Fachartikel Erneuerbare Energien , Konventionelle Kraftwerke

Mit Wasserkraft zur Ver­sorgungs­sicher­heit

Winterreserve

02.02.2022

Eine Kapazitäts­reserve stellt sicher, dass immer genügend inlän­­dische Produk­tion vorhanden ist, um die elektrische Versor­gungs­sicher­heit auch in Extrem­szena­rien zu gewähr­leisten. Dabei kommt den Speicher­kraft­werken eine  Schlüssel­rolle zu, die sie aus techni­scher Sicht auch erfüllen können. Aber ist das Ganze auch wirtschaftlich?

Wasserkraft stellt heutzutage mit etwa 38 TWh über die Hälfte der in der Schweiz produzierten elektrischen Energie. Knapp 20 TWh stammen dabei aus natürlichen Zuflüssen in die Speicherseen, die knapp 9 TWh für zeitlich flexible Produktion zurückhalten können. Neben dem Beitrag zur übers Jahr gesehen ausgeglichenen Energiebilanz kommt der Wasserkraft aber auch eine Schlüsselrolle für die Versorgungs­sicherheit zu.

Netzsicherheit durch Koordination

Selbst wenn unbegrenzte Importmöglichkeiten aus dem Ausland zur Verfügung stehen würden, muss der Strom noch zu den Schweizer Verbrauchern gebracht werden. Dafür ermöglichen Stromnetze einen Austausch zwischen Gebieten mit hoher Verfügbarkeit günstiger Produktion und Gebieten hoher Nachfrage. Durch die Energiewende kommt es auf allen Netzebenen zu Veränderungen. Während sich im Verteilnetz vor allem durch zunehmende Elektrifizierung, Elektromobilität und dezentrale Erzeugung Herausforderungen ergeben, gehören im Übertragungsnetz Engpässe und deren Management schon heute zu den täglichen Aufgaben. Im Betrieb müssen die Grenzwerte für Leitungsbelastung und Knotenspannung zu jedem Zeitpunkt eingehalten werden. Zusätzlich müssen die Netzgrenzen auch für n-1-Situationen gewährleistet sein, wenn es zu Ausfällen einzelner Netzelemente kommt. Die Einhaltung dieser Grenzwerte erfordert zu be­stimmten Zeiten einen Mindestbeitrag an flexibler Produktion innerhalb der Schweiz, der aktuell nur durch Speicherkraftwerke erbracht werden kann.

Um die Versorgungs­sicherheit auch künftig sicherzustellen, werden begleitend zur Energie­strategie 2050 zahl­reiche akade­mische und anwen­dungs­orientierte Studien durchgeführt.[1] Die Ergebnisse zeigen, dass es grundsätzlich möglich ist, Energiebilanz und Netzsicherheit für viele Szenarien und Entwick­lungs­pfade des Stromnetzes zu gewährleisten, und dabei auch Probleme wie kurzfristige und saisonale Speicherung oder extreme Wetter­lagen (Dunkelflaute) zu lösen.[2] Alle Lösungen erfordern aber gleichzeitig deutliche Veränderungen in Form von Investitionen, neuen Markt­strukturen und regulatorischen Anpassungen. Viele der Studien verfolgen dabei einen koordinierten Ansatz über Referenzjahre, bei dem das Stromnetz und die verfügbaren Kraftwerke in einer koordinierten Optimierung betrieben werden. Umfangreiche Variationen von Nachfrage-, Wetter- und Erzeugungs­szenarien untersuchen, ob die Netz­sicherheit aus technischer Sicht auch in Extremszenarien realisierbar ist.

Entkoppelung von Netzbetrieb und Markt

Ein global und zeitlich optimiertes koordiniertes Vorgehen ist aber nur ein theoretisches Modell. Es wird am ehesten durch einen voll nodalen Energiemarkt mit perfekten Jahresprognosen für Nachfrage, Wetter und Verfügbarkeit erreicht. In der Praxis sind Markt und Netzbetrieb aber strikt getrennt. Im zonalen europäischen Day-Ahead-Energiemarkt können Kraftwerksbetreiber nach eigenem Ermessen Gebote abgeben und müssen lediglich eigene betriebliche Rand­bedingungen berücksichtigen. Gebote werden anhand von Markt­modellen und Preisprognosen optimiert. Die Netzsicherheit wird dabei nur beim Handels­austausch zwischen den Zonen berücksichtigt.

