Mobilität in Bewegung
Wie fährt die Schweiz in die Zukunft?
Mehr Staus, überfüllte Züge und Verkehrsengpässe: Die Mobilitätsbedürfnisse gefährden die Schweizer Energie- und Klimaziele. Elektrifizierung, Automatisierung und Flexibilisierung könnten die Nachfrage energieeffizienter befriedigen.
Das Verkehrssystem stösst zunehmend an seine Grenzen. «Verkehr vor dem Kollaps», titelte die Zeitschrift «Beobachter» im Februar. Die Statistik untermauert den Befund: 24 066 Stunden sassen Herr und Frau Schweizer 2016 im Stau. Das sind doppelt so viele Stunden wie noch sieben Jahre zuvor. Rund um Genf steht jeder Erwachsene durchschnittlich sechs Tage pro Jahr im Stau. Die Lage im öffentlichen Verkehr (ÖV) ist ähnlich: Die SBB transportieren täglich 1,25 Millionen Menschen. Der aktuelle Trend wird sich fortsetzen: Das Bundesamt für Raumentwicklung prognostiziert bis 2040 15 bis 20% mehr Individualverkehr und 20 bis 35% mehr Frachtverkehr.
Entkarbonisierung als Herkulesaufgabe
Konstantinos Boulouchos ist Professor am ETH-Institut für Energietechnik und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von Bundesrätin Doris Leuthard in Energiefragen. Seit über 20 Jahren forscht er zugunsten nachhaltiger Energie- und Verkehrssysteme; derzeit auch als Leiter des vom Bund geförderten Forschungszentrums «SCCER Mobility». Was ihm nachts den Schlaf raube, sei weniger der Mobilitätszuwachs per se, sagt Boulouchos, sondern die Frage, wie es gelingen wird, die Mobilität zu entkarbonisieren. «Wir müssen in einer verhältnismässig kurzen Periode von 40 Jahren auf null Prozent fossile Energieträger kommen.» Also kein Benzin, Diesel oder Erdgas in unseren Tanks mehr. So will es der Klimavertrag von Paris, den die Schweiz 2015 mitunterzeichnet hat. Der Verkehr ist in der Schweiz für rund einen Drittel der Treibhausgasemissionen verantwortlich (ohne internationale Luftfahrt). 70% davon fallen auf den motorisierten Individualverkehr. «Die Mobilität ist im Vergleich mit den beiden anderen energieintensiven Sektoren, Gebäude und Strom, eindeutig am schwierigsten zu entkarbonisieren», so Boulouchos. «Denn die Personenmobilität ist ein Konsumgut; die Menschen entscheiden nicht rational.» Viel stärker als Stromquellen oder Häuser seien Autos mit Emotionen verbunden. Grosse Motoren und schwere Karosserien sind «in» – auch wenn dies energetisch und finanziell meist keinen Sinn macht. Der Güterverkehr wiederum ist eng mit dem Wirtschaftswachstum verbunden. Niemand will diesem den Hahn zudrehen.
Langsamverkehr ist keine Lösung
Wo also beginnen, um die Herkulesaufgabe eines energieeffizienten und klimafreundlichen Mobilitätssystems zu meistern? Viele Städte entdecken derzeit den Langsamverkehr (LV) neu. Kopenhagen ist dabei ein Vorreiter: In Dänemarks Hauptstadt kommen auf jedes Auto fünf Velos. 41% der Fahrwege zur Arbeit oder zum Studium wurden 2016 mit dem Fahrrad zurückgelegt – bis 2025 sollen es laut Stadtverwaltung 50% sein. Ist das Kopenhagener Modell die Lösung für unsere Mobilitätssorgen?
