Fachartikel Automation , ICT , Sensoren

Maschinen mit Gehirn

Predictive Maintenance mit neuronalen Netzwerken

31.07.2018

Wie werden Maschinen und Anlagen in Zukunft instand gehalten? Die Meinungen dazu gehen weit aus­­einander. Die einen propagieren Industrie 4.0 als Schlüsseltechnologie, die anderen zeigen sich sehr skeptisch in Anbetracht der grossen Datensammelwut. Doch bereits heute stehen viele Maschinendaten zur Verfügung – sie müssen nur intelligent genutzt werden.

Ort, Zeit und Stärke eines Erdbebens zuverlässig vorhersagen – dieser Wunsch ist wohl so alt wie die Menschheit selbst. Auch jeder Maschinenbauer und Betreiber einer Anlage wünscht sich eine zuverlässige Prognose, wann die einzelnen Komponenten das Ende ihrer Lebensdauer erreichen. Ziel ist, den Betrieb langfristig sicherzustellen, Fehler frühzeitig zu erkennen und Ausfälle zu verhindern. Ein wichtiger Aspekt sind aber auch die betrieblichen Kosten. Fällt eine Maschine aus, zählen dabei nicht nur Kosten für Reparatur oder Neuanschaffungen, sondern auch Faktoren wie Qualität, Termintreue und Aufrechterhalten der Produktionskette. In extremen Beispielen wie in einer Kupfermine oder Ölraffinerie kann der Ausfall einer einzigen Maschine die komplette Produktion lahmlegen. In solchen Fällen bewegen sich die Kosten für den Betreiber schnell im Bereich von mehreren Millionen Franken pro Tag. Drohen so hohe Verluste, lässt sich ein grösserer Aufwand für die technische Instandhaltung rechtfertigen als bei einem Auto oder einem Kühlschrank. Oft geht es bei der technischen In­standhaltung deshalb um eine Balance zwischen Aufwand und Kosten, die bei einem möglichen Ausfall der Anlage entstehen könnten.

Ausfälle vermeiden

Fehler, die zu Ausfällen führen, können grundsätzlich in drei Kategorien eingeteilt werden:

  • Frühausfälle sind Fehler, die sehr früh in der Lebensphase auftreten. Typischerweise sind dies Auslegungsfehler oder Qualitätsprobleme in der Produktion, die sogenannten Kinderkrankheiten.
  • Zufallsausfälle sind unsystematische Fehler, die unerwartet über die komplette Lebensdauer einer Maschine auftreten können. Auch Bedienungsfehler, äussere Einwirkungen und Wartungsfehler zählen zu dieser Kategorie. Diese Ausfälle sind am stärksten gefürchtet – sie sind sozusagen die Erdbeben einer Maschine.
  • Spätausfälle sind Fehler, die gegen Ende des Lebenszyklus auftreten. Keine Maschine kann unendlich lange funktionieren. Ursache sind oft Alterung (Korrosion), Abnutzung (Verschleiss) und Ermüdung (Bruch).

 

Bei Predictive Maintenance liegt der Fokus primär darauf, Anzeichen für Zufallsausfälle frühzeitig zu erkennen und Spätausfälle zu prognostizieren. So können rechtzeitig Massnahmen ergriffen bzw. langfristig geplant werden und das Ausfallrisiko kann minimiert werden.

Heutige Konzepte für die geplante Instandhaltung können plötzlich auftretende Zufallsausfälle zwar im besten Fall limitieren, doch sind sie unflexibel. Entweder werden Bauteile nach einem festen Intervall oder nach einer fixen Laufleistung ausgewechselt, oder die Komponente wird auf Verschleiss vermessen und bei Unterschreitung eines Grenzwerts ausgetauscht. Beide Konzepte führen zu hohen regelmässigen Wartungskosten.

Künstliche Intelligenz als Schlüssel

In vielen aktuellen Predictive-Maintenance-Ansätzen werden unzählige zusätzliche Sensoren propagiert. Doch diese sind teuer und erhöhen den Installationsaufwand. Zudem ist jeder zusätzliche Sensor eine potenzielle Fehlerquelle, die zur Abschaltung der Maschine führen kann. Einen neuen Weg beschreitet das CSEM, nämlich die verfügbaren Maschinendaten intelligent zu nutzen. Den Schlüssel dazu bilden künstliche neuronale Netzwerke. Spätestens seit dem Durchbruch bei der Bilderkennung in autonomen Fahrzeugen und dem Sieg eines Computers gegen den amtierenden Weltmeister beim asiatischen Brettspiel Go erlebt künstliche Intelligenz einen regelrechten Schub. Auch in der Indus­trie erobern diese Netzwerke immer mehr Anwendungsfälle. Im Kern wird die Struktur eines menschlichen Gehirns nachgebildet. Viele Neuronen (Schaltzentralen) werden über unzählige Synapsen (Verbindungen) miteinander zusammengeschaltet. Ein künstliches neuronales Netzwerk besitzt die Fähigkeit, selbstständig Dinge zu lernen und das Gelernte auf neue Situationen anzuwenden. Wird ein intelligentes Bilderkennungssystem zum Beispiel auf Katzen trainiert, findet es in jedem neuen Bild alle Katzen. Einer der Hauptgründe, weshalb sich gerade jetzt solche Netzwerke in der Industrie durchsetzen, ist die günstige und kompakte Verfügbarkeit von Rechenleistung. Ein übliches Netzwerk mit mehreren Millionen Synapsen bzw. mathematischen Gleichungen kann heutzutage problemlos auf einem modernen Smartphone verarbeitet werden.

