Fachartikel Märkte und Regulierung , Verbrauch

Mehr Nachhaltigkeit für die Solarindustrie

Erneuerbare Energien

24.08.2018

Am Institute for ICT-Based Management ICTM der Berner Fachhochschule BFH entwickeln Forscher im Rahmen des EU-H2020-Projekts Circusol zusammen mit europäischen Partnern Geschäftsmodelle der modernen Kreislaufwirtschaft für die Solarbranche. Diese soll dank einem innovativen Umgang mit Ressourcen nachhaltiger und wettbewerbsfähiger werden.

Strom aus Photovoltaikanlagen (PVA) deckt rund 4% des europäischen Bedarfs an elektrischer Energie, und das starke Wachstum dürfte anhalten. Technische Fortschritte und sinkende Kosten machen PV-Module und dezentrale Energiespeicher immer günstiger und effizienter. Doch die Branche hat ein Problem: Mit dem Boom des Solarstrommarkts gelangen immer mehr ausrangierte Produkte in den Abfall. Solar-Müll, den niemand will, ist eine ökonomische Verschwendung, eine ökologische Belastung und eine Hypothek für die Solarindustrie, die sich der Nachhaltigkeit verschrieben hat. Es ist wie mit den PET-Flaschen: Theoretisch ist der Kunststoff nahezu unbeschränkt wiederverwertbar, und dennoch fallen jeden Tag Unmengen PET-Gebinde aus dem vorgesehenen Recycling-Kreislauf und landen auf den Müllhalden (Bild 1) oder in den Ozeanen dieser Welt. Gut gemeinte Modelle für den nachhaltigen Umgang mit Ressourcen können in der Realität auch versagen.

Wertstoffe effizienter nutzen

Im Rahmen des Forschungsprogramms «Horizon 2020» der Europäischen Union widmet sich deshalb ein Projekt der Frage, wie die Solarenergie-Industrie ihre Ressourceneffizienz steigern und damit mehr zu einer klimaverträglichen Energiezukunft beitragen kann. Das Projekt Circusol vereint Unternehmen der Solarbranche, der Batterieindustrie und des Energiesektors sowie Hochschulen und Universitäten aus Belgien, Frankreich, Deutschland, Litauen, Spanien und Schweden. Die Schweiz wird durch die Bernischen Kraftwerke (BKW) und die Berner Fachhochschule (BFH) vertreten.

Das Hauptziel ist, für die Solarenergie-Branche zirkuläre Geschäftsmodelle und Lösungen auf der Basis der modernen Kreislaufwirtschaft (Circular Economy) zu entwickeln. Dadurch soll die Ressourceneffizienz signifikant verbessert werden. Ressourceneffizienz ist als das Verhältnis eines bestimmten Nutzens zu dem dafür erforderlichen Einsatz an natürlichen Ressourcen definiert.

Ein Beispiel für zirkuläre Geschäftsmodelle und Lösungen sind performance-orientierte Geschäftsmodelle: Hier erzielt der Hersteller und dann Eigentümer eines Produkts seinen Umsatz durch die Leistung oder Funktionalität, die das Produkt über seine gesamte Lebensdauer erbringt. Er stellt also nicht einfach ein Produkt her und verkauft es, sondern bewirtschaftet es als Dienstleister von der Herstellung bis zum Recycling auf optimierte Weise. Er hat ein grosses Interesse daran, das Leben des Produkts zu verlängern, die nachträgliche Anpassbarkeit und Reparatur der Produkte im Vorfeld zu berücksichtigen und die Wiederverwertung der im Produkt verarbeiteten Wertstoffe zu erleichtern.

Der Endkunde kann von der durch das Produkt erbrachten Leistung (Performance) profitieren. Der Hersteller und Eigentümer kann das Produkt optimal betreiben. Doch solche zirkulären, performance-orientierten Modelle haben auch Nachteile: Der Hersteller hat das Eigentum an diesen Anlagen und entsprechend trägt er das Risiko. Zudem wird Kapital in den Anlagen gebunden, welches eine Rendite erwirtschaften sollte. Zudem sind Endkunden noch wenig geübt im Umgang mit dieser Art von Leistungserbringung – das mentale Modell «nutzen anstatt besitzen», das Kernthema der Sharing Economy, ist in der breiten Gesellschaft noch nicht etabliert.