Zwischen vielen Zonen wird dafür schrittweise das sogenannte Flow-Based Market Coupling eingeführt, welches den Handels­austausch aller teilnehmenden Partner effizient im Rahmen der technischen Netzkapazitäten koordiniert. Für die Schweiz kommt aber weiterhin die sogenannte ATC-Methodik (Available Transfer Capacity) zum Einsatz, die den Energieaustausch zwischen je zwei benachbarten Han­dels­partnern konservativ begrenzt. Eine Verschärfung der minRAM-Anforderung, bei der eine bestimmte Mindestkapazität der Leitungen innerhalb des europäischen Markts zur Verfügung stehen muss, kann künftig sogar zu weiteren Import­beschrän­kungen für die Schweiz führen.[3]

Im Nachgang der Day-Ahead-Transaktionen wird das Marktergebnis von allen Übertra­gungs­netz­betreibern simuliert und bei Bedarf durch eine Fahr­plan­anpas­sung (Redispatch) korrigiert, um die Netzsicherheit zu gewährleisten. Voraussetzung ist aber, dass genügend inländische Produk­tions­leistung verfügbar ist, um die Nachfrage im Markt zu decken oder im Nachgang den Redispatch durchzuführen. Die Situation kann durch verschiedene Faktoren verschärft werden, z. B. durch steigende Nachfrage, Nichtverfügbarkeit oder Ausser­betrieb­nahme der Kernkraftwerke, wetterbedingt geringe Produktion durch Lauf­wasser­kraftwerke und verzögerten Netzausbau.

Kapazitätsreserve durch Wasserkraft

Für die Zukunft ergibt sich die Frage, ob und wie viel Wasser über das Jahr und speziell in den Wintermonaten in den Speicher­kraftwerken als Kapazitäts­reserve vorhanden sein muss (seit dem Winter 2015/16 auch bekannt als «Winterreserve»). Um diese Frage fundiert zu beantworten, wurde in einer Studie im Rahmen des Kompetenzzentrums SCCER-FURIES eine Methodik entwickelt, die den Bedarf für eine Kapazitäts­reserve durch Schweizer Speicher­kraftwerke ermittelt und die wirtschaft­lichen Auswir­kungen abschätzt.[4]

Die Analyse orientiert sich an der aktuellen Trennung von Netzbetrieb und Markt. Ein erster Schritt untersucht die möglichen Betriebs­bereiche und Grenzen des Schweizer Stromnetzes und ermittelt die minimal nötige Produktion durch Speicher­kraftwerke, wenn nicht genügend Importe möglich sind. Dabei werden nicht einzelne Zeitpunkte simuliert, sondern der Produk­tionsbedarf in Abhängigkeit von Betriebsvariablen wie Netzlast, fixer Produktion durch Laufwasser- und Atomkraftwerke sowie Transitflüsse bestimmt. Anhand der historischen oder erwarteten Verteilung der Betriebsvariablen kann der monatliche Speicherbedarf abgeleitet werden, ohne für jede Stunde eine separate Netzsimulation durchzuführen.

Ein zweiter Schritt simuliert die markt­basierte Speicher­bewirt­schaf­tung  der Produktion und Pumpen durch die Kraftwerksbetreiber. Dabei werden Prognosen für die Verteilung von Strompreis und Speicherzuflüssen berücksichtigt. Ein iteratives Vorgehen ermöglicht zudem die Reaktion auf Prognose­ungenauig­keiten. Durch eine Sensitivitäts­analyse kann der jährliche Ertrag und die erwartete wirtschaft­liche Auswirkung einer Kapazitäts­reserve für die Kraft­werks­betreiber ermittelt werden.

Die Ergebnisse bilden eine Grundlage zur Entwicklung einer möglichen Kapazitäts­reserve durch Speicher­kraftwerke sowie deren Umsetzung.

