Fachartikel Energiemarkt , IT für EVU

Künstliche Intelligenz im Dienste der Energie

Modulares System zur Digitalisierung der Energie-Wertschöpfungskette

27.08.2018

Die Energiebranche befindet sich im Wandel. Der Markteintritt einer zunehmenden Menge fluktuierender Produktion erfordert die Entwicklung neuer Energie­management-Tools. Eine neue, auf künstlicher Intelligenz basierende Plattform ermöglicht es den verschiedenen Akteuren, sich zu vernetzen, Kosten zu optimieren und nahezu in Echtzeit zu agieren.

Der Wandel des Energiebranche geht an keinem Akteur unbemerkt vorbei. Die Energiemärkte werden schneller und komplexer, weil sich Produktion und Nachfrage verändern: Die Zunahme von neuen erneuerbaren Erzeugern verursacht teure Abweichungen von der Prognose und erfordert Reaktionen nahe Echtzeit, um die Über- oder Unterproduktion möglichst wirtschaftlich auszugleichen. Der E-Mobility-Boom bringt zusätzliche Volatilität auf der Verbrauchsseite. Daneben gewinnen die dezentrale Flexibilität und das Prosumerverhalten an Wichtigkeit, weil sie kurzfristige Schwankungen ausgleichen können.

Die europäischen Märkte bieten zahlreiche Instrumente, um Angebot und Verbrauch unter Berücksichtigung der zahlreichen Randbedingungen in der Netzinfrastruktur in der Balance zu halten – kontinuierlicher Handel bis 5 Minuten vor Lieferung, Bilanzkreismanagement oder Systemdienstleistungen. Für die richtigen Entscheidungen müssen aber unzählige Datenquellen ausgelesen, komplexe physikalische Zusammenhänge modelliert, stochastische Szenarien simuliert und Optimierungen berechnet werden – so nah an Echtzeit wie möglich. Diese simultane Komplexität übersteigt die menschliche Leistungsfähigkeit.

Mit künstlicher Intelligenz Herausforderungen meistern

Trotzdem müssen Strommarktteilnehmer – Energieversorger, Kraftwerkbetreiber oder Grossverbraucher – möglichst genau abschätzen können, wie sich Produktion, Verbrauch und Preis entwickeln und wie sich ihre Verbraucher, Portfolios und Kraftwerke verhalten, um zu besten Konditionen zu handeln. Dafür braucht es eine Vernetzung von Anlagen, Kunden und Daten, die eine Reaktion in Echtzeit oder eine autonome Steuerung ermöglicht. Mit der Energy AI 1) hat Alpiq eine solche Plattform entwickelt und entsprechende Kompetenzen in Data Science, Mathematik und Optimierung aufgebaut. Die Plattform bildet die Basis für die Automatisierung der Energiewertschöpfungskette in 6 Schritten: Daten­erhebung, Datenvalidierung, Modellierung, Prognose, Optimierung und Entscheidung.

Damit die Plattform die gesamte Wertschöpfungskette abdecken und möglichst viele Anwendungen für die Kunden nutzen kann, ist sie modular aufgebaut, skalierbar und automatisierbar. Damit lässt sich die Plattform an veränderte Technologien wie auch an neue Rahmenbedingungen anpassen und ist für unterschiedliche Anwendungen offen. Die für die Digitalisierung typische Skalierung ermöglicht Geschäftsmodelle, die bei linear steigenden Technologiekosten nicht möglich wären – was langfristig sowohl für Kunden wie auch Anbieter ökonomische Mehrwerte bringt. Die kontinuierliche Datenverarbeitung nahe an Echtzeit erlaubt es, komplexe Probleme unmittelbar zu lösen, um bestmögliche Entscheidungen zu treffen. So lässt sich die Plattform etwa von Prosumern, Industriebetrieben und anderen Energieversorgern genauso nutzen wie für Anwender im Versorger-Kerngeschäft, z.B. für die Echtzeit Portfolio-Optimierung von Windkraftwerken oder zur Störungserkennung von Grosskraftwerken. Die folgenden Beispiele vermitteln einen Eindruck der möglichen Anwendungen.