Am Beispiel von Batterien aus elektrischen Fahrzeugen wird klar, dass ein solches Geschäftsmodell auch in der Energiebranche ein grosses Potenzial zur Effizienzsteigerung und Ressourcenoptimierung birgt: Jedes Jahr wächst die Anzahl der Batterien aus elektrischen Fahrzeugen, die wegen nachlassender Speicherkapazität ersetzt werden (Bild 2). Zirkuläre performance-orientierte Geschäftsmodelle sind Möglichkeiten, wie die Nutzung der Batterien optimiert und die Batterien Weiterverwendungsmöglichkeiten zugeführt werden können. Die Herausforderung dieser innovativen Modelle ist jeweils, dass sich der finanzielle und organisatorische Aufwand im Verlauf des Produktlebens auch bezahlt machen.

Strategien der «Circular Economy»

Moderne Kreislaufwirtschaft ist eine Ergänzung zur traditionellen linearen Ökonomie. Die traditionelle Ökonomie ist geprägt durch das Paradigma von Erzeugung, Nutzung und Entsorgung. In der modernen Kreislaufwirtschaft hingegen werden Wertstoffe so lange wie möglich im Einsatz gehalten. Um diese Wertmaximierung der verwendeten Ressourcen zu ermöglichen, sind bereits bei der Entwicklung eines Produkts entsprechende Vorkehrungen zu treffen. Das Design soll so konzipiert sein, dass das Produkt auf einfache Weise zerlegt, repariert und – aufgewertet – wieder zusammengesetzt werden kann (Design for Remanufacturing, Design for Disassembly). Die Wiederaufarbeitung (remanufacturing) ist die profitabelste Strategie. Ob ein bestimmtes Produkt zur Wiederaufarbeitung geeignet ist oder nicht, hängt von Entscheidungen ab, die in der frühen Phase des Designprozesses getroffen werden. Diese Entscheidungen können sich positiv oder negativ auf den Wiederaufbereitungsprozess auswirken. Ein systemisches Verständnis der Abhängigkeiten zwischen Produktdesign, Produktentwicklung und der späteren, vielleicht mehrmaligen, Wiederaufarbeitung ist ein effektiver Ansatz, um optimale Entscheidungen zur Verbesserung der Materialeffizienz und wirtschaftlichen Rentabilität zu treffen. So lassen sich die materiellen Ressourcen nahezu vollständig nutzen, und erst am Ende der technischen Nutzungsdauer werden die Wertstoffe durch einen hocheffizienten Recyclingprozess zurückgewonnen.

Das Produkt wandelt sich vom Konsumobjekt zum Anlagegut – nicht mehr die Herstellung und der Verkauf einer grossen Anzahl Objekte mit kurzer Lebensdauer erzeugen Umsatz und Gewinn, sondern die nachhaltige Produktion von Objekten mit langer Verwendungsdauer, Reparierbarkeit und Wiederverwendbarkeit. Dabei können sich alle am Lebenszyklus eines Produkts beteiligten Akteure – Nutzer, Produkt-Service-Anbieter, Händler, Hersteller, Renovierer, Wiederaufbereiter, Recycler – die Strategien der modernen Kreislaufwirtschaft zunutze machen (Bild 3).

Je nach Produkt, Land und spezifischer Marktumgebung sind verschiedene Strategien der modernen Kreislaufwirtschaft und deren Kombinationen möglich, um die Ressourceneffizienz zu erhöhen:

  • Wiederverwenden (Reuse): Ein Produkt wird für den ursprünglichen oder einen anderen Verwendungszweck wiederverwendet. Ein Beispiel ist die Verwendung von Batteriespeichern von Elektroautos als dezentrale Energiespeicher im Haushalt.
  • Renovieren (Refurbish): Ein Produkt wird durch kleine Veränderungen und Reparaturen wieder funktionsfähig gemacht.
  • Wiederaufarbeiten (Remanufacture): Wiederaufbau eines Produkts nach den Spezifikationen des ursprünglich hergestellten Produkts, indem veraltete oder defekte Komponenten repariert oder durch neue ersetzt werden. Wichtig für die Eignung zur Wiederaufarbeitung sind Entscheidungen in der frühen Phase des Designprozesses (zum Beispiel Design for Remanufacturing).
  • Wiederverwertung (Recycling): Gewinnung von Sekundärrohstoffen zur Herstellung neuer Produkte.

