechenaufwands.[2]

Basierend auf einer mehrdimensionalen Zielfunktion werden die Optima von Kosten und Kohlenstoffdioxid-Emissionen ermittelt. Zusätzlich wird eine Sensibilitätsanalyse durchgeführt, um herauszufinden, welche Parameter den grössten Einfluss auf die Ergebnisse der Simulation haben. Wie erwähnt, wird diese Berechnungsmethode für zwei Schweizer Fallstudien angewendet: für Zernez und Altstetten. In beiden Fällen zeigen erste Resultate eine dominante Rolle des Wärmeverbrauchs beim Gebäudesektor, aber auch ein signifikantes Potenzial für die Elektrifizierung, z.B. mit Wärmepumpen. Power-to-Gas-Systeme sind interessanter für Zernez im Gegensatz zu Altstetten, da in Zernez höhere Anteile an günstiger und saisonal schwankender erneuerbarer Energie vorhanden sind, vorwiegend Wasserkraft.

Technologie-Modellierung

Das optimale Design, der Betrieb und die Regelung des Multi-Energy-Hubs erfordern eine Reihe von Vereinfachungen, um das Verhalten der berück­sichtigten Umwandlungs- und Speicher­technologien zu beschreiben. Bis heute wird in diesem Kontext oft nur eine stark vereinfachte Beschreibung der Komponenten verwendet, was zu unrea­listischen Werten führt und Systemdynamiken missachtet. Hier hingegen wird eine verlässliche Methode basierend auf thermodynamischen Modellen entwickelt, um die Leistung und das dynamische Verhalten der berücksichtigten Technologien (BHKW und Power-to-Gas) exakt zu beschreiben.[3] Diese Modelle wurden durch das Nutzen experimenteller Daten aus der Literatur bzw. von Herstellern validiert.

Da solch detaillierte Modelle nicht für den Gebrauch im Gesamt­optimie­rungs­rahmen geeignet sind, wurden passende Reduced-Order-Modelle entwickelt, um die Hauptmerkmale dieser Technologien bei gleichzeitigem Erhalt einer akzeptablen rechnerischen Komplexität zu erfassen. Folglich erlaubt die entwickelte Methode Einblicke zum Einfluss verschie­dener Modellierungs­annähe­rungen auf das Design des Multi-Energy-Hubs, die Identifizierung eines geeig­neten Detailgrads für die Modellierung von Umwandlungs- und Speichertechnologien bei ­Multi-Energy-Hubs, sowie die Identifizierung der grössten technischen Barrieren für den Einsatz solcher Systeme in der aktuellen Energielandschaft.

Netz-Analysen

Die Interaktionen zwischen den verschiedenen Energieträgern benötigen eine integrierte Analyse, um die Netzinfrastruktur vollständig abzubilden. Nach der Bestimmung des Energiesystems mit Produktion, Verbrauch und Netzelementen werden die Energieflüsse an jedem Knotenpunkt des Systems bestimmt. Im Gasnetz wird die Kontinuität von Gasflüssen und Kreislaufdruckgleichungen genutzt, um die Beziehungen zu ermitteln, die das physische Verhalten des Systems bestimmen. Heizungsnetze besitzen die gleichen Merkmale, womit deren Analyse auf gleicher Basis der Erhaltung von Massenfluss und Summe der Verluste (Druckschwankungen) entlang des gesamten Netzwerks durchgeführt werden kann.

Für die Zernez-Fallstudie wurde ein Beispielmodell des lokalen Energienetzes erstellt. Da die Daten für das reale Netz zum Zeitpunkt der Erstellung nicht verfügbar waren, wurden die Parameter von ähnlich grossen Schweizer Orten zur Berechnung des elektrischen Modells herangezogen. Zusätzlich wurde ein Modell des Gasnetzes erstellt, um die Interaktionen zwischen Elektrizität und Gas/Wärme zu veranschaulichen, die durch Umwandlungstechnologien entstanden sind.[4]

Regelstrategie

Als effiziente Online-Regelstrategie wird eine modell-prädiktive Regelung eingesetzt. Dieses Regelkonzept erlaubt es, den Energiefluss im komplexen System des Energy-Hubs kostenoptimal unter Einhaltung der Einschränkungen der Technologien sowie der Komfortanforderungen in den Gebäuden zu regeln. Die aktuelle Literatur zeigt, dass diese Konzepte erhebliche Energieeinsparungen im Bereich der Gebäuderegelung ermöglichen können.[5]

Die für die modell-prädiktive Regelung grundlegenden Modelle der Dynamiken und Beschränkungen der Speichermedien, Erzeugern sowie Energiewandlern werden als linear angenommen. Die Temperaturausbreitung in den einzelnen Gebäuden kann als bilineares Modell beschrieben werden.