Bestehende Daten intelligent nutzen

Moderne Predictive-Maintenance-­Konzepte, wie sie das CSEM entwickelt, setzen auf eine smarte Verarbeitung aller bereits erhältlichen Signale. In einer modernen Steuerung laufen unzählige Signale und Berechnungen zusammen. Werden alle diese klassischen Messwerte noch mit den weniger offensichtlichen Parametern wie Latenzzeiten, Zykluszeiten, Raumtemperatur und sogar Tageszeit und Jahreszeit kombiniert, entsteht eine sehr genaue Zustandswolke einer Maschine – ohne dass viele zusätzliche Sensoren notwendig sind. Werden diese Daten über neuronale Netzwerke zu einem intelligenten System verknüpft, lassen sich Störungen erkennen, bevor es zu einem Ausfall der Maschine kommt. Es wird sogar möglich, den genauen Zeitpunkt eines Defektes vorherzusagen.

Das CSEM hat eine Predictive-Maintenance-Software entwickelt, die auf neuronalen Netzwerken basiert. Das intelligente System arbeitet in drei Schritten, die im Folgenden genauer erläutert werden, nämlich dem Erkennen einer Verschlechterung einer Maschine, der Vorhersage, wie sich der Zustand der Maschine entwickelt sowie der Identifizierung der Komponenten, welche für die Störung verantwortlich sind.

Anomalien aufdecken

Zunächst erlernt das neuronale Netzwerk, wie sich eine Maschine im normalen Betrieb verhält. Je nach Einstellungen, verarbeiteten Teilen oder Umgebungsbedingungen können sich die Messwerte einer Maschine stark verändern, obwohl sich technisch noch immer alles im grünen Bereich bewegt. Solche Muster müssen erkannt und im Netzwerk gespeichert werden. Je komplexer eine Maschine ist, desto mehr Abhängigkeiten bestehen zwischen verschiedenen Sensoren und Aktuatoren. Während noch offensichtlich ist, wie pneumatischer Druck und die Hubgeschwindigkeit eines Zylinders zusammenspielen, ist es bei gros­sen Maschinen selbst für erfahrene Experten unmöglich, alle Beziehungen zu verstehen. Hier schlägt die künstliche Intelligenz den Menschen, da sie dank Trainingsdaten selbst versteckte Abhängigkeiten eigenständig und ohne Expertenwissen verinnerlichen kann. Dafür muss das neuronale Netzwerk in der Datenwolke einer Maschine die Spreu vom Weizen trennen: Welche Signale sind relevant? Welche Muster sind normal? Welche Variablen sind wie miteinander verknüpft? Hat die Software das normale Verhalten einer Maschine einmal erlernt, kann sie zuverlässig erkennen, wenn eine Maschine vom normalen Betriebsbereich abweicht, und kann diese Anomalie bewerten.

Da das künstliche Netzwerk wie ein erfahrener Mitarbeiter die Maschine als Ganzes wahrnimmt, erkennt es sämtliche Abweichungen, also nicht nur solche, die vorgängig in einem Fehlerkatalog definiert wurden. Ein neuronales Netzwerk lässt sich relativ einfach auf eine Maschine trainieren: Es wird mit den Daten einer normal operierenden Anlage gespeist, lernt mit diesen Werten und optimiert sich selbst.

Prognose erstellen

Hat das System erst einmal erkannt, dass die Maschine aus dem normalen Operationsbereich driftet, ist die nächste Frage, in welchem zeitlichen Horizont sich die Störung abspielt (Time to Failure). Dazu wird eine gute Prognose benötigt. Diese ist der Kern einer Predictive-Maintenance-Lösung. Es ist klar, dass eine lineare Regression hier nur sehr schlechte Ergebnisse erzielen kann. Eine genaue Prognose bedingt ein tiefes Verständnis der Maschine. Hoch relevant sind dabei nicht nur kurzfristige Änderungen, sondern auch Zustände der Maschine, die länger zurückdatieren. Um solche vergangenen Ereignisse einzubinden, haben sich sogenannte rekurrente neuronale Netze etabliert. Diese werden heute bereits in der Spracherkennung oder bei Über­setzungs­program­men eingesetzt. Ein Beispiel: Wird in einer Suchmaschine ein Wort eingetippt, werden sofort mögliche Vervollständigungen vorgeschlagen.

