Fachartikel Energieeffizienz , Mobilität

Mehr Flexibilität durch zweiwegiges Laden?

ETH-Studie

08.12.2020

Obwohl zweiwegiges Laden die Integration von Erneuerbaren unterstützen könnte, bleibt dessen Zukunft unsicher: Eine Analyse von Expertenmeinungen zeigt unterschiedliche Einschätzungen und Wissenslücken im technischen, sozialen und regulatorischen Bereich. Wie könnte die Implementierung von zweiwegigem Laden aussehen und welche Herausforderungen bestehen?

Der Anteil der Elektromobilität wird in vielen Ländern in den nächsten Jahren deutlich zunehmen.[1] Auch in der Schweiz wird davon ausgegangen, dass mit politischen Massnahmen Anteile von 20 % (2035) beziehungsweise 41 % (2050) Elektroautos für Personenwagen und 15 % (2035) beziehungsweise 29 % (2050) für leichte Nutzfahrzeuge erreicht werden können.[2] Trotz der kritischen Faktoren, wie zum Beispiel eine mögliche Erhöhung der Spitzenlast im Verteilnetz, können intelligent integrierte Elektroautos auch netzdienlich für Übertragungs- und Verteilnetze agieren  [3, 4] und so helfen, mehr erneuerbare Energien zu integrieren. Besonders ein zweiwegiges kontrolliertes Laden kann zusätzliche Vorteile bieten, wie beispielsweise Flexibilität und Frequenzdienste für Übertragungs- und Verteilnetze – «Vehicle-to-Grid» (V2G) [5] – oder auch für Eigenheime oder Bürogebäude – «Vehicle-to-Customer» (V2C) [6].

Eine aktuelle Studie der ETH Zürich [7] möchte verstehen, wie die zukünftige Implementierung von zweiwegigem Laden aussehen könnte und welche Herausforderungen bestehen. Welche Möglichkeiten werden am meisten untersucht und warum? Wie (unterschiedlich) schätzen Experten die Herausforderungen für die Implementierung ein? Und welche Fragen bleiben trotz steigender Anzahl Pilotprojekte noch offen? Die folgenden Abschnitte beantworten diese Fragen mittels Analysen zu Pilotprojekten und 33  Experteninterviews.

Bisher: Gewerbe-Fahrzeuge und Übertragungsnetze im Fokus

Die Datenbank «V2G Hub» [8] umfasst derzeit 67 Pilotprojekte zu zweiwegigem Laden. Trotz der steigenden Anzahl Pilotprojekte seit 2009 (Grafik unten), gibt es bisher kaum weitere Implementierungen.

Die Analyse von Kombinationen unterschiedlicher Nutzungstypen1), Ladestandorte2) und bereitgestellten Diensten3) in den aktuellen Pilotprojekten gibt Aufschluss über mögliche kommer­zielle Implementierungen. Die untenstehende Grafik zeigt, dass gewerbliche Fahrzeuge mit Laden am Arbeitsplatz und Bereitstellung von V2C und Übertragungsnetzdiensten am häufigsten umgesetzt werden.

Der Vorteil der am häufigsten umgesetzten Nutzungstypen, die gewerblichen Fahrzeuge (2a), ist laut den befragten Experten, dass weniger involvierte Akteure einen zentralisierten Ansatz ermöglichen, sodass für eine gleiche Anzahl von Fahrzeugen weniger Verträge, Schulungen und In­­frastruktur benötigt werden. Zudem kann aufgrund der vordefinierten Nutzungspläne der Ladezustand und damit das Potenzial für mögliche Dienste besser vorhergesagt und mit grösserer Sicherheit an Regelenergiemärkten teilgenommen werden. Die derzeit weniger beleuchteten nichtgewerblichen Fahrzeuge bieten jedoch ebenso Vorteile, wie zum Beispiel deren geringe Auslastung für Mobilität (96 % der Zeit unbenutzt) und damit hohes Potenzial für Netzdienste, wie Lastverschiebung oder Frequenzregulierung.

Der Fokus auf das Laden am Arbeitsplatz (2b) ist darauf zurückzuführen, dass die Installation und Wartung zentraler Ladestationen mit weniger Aufwand verbunden ist. Zusätzlich sind die Netze an gewerblichen Standorten häufig besser ausgebaut, sodass höhere Ladekapazitäten möglich sind. Ausserdem kann durch das Laden nichtgewerblicher Fahrzeuge am Arbeitsplatz Solarstrom gut integriert werden, da das Laden typischerweise mit der Solarstromproduktion zusammenfällt.