Kapazitätsbedarf aus Netzsicht

Basis der Analyse ist ein detailliertes Modell des Schweizer Höchst­spannungs­netzes (Einstiegsbild), einschliesslich der Grenzleitungen zu den Nachbarländern, deren Netze vereinfacht abgebildet sind. Neben der Topologie und den Grenzwerten für Leitungsstrom und Spannung enthält das Modell eine Aufteilung der Lasten und verschiedener Kraftwerke auf die einzelnen Netzknoten.

Die Kennzahlen der Wasser­kraft­werke wie Leistung, Speicherkapazität und Zuflüsse entsprechen der Schweizer Elektrizitäts­statistik. Die fixen Einspei­sungen durch Atom- und Lauf­wasser­kraftwerke werden in verschiedenen Szenarien untersucht. Im ersten Schritt der Analyse wird die Schweizer Netzlast und der Export Richtung Italien systematisch variiert. Die Produktion durch Photovoltaik und andere verteilte Erzeugungs­anlagen wird dabei als Teil der Nettolast modelliert. Um den jeweils minimalen Produktionsbedarf durch Speicher­kraftwerke zu bestimmen, versucht die Optimierung zunächst den über die fixe Erzeugung hinaus­gehenden Energiebedarf durch Importe aus dem Norden zu decken. Nur wenn das nicht möglich ist, werden die flexiblen Wasser­kraft­werke eingesetzt.

Bild 1 zeigt als Beispiel die minimale Produktion aus Speicher­kraft­werken für das Basisszenario mit fixen Einspeisungen von 500 MW durch Lauf­wasser­kraft und 2645 MW durch Kernenergie. Je höher die Schweizer Netzlast und der Export nach Italien ausfallen, desto mehr inländische Produktion aus Speicherseen wird ergänzend zur fixen Erzeugung und dem Import aus dem Norden benötigt. Bei niedriger Last ist hingegen keine zusätzliche Produktion notwendig, denn die benötigte Leistung kann komplett durch fixe Produktion und Importe aus dem Norden gedeckt werden.

Für einzelne Werte des inländischen Strombedarfs und den Export nach Italien kann man die minimal benötigte Produktion aus Speicher­kraftwerken direkt ablesen beziehungs­weise interpolieren.

Bild 2 zeigt die resultierende minimale Produktion aus Speicherkraftwerken bei wiederholter Anwendung des Verfahrens auf die Zeitreihen für Strombedarf und Export nach Italien entsprechend der Schweizer Energieübersicht 2019. Es ist ersichtlich, dass die Speicherkraftwerke vor allem in den Wintermonaten benötigt werden. Im Sommer kommt man aus Netzsicht häufig ohne zusätzliche Energie aus Speicherkraftwerken aus.

Für die Auslegung einer Kapazitätsreserve durch die Speicherkraftwerke ist die genaue Zeitreihe nicht entscheidend, sondern die Verteilung des Bedarfs über das Jahr. Entsprechend kann die minimal erforderliche Produktion über jeden Monat summiert werden. Der resultierende Verlauf des nötigen Energiebedarfs der Speicherkraftwerke ist in Bild 3 für verschiedene durchschnittliche Leistungen aus Laufwasserkraft dargestellt.

Während die erwartete fixe Produktion durch Kernkraft bekannt ist, kann die Laufwasserproduktion je nach Wetterverlauf deutlich variieren und führt zu unterschiedlichen Verläufen der Kapazitätsreserve.

Der höchste Bedarf für eine Kapazitätsreserve entsteht jeweils im Januar und beträgt je nach Leistung aus Laufwasserkraft zwischen 1,2 und 2,7 TWh. Bild 3 zeigt ausserdem die gleichen Ergebnisse auch für die Situation ohne fixe Einspeisung aus Atomkraftwerken, z. B. durch Nichtverfügbarkeit oder Ausserbetriebnahme der Kraftwerke. Dabei erhöht sich der Bedarf deutlich, im Januar je nach Leistung aus Laufwasserkraft auf 2,0 bis 3,6 TWh.

Speicher­bewirt­schaf­tung und Kosten

Für die Simulation der Speicher­bewirt­schaf­tung wird ein iterativer Prozess verwendet.