Boulouchos winkt ab: Sein Team hat den möglichen Beitrag des LV für die Schweiz berechnet; basierend auf Mobilitätsdaten des fünfjährlichen Mikrozensus des Bundes mit 65000 Akteuren. Die Forschenden berechneten, wie viel CO2-Emissionen eingespart werden könnten, wenn sämtliche Wege unter 5 km mit dem Velo und solche unter 10 km mit einem E-Bike zurückgelegt würden. Das theoretische CO2-Einsparpotenzial liegt zwischen 8% (normales Fahrrad) und 19% (E-Bike). Doch mit offensichtlichen Einschränkungen wie Alter oder wetterbedingtem Fahrverhalten landet man bei 2,9 bis 7,7%. «Das heisst nicht, dass man den LV deshalb nicht fördern sollte», so Boulouchos. «Aber die sehr vielen durch LV substituierten kurzen Strecken fallen in der energetischen Gesamtbilanz nicht wirklich ins Gewicht.»
Die Forschenden haben auch den ÖV angeschaut. Sie berechneten die Wirkung, wenn in den fünf grössten Metropolregionen 100% der Pendler die Bahn nutzen würden. 16% der Schweizer CO2-Emissionen aus dem Verkehr könnten dadurch eingespart werden. Doch dafür müssten die SBB ihre Kapazitäten um 50% erhöhen. «Die Investitionen wären im Verhältnis zu den erzielten CO2-Reduktionen enorm», gibt Boulouchos zu bedenken.
Elektrifizierung – ja, aber …
In der Schweiz werden heute rund 10% der Wege mit LV, 15% mit dem ÖV und 75% mit dem Auto zurückgelegt. Die Elektrifizierung des motorisierten Individualverkehrs gilt deshalb vielen als Königsweg für eine nachhaltige Mobilität. Die Technologie macht Fortschritte, die Batterien werden leistungsstärker und Pilotprojekte machen zunehmend von sich reden. In Genf fährt seit Dezember 2017 der Elektrobus Tosa. Er wird an den Haltestellen innert 15 s nachgeladen. Trotzdem kommt die Elektromobilität in der Schweiz nur zögerlich aus den Startlöchern: Zwar wurden 2017 fast 45% mehr Elektroautos verkauft als im Vorjahr, doch von den 4,6 Millionen Personenwagen sind bis heute gerade Mal 13000 reine Elektro- und 69000 Hybridfahrzeuge.
Eine Elektrifizierung des Verkehrs werde noch Jahrzehnte dauern, ist Boulouchos überzeugt. Seine Kollegen und Kolleginnen am «SCCER Mobility» haben berechnet, dass für die vollständige Elektrifizierung des heutigen Individualverkehrs zusätzlich rund ein Viertel des in der Schweiz konsumierten Stroms nötig wäre. Künftig wird es noch schwieriger: Durch den prognostizierten Zuwachs an gefahrenen Kilometern in den nächsten 30 Jahren werden zusätzlich 15 TWh Strom nötig. Gleichzeitig fallen jedoch 24 TWh weg, weil die Atomkraftwerke vom Netz gehen. «Das heisst inklusive der längerfristigen Elektrifizierung des Individualverkehrs bräuchten wir 39 TWh neuen Strom – also zwei Drittel des heutigen Verbrauchs», erklärt Boulouchos. «Das ist in den nächsten 20 Jahren schlicht illusorisch.» Denn Strom aus Wasserkraftwerken lässt sich nur bedingt ausbauen – und Wind und Sonne trugen 2016 erst 0,19%, respektive 2,27% zum Schweizer Elektrizitätsmix bei. Und Strom aus dem Ausland zu importieren, ist im Hinblick auf den Klimaschutz wenig sinnvoll: Noch immer stammen 65% aus fossilen Quellen, vor allem aus Kohlekraftwerken.
Boulouchos plädiert deshalb für die Übergangszeit bis zum sauberen Strom für zwei Sofortmassnahmen: Erstens sollte der Anteil an Hybridantrieben stark erhöht werden. Dadurch liessen sich die CO2-Emissionen um mindestens einen Viertel senken. Zweitens sollten Autofahrer von Erdöl auf das weniger klimaschädliche Erdgas umsteigen. Alleine dadurch liessen sich die CO2-Emissionen um weitere 20% reduzieren. Der Infrastrukturaufwand für die Etablierung von Gas-Zapfsäulen läge zudem deutlich unter demjenigen der flächendeckenden Elektrifizierung. In Kombination mit besserer Aerodynamik, Leichtbau und weniger starker Motorisierung könnten die CO2-Emissionen aus dem motorisierten Individualverkehr halbiert werden, so Boulouchos. Die Elektromobilität würde nach dieser Übergangsphase vor allem längerfristig relevant.