V2C wird häufig umgesetzt (2c), da hierbei keine komplexe Schnittstelle mit dem Netz besteht, was die Implementierung vereinfacht und weniger Akteure involviert. Im gewerblichen Bereich kann V2C Lastspitzen reduzieren und damit Leistungspreise verringern. Im nichtgewerblichen Bereich wird V2C meist aus ideellen Gründen umgesetzt. Technologieaffine Haushalte integrieren ihr Elektroauto gerne in das häusliche Stromsystem, insbesondere in Kombination mit einer Photovoltaikanlage, um so den Eigenverbrauch von selbst produziertem Strom zu erhöhen.

Die Präferenz für Übertragungsnetz- gegenüber Verteilnetzdiensten in Pilotprojekten ist auf bereits existierende Regelenergiemärkte zurückzuführen, welche ermöglichen, den Wert für den jeweiligen Dienst abzuschätzen. Auf Verteilnetzebene hingegen ist der Wert der möglichen V2G-Dienste bislang unklar. Insbesondere fehlen Daten zur Netzauslastung, sodass die benötigten Dienste nicht eindeutig bestimmt werden können und folglich auch kein mögliches Umsatzvolumen berechnet werden kann.

Experten empfehlen daher eine Mischung aus Nutzungstypen, Lade­standorten und Diensten, da so mehr Umsatz erzeugt, die Stromlast zeitlich und räumlich verteilt und das Risiko von unvorhersehbarem Fahr- und Ladeverhalten sowie langfristigen Entwicklungen wie Marktsättigung auf Übertragungsnetzebene und Flexibilitätsangebot auf Verteilnetzebene verringert werden könnten.

Experten sind sich uneinig

Zusammen mit den Wissenslücken (vgl. nächster Abschnitt) weisen die unterschiedlichen Experteneinschätzungen zu technischen, sozialen und regulatorischen Herausforderungen auf relevante Unsicherheiten hin, welche die kommerziellen Möglichkeiten erschweren (Tabelle unten).

Während sich die Experten in einigen technischen Herausforderungen einig sind, wie beispielsweise bezüglich des langfristigen Überangebots von Frequenzdienstleistungen auf Übertragungsnetzebene, sind andere Herausforderungen unklar. Uneinigkeit besteht darüber, ob ein Widerspruch zwischen den Bedürfnissen von Verteilnetzen und wirtschaftlicher Attraktivität sowie dem technischem Potenzial von V2G besteht. Während stark ausgelastete Verteilnetze am meisten von V2G profitieren würden, kann dort die wirtschaftliche Attraktivität durch höhere Installationskosten für V2G-Ladesta­tionen und das technische Potenzial von V2G durch Ladebegrenzungen geringer sein und so eventuell (finanzielle) Anreize für V2G und dessen netzdienliche Nutzung erfordern.

Obwohl unumstritten ist, dass V2G einen Verteilnetzausbau verzögern kann, sind sich Experten uneinig bei der langfristigen Frage, ob V2G den Verteilnetzausbau sogar vermeiden kann. Abhängig von den lokalen Eigenschaften des Netzes, der zur Verfügung stehenden Flexibilität der Last und der Kosten für die jeweiligen (intelligenten) Lösungen, könnte der Netzausbau vermeidbar sein.

Die wichtigste soziale Herausforderung für die Implementierung von zweiwegigem Laden ist das Einsteckverhalten der Nutzer von Elektroautos, da möglichst lange Einsteckzeiten benötigt werden. Jedoch sind sich die Experten uneinig, ob Fahrer von Elek­troautos Anreize benötigen, um diese länger einzustecken, oder ob es für sie zur Gewohnheit werden wird, ihr Auto, wenn immer möglich, einzustecken – ähnlich wie das Abschliessen des Autos.