PV-Module fit machen für Kreisläufe

Defekte PV-Module haben heute einen geringen Wert. Nach einer Reparatur erhalten sie kaum noch das Vertrauen der Konsumenten, weil Vorschriften oder Standards zur Prüfung, Zertifizierung und Kennzeichnung von generalüberholten PV-Modulen fehlen. Sie lassen sich meist nur auf weniger entwickelten Märkten verkaufen. Häufig lohnt sich eine Reparatur deshalb nicht. Zudem werden PV-Module durch globale kumulierte Produktionseffekte kontinuierlich günstiger. Diese Entwicklung fördert die Tendenz, ausgediente PV-Module durch neue Module zu ersetzen. Die Wiederverwendung von PV-Modulen (sogenannter 2nd use) rechnet sich wirtschaftlich immer weniger.

Eine Wiederverwertung der Materia­lien ist aber nur möglich, wenn man die Module zerstört. Dabei fallen vor allem Glasbruch und Aluminiumschrott an. Die Herausforderung ist nun, die Kreislauffähigkeit der PV-Module zu verbessern. Gesucht sind Produktdesigns, welche erlauben, die Module leicht zu öffnen, zu demontieren und zu reparieren und die – im Falle einer Ausmusterung – die Rückgewinnung der wertvolleren Materialien erleichtern. Circusol will nun untersuchen, welche finanziellen Auswirkungen ein auf diese Weise optimiertes PV-Modul-Design für Hersteller und Recycler hätte. Die erhofften Erkenntnisse sind unerlässlich für ein funktionierendes zirkuläres Geschäftsmodell.

Zweites Leben für Batterien

Vor grossen Herausforderungen steht die Branche auch bei den Energiespeichern. Lithium-Ionen-Batterien aus Elektrofahrzeugen werden meistens ausgemustert, wenn sie noch 70 oder 80% ihrer Speicherkapazität haben. Der aus dem Recycling solcher Batterien resultierende Erlös ist äusserst bescheiden. Hingegen lassen sich die Batterien theoretisch noch gut als stationäre Energiespeicher verwenden, etwa für gewerbliche und Wohnnutzungen oder zur Netzstabilisierung im Verteilnetz von Netzbetreibern. In einem Modell, das auf zirkuläre Wertschöpfung abzielt, sind deshalb vor allem Lösungen gesucht, mit denen sich das Leben einer Batterie verlängern lässt.

Circusol verfolgt dazu mehrere Stossrichtungen. Ein Ansatz ist, die Technologie zur Wiederherstellung von Batterien zu verbessern. Mit geeigneten Diagnoseverfahren lassen sich einzelne beschädigte Zellen identifizieren. Entfernt man diese, erhöht sich die Effizienz der gesamten Batterie. Die Wiederherstellungsrate könnte auch verbessert werden, liessen sich verschiedene Batterietypen im Rahmen eines Wiederaufbereitungsprozesses kombinieren. Auch daran arbeiten die Projektpartner. Zudem soll das Marktvertrauen in Second-Life-Batterien gestärkt werden, indem geeignete Testprotokolle zur Sortierung und Bewertung von gebrauchten Batterien entwickelt werden.

Und schliesslich liesse sich die Wirtschaftlichkeit mit zirkulären performance-orientierten Geschäftsmodellen erheblich steigern. Bei solchen müssen sich die Endanwender nicht mehr um die Leistung und die Lebensdauer des Batteriesystems kümmern. Sie kaufen nur die gewünschte Leistung bei Servicegesellschaften ein. Diese sind mit ihrem Know-how und ihrer grossen Installationsbasis in der Lage, den Kunden ein optimales Angebot zu machen. Solche Modelle sind etwa in den USA bereits recht verbreitet (PV Leasing, Power Purchase Agreements). Circusol wird nun neue Geschäftsmodelle für wiederaufbereitete Elektrofahrzeug-Batterien in stationären PV-Anlagen untersuchen. Dazu gehört auch eine Prognose, wie sich die Kosten für die Wiederaufbereitung entwickeln werden, um die Nachhaltigkeit des Geschäftsmodells beurteilen zu können.