Grundlage ist ein einfaches Speichermodell mit Leistungen für Erzeugung, Pumpen und Speicherkapazität sowie den minimalen Füllständen und dem Verlauf der Kapazitätsreserve.

Ausgangspunkt für die Planung ist eine Prognose der Preisverteilung und der saisonalen Zuflüsse über das Jahr. Darauf basierend wird durch eine Optimierung ein Gebotspreis für Erzeugung oder Pumpen ermittelt, der gleichzeitig den erwarteten saisonalen Zufluss und Preistrend berücksichtigt. Da die Pro­gnosen mit Unsicherheiten behaftet sind, wird das Ergebnis wochenweise aktualisiert und der Planungs­horizont entsprechend verschoben.

Bild 4 zeigt den resultierenden Verlauf der gesamten verfügbaren Energie der Speicherkraftwerke für die simulierte Bewirtschaftung mit den Day-Ahead-Strompreisen und Zuflüssen des Jahres 2019. Eine minimale Füllstands­reserve von knapp 2 TWh wird für das ganze Jahr als Randbedingung verwendet und wirkt durch den Winter bis ins zeitige Frühjahr begrenzend. Über den Sommer wird der Speicher gefüllt, im Winterhalbjahr zügig entladen. Je nach verwendeter Prognose­genauigkeit variiert der jährliche Gesamt­ertrag aus den Speicherkraftwerken zwischen 800 und 1500 Mio. CHF.

Eine genauere Untersuchung zeigt, dass jede TWh Kapazitätsreserve zu einer Reduktion von 4 bis 6% des Gesamtertrags der Speicherkraftwerke führt, da die verfügbare Flexibilität reduziert ist und die Speicher tenden­ziell zu geringeren Strompreisen pro­duzieren. Bei einem Gesamtertrag der Speicherkraftwerke von 1 Mia. CHF entsprechen 5% Ertragsreduktion jährlichen Kosten von 50 Mio. CHF je TWh Kapazitäts­reserve. Die Analyse wurde für verschiedene Jahre, zahlreiche Prognoseunsicherheiten und Varianten der Verteilung von Preis und Zufluss durchgeführt, ohne zu qualitativen Veränderungen der Ergebnisse zu führen.

Fazit

Die Ergebnisse zeigen, dass aus technischer Sicht den Speicher­kraft­werken genügend Energie in Form von Zuflüssen zur Verfügung steht, um den Bedarf zu decken. Die Netzsicherheit wird allenfalls in Extrem­szenarien ein Problem. Wirtschaftlich verursacht eine Kapazitäts­reserve im heutigen Marktumfeld jedoch signifikante Kosten, die mit alternativen Lösungs­möglich­keiten abzuwägen sind (z. B. Kapazitäts­ausbau der Wasserkraft, Gaskraftwerke, Netzausbau).

Ziel der Untersuchung war die Bestimmung des Mindestbeitrags der Schweizer Speicher­kraftwerke zur technischen Netzsicherheit in Form einer Füllstands­reserve sowie eine erste Kosten­abschätzung.

Die Umsetzung, sei es durch regulatorische Vorgaben, marktbasierte Beschaffung oder kombinierte Ansätze, ist Gegenstand weiterer Unter­suchungen und der politischen Diskussion. In jedem Fall kommt der Wasserkraft langfristig eine Schlüsselrolle für die Versorgungs­sicherheit im Kontext der Energiewende zu.

Referenzen

[1] Förderprogramm SWEET: Überblick der Ausschreibungen 2020–2022, BFE.

[2] «Modellierung der System Adequacy in der Schweiz im Bereich Strom 2019», Universität Basel und ETH Zürich, 2020.

[3] «Analyse Stromzusammenarbeit CH-EU», Frontier economics, 2021.

[4] «Novel computational tools for secure high-performance storage scheduling», SCCER-FURIES Digitalization, ETH Zürich, 2021.

Autor
Dr. Alexander Fuchs

ist Experte für Strom­netz­simu­lation an der Forschungs­stelle Energie­netze der ETH Zürich.

  • FEN (ETH Zürich), 8006 Zürich

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