Für zweiwegiges Laden als Zukunftstechnologie ist die Vereinbarkeit mit anderen zukünftigen Mobilitätskonzepten entscheidend, aber auch umstritten. Carsharing zum Beispiel erhöht die Nutzung des Autos für Mobilität, sodass dieses nur noch eine geringe Verfügbarkeit von zirka 30 % für zweiwegiges Laden aufweist. Jedoch könnten nachts bei geringen Buchungen zusätzliche Einnahmen generiert und damit das Geschäftsmodell für Carsharing-Betreiber verbessert werden. Autonome Fahrzeuge könnten zweiwegiges Laden unterstützen, da sie automatisch eingesteckt werden und sogar je nach Netzsituation von einem Ort zum anderen fahren könnten. Jedoch werden autonome Fahrzeuge ebenso stark ausgelastet sein; ihre Verfügbarkeit für V2G- und V2C-Dienste ist reduziert.

Aus regulatorischer Sicht sind sich Experten einig, dass Standards für Ladeinfrastruktur und Kommunikationsprotokolle nötig sind, damit Aggregatoren und Elektroautonutzer Ladestationen verschiedener Anbieter über grössere Regionen hinweg nutzen können. Allerdings gehen die Meinungen hinsichtlich einer möglichen, zügigen Etablierung von Standards ausei­nander. Standards könnten Innovationen beschränken und hohe Kosten für Konformität verursachen, was besonders im frühen Stadium einer neuen Technologie vor allem kleine Akteure benachteiligt.

Wissenslücken

Fehlende Daten zur aktuellen (und zukünftigen) Auslastung der Verteilnetze bilden die grösste Wissenslücke im technischen Bereich. Dadurch werden Einschätzungen bezüglich nötiger Netzdienstleistungen sowie Nachfrage und Angebot an Flexibilität – neben Elektroautos auch Wärmepumpen und stationäre Speicher – erschwert. Ebenso erfordert eine erfolgreiche Implementierung eine Analyse des Zusammenspiels unterschiedlicher Dienste, da die Glättung der Lastkurven und erhöhter Eigenverbrauch durch V2C den Bedarf an V2G-Diensten in Verteilnetzen verringern.

Im Bereich der sozialen Herausforderungen ist das grundsätzliche Inte­resse an der Teilnahme an zweiwegigem Laden unklar. Dieses kann schwer durch Pilotprojekte ermittelt werden, da die Anreize oft nicht der Realität entsprechen, beispielsweise wird kostenloses technisches Equipment zur Verfügung gestellt. Besonders ungewiss ist, ob auch weniger technologieaffine Personen teilnehmen würden. Insbesondere die Zwischenstadien mit 10-30 % Teilnahme stellen das System vor Herausforderungen, wie zum Beispiel wenig Ausgleich von unterschiedlichen Fahrprofilen, was geringe Vorhersagbarkeit und hohe Unsicherheit nach sich zieht. Dies wird zudem erschwert durch mögliche örtliche Cluster-Bildung, wenn sich viele Nutzer in räumlicher Nähe befinden (beispielsweise durch Nachbarschaftseffekte). Deshalb spielen grössere Flotten zusammen mit anderen Flexibilitätstechnologien gerade am Anfang der Implementierung eine entscheidende Rolle.

Im regulatorischen Bereich ist unklar, wie Flexibilitätsangebot und -nachfrage auf Verteilnetzebene koordiniert werden. Eine Möglichkeit sind Märkte, die bestimmte geografische Gebiete abdecken. Jedoch ist die Grös­se dieser Gebiete schwierig festzulegen. Obwohl bereits auf Strassenebene mit 20 bis 30 Häusern unterschiedliche Bedürfnisse für ein geeignetes Lastmanagement bestehen, ist ein hohes Mass an Flexibilitätsangebot in solch kleinen Gebieten schwer zu erreichen, weswegen grössere Gebiete oder Kooperationen mit Übertragungsnetzbetreibern sinnvoll sein können. Deshalb könnten sich auch verschiedene Formen zeitva­riabler Tarife durchsetzen, die vor allem für Endkunden greifbarer sind. Diese Tarife können allerdings häufig weniger flexibel agieren, weswegen manche Experten für Ausschreibungen oder Auktionen argumentieren.