Geschäftsmodellentwicklung mit Simulationen

Im Projekt werden für die teilnehmenden Unternehmen diese neuen Geschäftsmodelle für die moderne Kreislaufwirtschaft anhand von Computersimulationen entwickelt. Ein Geschäftsmodell (Business Model) ist eine modellhafte Darstellung der logischen Zusammenhänge, die zu beachten sind, damit eine Organisation oder ein Unternehmen Mehrwert für Kunden erzeugt und einen Ertrag erwirtschaftet. Es beantwortet Fragen wie: Wer sind unsere Kunden? Welchen Nutzen wollen wir für unsere Kunden und Partner schaffen? Welche Ressourcen benötigen wir? Wie erzielen wir Erträge?

Lebensfähige Geschäftsmodelle sind für den unternehmerischen Erfolg unabdingbar. Die gängigen Methoden zur Geschäftsmodell-Entwicklung, wie etwa die Business Model Canvas oder auch Lean Canvas, betrachten die Entwicklung von Unternehmen anhand von einzelnen Standbildern und häufig nur qualitativ, das heisst: nur zu einem bestimmten Zeitpunkt und meist ohne konkrete Zahlen.

Ein moderner Ansatz zur Entwicklung von Geschäftsmodellen nutzt die Möglichkeiten von Computersimulationen, um den strategischen Diskurs zu bereichern. [1] Die Gruppe Strategy, Technology and Innovation Management der Berner Fachhochschule ist führend auf dem Gebiet der Entwicklung von Geschäftsmodellen durch Simulationsmethoden (Bild 4).

Der Prozess läuft wie folgt:

  • Analyse der strategischen Ausgangssituation
  • Kontinuierliche Erstellung und Validierung des aktuellen Geschäftsmodells
  • Umwelt-Trendanalyse im Geschäftsfeld des aktuellen Geschäftsmodells
  • Gefahren für das aktuelle Geschäftsmodell quantitativ eruieren
  • Weiterentwicklung oder Neuentwicklung und kontinuierliche Validierung von Geschäftsmodellprototypen
  • Variantenvergleich der Geschäftsmodellprototypen
  • Auswahl des neuen Geschäftsmodells
  • Implementierungsplanung

 

Diese Methode der Geschäftsmodell-Innovation ist neu. Das Ziel der Methode ist, bestehende Geschäftsmodelle zu verstehen, ihre Lebensfähigkeit einzuschätzen (Stress Testing), und – falls diese Tests nicht bestanden werden – neue Geschäftsmodelle zu entwickeln, die lebensfähiger sind.

Teil einer internationalen Kooperation

Das im Juni gestartete Projekt ist auf eine Dauer von vier Jahren ausgelegt. Seitens der Berner Fachhochschule wird sich ein Projektteam der Forschungsgruppe Strategy, Technology and Innovation Management unter der Leitung von Prof. Dr. Stefan Grösser, Leiter der Abteilung Wirtschaftsingenieurwesen, in die internationale Forschungskooperation einbringen. Das Team ist in verschiedenen Teilbereichen tätig und wird beispielsweise Datenbanken aufbauen, um Informationen von Batterien und PV-Anlagen zu bewirtschaften, die deren Wiederverwendung erleichtern. Zudem wird es Ökosystemanalysen erarbeiten und sich an Pilotversuchen mit Sekundärbatterien beteiligen, die der Partner BKW im Kanton Bern durchführt. Auch Studierende des Wirtschaftsingenieurwesens, welche Projektarbeiten leisten, werden von Circusol profitieren.

Referenzen

[1]  Grösser, S. N. und Jovy, N., «Business model analysis using computational modeling: a strategy tool for exploration and decision-making», Journal of Management Control, Heft 1, 2016.

[2]  Schaffernicht, M. und Grösser, S. N., «Growth Dynamics in New Markets: Improving Decision Making through Model-Based Management», Wiley, 2018.

Interessierte gesucht

Zur Mitarbeit am Projekt Circusol werden nach wie vor Teilnehmer gesucht, die als Mitglieder einer Expertengruppe am Thema arbeiten möchten. Auskünfte erteilt der Autor dieses Artikels.

Forschungsgruppe

Wirtschaftsingenieur

Autor
Stefan Grösser

ist Professor für Strategisches Management und Organisation sowie Abteilungsleiter für Wirtschaftsingenieurwesen an der Berner Fachhochschule BFH.

  • Berner Fachhochschule, 2501 Biel

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