Diese Netzwerke können relevante Informationen speichern, aber Unnötiges auch wieder vergessen. Es sind im Prinzip Erinnerungen an frühere Erfahrungen – ein Kurzzeitgedächtnis, das lange anhält. Mit dieser Kategorie künstlicher Intelligenz ist es möglich, adäquate Vorhersagen einer driftenden Maschine zu treffen. Die Prognosen können im Minutentakt an die aktuelle Situation der Maschine angepasst, neu berechnet und entsprechend evaluiert werden.

Fehlerhafte Komponenten erkennen

Bei den ersten beiden Schritten handelt es sich um generische, also universelle Verfahren der künstlichen Intelligenz. Sie spielen sich auf einer übergeordneten Ebene ab und zeigen auf, dass das System nicht mehr normal läuft und wie lange es dauert, bis es ganz ausfällt. Sie können aber nicht identifizieren, wo die Ursache der Störung liegt. Diese Aufgabe wird im dritten Schritt gelöst. Hierzu muss das System in den Zwischenschichten des neuronalen Netzwerks suchen und sozusagen den Weg zurück vom Gehirn zum Körper bzw. zur Maschine machen. Welche Neuronen wurden aktiviert? Welche Eingangsvariablen gehen bei diesen Neuronen ein? Welcher Sensor liefert diese Daten? So kann das neuronale Netzwerk die Ursachen klassifizieren, die verantwortlichen Komponenten identifizieren und helfen, geeignete Massnahmen zu ergreifen.

Programmiertes Maschinengehirn

Die CSEM-Software stellt quasi das Gehirn einer Maschine dar. Sie ist fähig, die Maschine zu abstrahieren und selbstständig zu verstehen. So wird es möglich, alle Störungen – auch unvorhersehbare – zu erkennen.

Das Programm eignet sich mit den vorhandenen Betriebsdaten eigenständig Kenntnisse zu den relevanten Charakteristiken der Maschine an. Es baut über die Historie einen Erfahrungsschatz auf und kann damit auf jegliche unerwarteten Änderungen mit einer Vorhersage reagieren. Dank eines tiefen Einblicks ins neuronale Netzwerk kann die Software die Komponenten identifizieren, die eine prognostizierte Störung verursachen. Die Vorteile einer solchen Lösung sind mannigfaltig:

  • Fehler werden selbstständig erkannt, ohne vorgängige Definition eines Fehlerkatalogs. Auch unvorhersehbare Störungen werden so detektiert.
  • Keine oder wenige zusätzliche Sensoren sind notwendig.
  • Kontinuierliches Lernen verbessert die Trefferquote.
  • Eine Cloud-Lösung ist nicht nötig; die Daten können lokal gesammelt und verarbeitet werden.

 

Solche intelligenten Systeme können problemlos skaliert werden. So helfen die Erkenntnisse von weiteren Maschinen oder Anlagen gleicher Bauart, das individuelle Ergebnis jeder Anlage zu verbessern. Ein gutes Beispiel sind elektrische Türschliesssysteme von Zügen oder Fahrstühlen, die in grosser Zahl weltweit in ähnlicher Ausführung vorhanden sind. Nach wie vor sind die Türen hauptverantwortlich für den Ausfall der Transportsysteme. Die Erfahrungen können relativ einfach untereinander ausgetauscht werden und helfen so, das Prognosesystem deutlich zu verbessern.

Erdbeben treten plötzlich auf, Ort und Zeitpunkt lassen sich heute noch nicht zuverlässig voraussagen. Auch bei Maschinen sind unvermittelte Störungen möglich. Doch meist kündigen sie sich durch kleinste Abweichungen im Voraus an und können dank Predictive Maintenance und künstlicher neuronaler Netzwerke frühzeitig erkannt werden. Sogar der Zeitpunkt eines gros­sen Knalls lässt sich vorhersagen. So kann ein Anlagenbetreiber geeignete Massnahmen einleiten, bevor es zu einem Ausfall kommt. Hohe Kostenfolgen können vermieden und die Zuverlässigkeit der Maschine deutlich gesteigert werden.

Autor
Philipp Schmid

ist Head Research and Business Develop­ment Industry 4.0 & Machine Learning.

  • CSEM
    6055 Alpnach

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