Monumental vs. multimodal und dezentral
Visionäre, wie der Tesla-Gründer Elon Musk, sind davon überzeugt, dass es für die Mobilität der Zukunft neue Verkehrssysteme braucht. Deshalb schrieb Musk 2015 die «Hyperloop Pod Competition» aus. Seine Idee: Mit Strom betriebene Transportkapseln, die mit über 1000 km/h durch Vakuumröhren sausen, sollen die wichtigsten städtischen Knoten verbinden. Unter dem Namen «Swissloop» macht auch ein Studententeam der ETH Zürich mit. Letztes Jahr belegte es den dritten Platz und konnte sich für das Finale in Los Angeles diesen Sommer qualifizieren. Auch der «EPFLoop», der Beitrag der Lausanner ETH, hat sich für das Finale der Top-20-Teams in Kalifornien qualifiziert.
Das globale Medienecho bezüglich Hyperloop ist enorm. Doch könnte ein solches Schnelltransportsystem tatsächlich eine Lösung für die Schweizer Mobilitätsengpässe sein? «Hyperloop ist für uns keine relevante Technologie», winkt Boulouchos ab. Die Investitionskosten wären enorm und die Energiesparpotenziale seien noch weitgehend ungeklärt. «Was mich beschäftigt, sind die Leute, die ihre Kinder am Morgen mit dem SUV in die Kita bringen und übers Wochenende zum Surfen nach Sils Maria fahren. Da hilft uns ein Hyperloop nicht weiter.» Denn der Hauptanteil der Mobilitätsnachfrage fällt heute nicht auf die Arbeitswege (24%), sondern mit 44% der Tagesdistanzen auf den Freizeitverkehr.
Die Forschenden des SCCER Mobility erkennen Lösungen deshalb weniger in Projekten wie Hyperloop oder «Cargo sous Terrain» (eine U-Bahn für den Frachtverkehr), sondern vielmehr in der Individualisierung, Multimodalisierung und Flexibilisierung der Mobilität. Grundlage dafür ist die Digitalisierung: «Wir haben heute eine komplett neue Situation, was die Verfügbarkeit von Daten zum Mobilitätsverhalten angeht», erzählt David Jonietz, Leiter des «Mobility Information Engineering Lab» (MIE Lab) der ETH Zürich. Seit beinahe jeder und jede ein Smartphone und damit auch einen GPS-Empfänger mit sich rumtrage, sei die Verfügbarkeit von räumlich-zeitlichen Daten explodiert. Jonietz und sein Team nutzen diese, um über Machine Learning und Data Mining neue Erkenntnisse zum Mobilitätsverhalten zu gewinnen und das Verhalten von Verkehrsteilnehmenden in Richtung Nachhaltigkeit zu lenken. Im soeben abgeschlossenen Projekt «GoEco!» statteten die Wissenschaftler 400 Freiwillige aus Zürich und dem Tessin mit einer App aus, die deren Mobilitätsverhalten während dreimal sechs bis acht Wochen minutiös aufzeichnete. Aus den GPS-Daten und zusätzlichen Angaben zur Person berechnete ein eigens entwickeltes System den Energieverbrauch und die CO2-Emissionen der zurückgelegten Kilometer. Darauf basierend machte das System Vorschläge für nachhaltigere Alternativen. Zudem konnten sich die Teilnehmenden über die App in einem Spiel untereinander messen und Punkte sammeln, abhängig davon, ob und wie oft sie das Auto, den Zug oder das Fahrrad nutzten. «Gamification», heisst das unter Experten. «Wir konnten vor allem bei regelmässig begangenen, planbaren Wegen, wie beim Pendeln, signifikante Verhaltensänderungen der Teilnehmenden über die Zeit beobachten.» Derzeit werten die Forschenden die «GoEco!»-Daten aus.