Eine der grössten Herausforderungen der Energy-Hub-Regelung ist es, trotz äusseren Einflüssen wie z.B. dem Wetter, welches sowohl den Energieverbrauch als auch die Energieerzeugung im Hub wesentlich beeinflusst, eine effiziente Regelung zu garantieren. Um dies zu erreichen, betrachtet die Online-Regelung das Wetter als stochastische Störgrösse, im Gegensatz zum deterministischen Ansatz im Design. Diese setzt sich aus der deterministischen Wettervorhersage von nationalen Wetterdiensten wie Meteo Schweiz sowie einem stochastischen Fehlerterm zusammen. Basierend auf historischen Wetterdaten wird die Fehlergrösse als autoregressives System erster Ordnung modelliert. Das resultierende stochastische mehrstufige Optimierungsproblem wird unter Ausnutzung von Approximationen der optimalen Lösung sowie Methoden der robusten Optimierung gelöst. In beiden Fallstudien, die im Rahmen des Projektes untersucht werden, kann gezeigt werden, dass das Einbeziehen von Unsicherheiten bei den Eingangsgrössen eine grosse Rolle spielt. Der Einbezug von Unsicherheiten ist bei der Modellierung von Energy-Hub-Systemen von grosser Bedeutung.

Ökonomischer Rahmen

Bereits heute existieren erneuerbare, dezentrale Lösungen («Multi-Energy- Hubs») zur Versorgung von Gebäuden und Arealen, die der konventionellen Versorgung ökonomisch oder ökologisch überlegen sind. Gewisse ­Technologie­konfigurationen übertrumpfen die etablierten Versorgungslösungen sogar in beiden Bereichen. Zusätzlich spielt die Eigenversorgungsquote eine Rolle, bei der Energie lokal erzeugt, gespeichert und kon­sumiert wird und damit die zentrale Infrastruktur wesentlich seltener genutzt wird. In Extremfällen kann das bis zu einer Eigenversorgungsquote von 100% reichen, wo sich Gebäude energetisch vollständig autark versorgen. Eine solche Auslegung und der Betrieb der jeweiligen Technologiekonfiguration übersteigt die Kosten zur konventionellen Versorgung aktuell allerdings um ein Zwei- bis Dreifaches. Die Kostendegression durch Lerneffekte der Technologien [6] sowie die potenzielle Entwicklung der Marktparameter (wie Strom, Öl- und Gaspreise) [7] kann die ökonomische Situation aber mittel- und langfristig zugunsten der dezentralen Lösungen verändern.

In der Praxis können bereits heute viele solcher Multi-Energy-Hubs beobachtet werden, welche unsere theoretischen Projektergebnisse stützen. Weltweit gibt es zunehmend Projekte für solche dezentralen Lösungen, die sich in Technologiespektrum, Anwendungszweck und Zielsetzung unterscheiden.

Gesellschaftliche Perspektive

Da sich Multi-Energy-Hubs jedoch in einem frühen Entwicklungsstadium befinden, gibt es wenig Forschung über die Bereitschaft, solche Systeme in bestehenden Nachbarschaftskontexten zu etablieren. Trotzdem ist es wichtig zu wissen, wie ein solches System verschiedener Technologien angenommen würde, um das Replikationspotenzial in verschiedenen Kontexten abschätzen zu können.

Es werden unterschiedliche Erhebungsmethoden verwendet, um die potenzielle Akzeptanz solcher Systeme abzuschätzen. Mit einer Umfrage in der Schweiz, in Deutschland und Österreich wurde die potenzielle Rolle von Mietern und Hauseigentümern bei der Umsetzung eines Energy-Hubs in ihrer Nachbarschaft sowie die generelle Wahrnehmung der Chancen und Herausforderungen eines solchen Systems untersucht. Zudem haben die Teilnehmer verschiedene Akteure in Bezug auf ihre wahrgenommene Verantwortung für die Umsetzung von Massnahmen für die nationale Energiestrategie bewertet. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Teilnehmer die Idee eines Energy-Hubs mögen und dessen Implementierung grundsätzlich befürworten. Sie sehen dabei sowohl Chancen als auch Herausforderungen für sich, wobei im Durchschnitt die Chancen höher bewertet werden. Es wird aber auch deutlich, dass die Teilnehmer die Verantwortung für die Umsetzung der Systeme auf nationaler Ebene verorten; das heisst, sie sehen eher die Bundesebene und die grossen Energieversorgungsunternehmen bei der Finanzierung, der Infrastruktur und der Steuerung der Energy-Hubs als zuständig an. Gemeinden und Haushalten wird aktuell keine aktive Rolle zugeschrieben.[8]