Nächste Schritte

Zukünftige Pilotprojekte sollten breitere Kombinationen von Nutzungstypen, Ladestandorten und Diensten testen und dabei idealerweise auch Daten bezüglich des Einsteckverhaltens sammeln, um die Entwicklung von Geschäftsmodellen zu unterstützen. Ausserdem sollten Pilotprojekte den Einfluss zukünftiger Mobilitätskonzepte auf das Potenzial von zweiwegigem Laden untersuchen. Für ein breites Portfolio an V2G-Diensten werden Verteilnetzdaten und neue Plattformen benötigt, welche eine flexible Bereitstellung verschiedener Dienste je nach Netzsituation und ökonomischem Mehrwert ermöglichen, insbesondere auch im Zusammenhang mit anderen Technologien wie beispielsweise Photovoltaikanlagen. Insgesamt muss dafür die Zusammenarbeit der Auto- und Stromindustrie gestärkt werden, unterstützt von intelligenten Lösungen im Bereich von IT- und Datenmanagement und Forschung über zukünftige (Mobilitäts-)Entwicklungen und passende Geschäftsmodelle.

Referenzen

[1]   International Energy Agency, «Global EV Outlook 2020 Entering the decade of electric drive?», 2020.
[2]   Arbeitsgruppe der schweizerischen Eidgenossenschaft, «Bericht in Erfüllung der Motion 12.3652 Elektromobilität. Masterplan für eine sinnvolle Entwicklung», 2015.
[3]   K. Knezović, M. Marinelli, A. Zecchino, P.B. Andersen, C. Traeholt, «Supporting involvement of electric vehicles in distribution grids: Lowering the barriers for a proactive integration», Energy 2017, 134, S.  458–68, doi.org/10.1016/j.energy.2017.06.075.
[4]   P. Staudt, M. Schmidt, J. Gärttner, C. Weinhardt, «A decentralized approach towards resolving transmis­sion grid congestion in Germany using vehicle-to-grid technology», Appl Energy 2018, 230, S. 1435–46, doi.org/10.1016/j.apenergy.2018.09.045.
[5]   N.B. Arias, S. Hashem, P.B. Andersen, C, Treholt, R.  Romero, «Distribution System Services Provided by Electric Vehicles: Recent Status, Challenges, and Future Prospects», IEEE Trans Intell Transp Syst 2019, S. 1–20, doi.org/10.1109/tits.2018.2889439.
[6]   Everoze, EVConsult, «V2G GLOBAL ROADTRIP: AROUND THE WORLD IN 50 PROJECTS: Lessons learned from fifty international vehicle-to-grid projects», 2018.
[7]   A. Stephan, C. Gschwendtner, «Enabling Flexible Electric Vehicle Grid Integration – ErVIn, Project Report 09/2019–08/2020», 2020.
[8]   V2G Hub, «V2G Around the world 2020», www.v2g-hub.com (aufgerufen am 31. Mai 2020).

1)Gewerblich: leichte Nutz- und Mitarbeiterfahrzeuge, die nach definiertem Fahrplan operieren; nichtgewerblich: von Haushalten genutzte Autos und Mitarbeiterautos, die zum Pendeln genutzt werden.
2)Zu Hause: Einfamilienhäuser und Parkgaragen für Wohnblöcke; am Arbeitsplatz: inklusive Betriebshof für Fahrzeugflotten; öffentlich: laden auf der Wegstrecke oder am Zielort.
3)Verteilnetzbetreiber: Dienste auf Verteilnetzebene (zum Beispiel Spannungsregelung, Überlastungsmanagement); Übertragungsnetzbetreiber: Dienste auf Übertragungsnetz­ebene (zum Beispiel Frequenzregulierung); Vehicle-to-Customer: «Behind-the-Meter»–Dienste für Gebäude (zum Beispiel Lastverschiebung, Notfallreserve).
Forschungsprojekt Flexible Integration von Elektrofahrzeugen in das Stromnetz: Dieser Artikel basiert auf Erkenntnissen des Forschungsprojektes «Enabling Flexible Electric Vehicle Grid Integration (ErVIn)» der Gruppe für Nachhaltigkeit und Technologie (SusTec) der ETH Zürich. Für lnhalt sowie Schlussfolgerungen sind ausschliesslich die Autorinnen verantwortlich. Das Projekt wird mit Unterstützung des Bundesamts für Energie durchgeführt.
Autorin
Dr. Christine Gschwendtner

ist Postdoc am Institut für Daten, Systeme und Gesell­schaft des Massa­chusetts Insti­tute of Technology.

  • MIT, Cambridge, MA 02142, USA
Autorin
Dr. Annegret Stephan

ist Oberassistentin in der Gruppe für Nachhaltigkeit und Technologie (SusTec) der ETH Zürich.

  • ETH Zürich, SusTec, 8092 Zürich

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