Auch die Transportunternehmen haben die Zeichen der Zeit erkannt. Sie erweitern ihr Angebot hin zu «Mobility as a Service». Nicht mehr Bahn- oder Busfahrten werden künftig verkauft, sondern Gesamtlösungen für die Mobilitätsbedürfnisse der Kunden. Die SBB führten deshalb mit Hilfe des MIE Labs einen Pilotversuch durch: 140 Freiwillige erhielten ein 1.-Klasse-GA, einen kleinen Elektrowagen mit Parkiermöglichkeiten am Bahnhof und eine Mitgliedschaft bei einem Carsharing- und Bikesharing-Unternehmen. Im Gegenzug liessen sie über eine App ihr Mobilitätsverhalten ein Jahr lang aufzeichnen und stellten die Daten dem MIE Lab zur Auswertung zur Verfügung. Der Pilot wurde im Februar abgeschlossen. Auch hier fehlt die quantitative Auswertung noch. Aber der Vergleich des Mobilitätsverhaltens vor und während dem Pilot zeigt laut Jonietz eine deutliche Reduktion der produzierten CO2-Emissionen. Die SBB führen den Versuch nun mit E-Bikes und 2.-Klasse-GAs weiter.
Automatisierung und mehr Individualverkehr?
Die Elektrifizierung und Digitalisierung der Mobilität treffen derzeit noch auf einen weiteren Megatrend: die Automatisierung. Autokonzerne und Techgiganten wie Google, Uber und Baidu entwickeln selbstfahrende Fahrzeuge. Alleine 2016 fuhren die Autos von Waymo (Googles Tochterunternehmen) über eine Million Kilometer auf Kaliforniens Strassen; 49% mehr als im Vorjahr. Die Anzahl Vorfälle, bei denen ein Fahrer eingreifen musste, fiel in der gleichen Zeit von 341 auf 124. Damit verbunden sind hoffnungsvolle Aussichten: Anstatt alleine in einem schweren SUV zur Arbeit zu fahren, der jährlich Tausende von Franken für Benzin und Wartung verschlingt, pendeln Verkehrsteilnehmende der Zukunft in Elektromobilen, die über eine zentrale App so organisiert werden, dass sie stets in Bewegung und gefüllt sind. Dan Sperling, Gründungsdirektor des Institute of Transportation Studies an der University of California, geht davon aus, dass künftig 30 bis 80% der Fahrten mit solchen Mobilitätsdienstleistungen zurückgelegt werden und dadurch etwa ein Viertel weniger Autos unterwegs sein wird.
Konstantinos Boulochos warnt jedoch vor zu hohen Erwartungen: «Wenn eine Dienstleistung sehr bequem und billig ist, dann wird sie auch stärker nachgefragt.» Dadurch würden neue Anreize geschaffen, um zum Beispiel in der Agglomeration zu wohnen und zur Arbeit in der Stadt zu pendeln. Das führt wiederum zu mehr Verkehr, mehr Energienachfrage und mehr CO2-Emissionen. Gleichzeitig könnte der ÖV konkurrenziert werden, der punkto Nachhaltigkeit dem Individualverkehr auch in Zukunft überlegen sein wird.
Um Fehlanreize auszumerzen, plädiert Boulouchos für Mobility Pricing und eine CO2-Abgabe auf Treibstoffe. Damit würden Autofahrer die ökologischen und gesundheitlichen Kosten ihrer Mobilität tragen. Und Bahnfahrer würden sich stärker an den tatsächlichen Kosten der zurückgelegten Kilometer beteiligen (heute mit 60% vom Bund subventioniert). Deshalb sei nun die Politik gefragt. «Derzeit sehe ich jedoch noch eine ziemliche Baustelle», sagt der Experte. «Es wird zwar an vielen Teilaspekten gearbeitet, jedoch ohne dass das Gesamtsystem über verschiedene Sektoren hinweg betrachtet wird.»
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