Fazit

Die Energiesysteme der Zukunft mit einem verstärkten Einsatz dezentraler Energieanlagen im Verteilnetz ergeben viele Herausforderungen, aber auch Chancen. In diesem Forschungsprojekt werden die Zusammenhänge holistisch untersucht und Werkzeuge geschaffen, um die Effekte sowohl technisch wie auch ökonomisch und gesellschaftlich analysieren zu können. Dies soll den Akteuren und Entscheidungsträgern ermöglichen, die Zu­kunft der dezentralen Energiesysteme besser zu verstehen, um sie planen zu können.

Referenzen

[1] K. Orehounig, R. Evins, V. Dorer, «Integration of decentralized energy systems in neighbourhoods using the energy hub approach», Appl. Energy. 154, 2015, S. 277–289. doi:10.1016/j.apenergy.2015.04.114.

[2] P. Gabrielli, M. Gazzani, E. Martelli, M. Mazzotti, «Optimal design of multi-energy systems with seasonal storage», Appl Energy, 2017. doi:http://dx.doi.org/10.1016/ j.apenergy.2017.07.142.

[3] P. Gabrielli, B. Flamm, A. Eichler, M. Gazzani, J. Lygeros, M. Mazzotti, «Modeling for optimal operation of PEM fuel cells and electrolyzers», 2016 IEEE 16th Int. Conf. Environ. Electr. Eng., IEEE, 2016, S. 1–7.
doi:10.1109/EEEIC.2016.7555707.

[4] G. Beccuti, T. Demiray, «Operational Optimisation for Multi-Carrier Networks», Powertech 2017, Manchester, 18–22 June 2017.

[5] G. Darivianakis, A. Georghiou, R.S. Smith, J. Lygeros, «A stochastic optimization approach to cooperative building energy management via an energy hub», IEEE Conf. Decis. Control, 2016, S. 7814–7819. doi:10.1109/CDC.2015.7403455.

[6] O. Schmidt, A. Hawkes, A. Gambhir, «The future cost of electrical energy storage based on experience rates», Nat. Energy. 2, 2017, S. 1–8.
doi:10.1038/nenergy.2017.110.

[7] US Department of Energy, Annual Energy Outlook 2015. doi:DOE/EIA-0383(2013).

[8] R. Seidl, T. von Wirth, A. Stefanelli, «Local acceptance of distributed energy systems in energy systems transformations», Paper presented at the 8th International Sustainability Transitions Conference, 18–21 June, 2017, Gothenburg, Sweden.

Diese Forschung wird vom Schweizerischen Nationalfonds im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms «Energiewende» (NFP 70) unterstützt. Eine vollständige Übersicht aller projektbeteiligten Personen finden Sie unter: www.esc.ethz.ch/research/research-projects/imes/people.html.

Autor
David Grosspietsch

promoviert am Departement Management, Technologie und Ökonomie.

  • ETH Zürich, 8092 Zürich
Autor
Paolo Gabrielli

promoviert an der Maschinenbau-Abteilung.

  • ETH Zürich, 8092 Zürich
Autor
Portia Murray

ist Doktorandin am Bauphysik-Departement.

  • ETH Zürich, 8092 Zürich
Autorin
Dr. Annika Eichler

forscht am Regelungstechnik-Labor.

  • ETH Zürich, 8092 Zürich
Autor
Dr. Giovanni Beccuti

forscht am Energy Science Center.

  • ETH Zürich, 8092 Zürich
Autor
Dr. Roman Seidl

forscht am Institut für Umweltentscheidungen.

  • ETH Zürich, 8092 Zürich
Autor
Dr. Christian Schaffner

leitet das Energy Science Center (ESC) der ETH Zürich.

  • ETH Zürich, 8092 Zürich

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