Netzkostenoptimierung

Die erste kommerzielle Anwendung der Plattform optimiert seit November 2016 den Einsatz von 2 Blockheizkraftwerk-Motoren (BHKW) im Klärwerk Werdhölzli in Zürich und reduziert so die Netznutzungsgebühren. Der Prozess läuft vollständig autonom. Alle sechs Sekunden werden Daten wie etwa der Zustand der Generatoren, die Ammoniumkonzentration im Abwasser, die Niederschlagsmengen bei den Sammelbecken oder die zufliessenden Wassermengen ausgelesen. Pro Monat beträgt die durchschnittliche Datenmenge 450'000 Signale. Daraus berechnet die Plattform unter Einsatz eines neuronalen Netzwerks eine kurzfristige Prognose über den Stromverbrauch der gesamten Anlage. Auf Basis des hinterlegten Modells der Kläranlage und der BHKW Motoren sowie der stochastischen Zukunftsszenarien entscheidet der Optimierungsalgorithmus über den Einsatz der Generatoren. Ist ein Einsatz wirtschaftlich sinnvoll und können Netznutzungsgebühren eingespart werden, wird den Motoren in Zürich ein Startsignal gesendet. Ist die Verbrauchsspitze vorbei, werden die Motoren wieder ausgeschaltet. Dieser Optimierungsprozess aus Input, Forecast, optimaler Dispatch und Output startet alle 15 Minuten neu. Das heisst täglich werden 96 Optimierungszyklen durchgeführt, die im Vergleich zu den jährlichen Netzkosten signifikante Kostenersparnisse bringen.

Virtuelles Kraftwerk für dezentrale Prosumer

Eine weitere Anwendung wurde 2017 mit dem Sekundärregelpooling für dezentrale Produzenten und Verbraucher umgesetzt. Die industrielle Wärmeerzeugungsanlage im DSM-Werk Lalden ist in die Systemdienstleistungen von Swissgrid integriert, um sekundäre Regelenergie bereitzustellen. Sie ist jederzeit flexibel einsetzbar, ermöglicht sehr schnelle Leistungsänderungen und ist deswegen optimal geeignet, um mitzuhelfen, das Stromnetz zu stabilisieren.

Alpiq hat die Anlage in ihren dezentralen Regelpool mit fünf weiteren Prosumern eingebunden. Der eigens dafür entwickelte Dispatch-Algorithmus ermöglicht die Bündelung aller Arten von Stromverbrauchern, Erzeugern oder sogenannten Prosumern zu einem virtuellen Kraftwerk. Alle zwei Sekunden optimiert er die eingebundenen Anlagen und stellt sicher, dass die von Swissgrid geforderte Leistung jederzeit verfügbar ist, um die Netzstabilisierung zu gewährleisten.

Der Closed-Loop Prozess aus Input, Forecast, Optimierung, Aufteilung des Stellsignals auf fünf Anlagen und ihr Output wird autonom durchgeführt. In Anbetracht der Prämie für Regelenergie ermöglicht die Plattform einen unmittelbaren Mehrwert, dank der Modularität und Flexibilität aber auch eine optimale Integration von dezentralen Energieträgern im künftigen Energiemarkt.

Optimierung des Windpark-Managements

Ein weiteres wichtiges Anwendungsgebiet liegt im Management und der Optimierung von Windturbinen, was sowohl für Energieversorger wie auch für Anlagenbetreiber von zentraler Bedeutung ist. Wegen ihrer wetterabhängigen Produktion verursachen sie hohe Ausgleichsenergiekosten oder stehen zu ungünstigen Zeiten still. Die Grundlage für verbesserte Prognosen und schnellere, automatisierte Handelsprozesse ist die datentechnische Anbindung, Standardisierung und Integration von Windparkdaten und Umwelt-, System- und Marktdaten, Börsenpreise, Auktionsresultate sowie Netz- und Grenzkapazitäten. Bereits die automatisierte Detektion von fehlerhaften Zählern oder die Bereitstellung von Key Performance Indikatoren (KPIs) der Turbinen- oder Netzzustände in Echtzeit reduziert die Komplexität und verbessert die Entscheidungsgrundlage für die Vermarktung der Produktion.

Mit dieser Plattform optimiert Alpiq momentan beinahe 500 Windparks mit einer Gesamtleistung von 4,2 GW (Stand 2017). Diese erkennt fehlende Daten und Produktionsanomalien genauso wie Abweichungen in den Energieprognosen, Live-Messdaten und DSO-Messdaten. Zusätzlich berechnet sie KPIs wie z.B. Prognosequalität, Bilanzierungskosten, Zählerdatenverfügbarkeit, Volllaststunden und Monatsmarktwert für jeden Park. Mit wenig Aufwand kann eine hohe Effizienz und Transparenz sowie eine bessere Entscheidungsgrundlagen für das Windpark Management geschaffen werden.

Synergien im vernetzten Energie-Ökosystem

Durch die Kombination von Erzeuger-, Speicher und Verbrauchertechnologien in einem Portfolio entstehen zusätzliche Synergien in der energiewirtschaftlichen Optimierung. Voraussetzung dafür ist, dass möglichst viele Verbraucher, Erzeuger und Prosumer die Möglichkeit zur automatisierten Steuerung ihrer Anlagen und Kraftwerke in Echtzeit haben. Dann können Flexibilitäten vollständig ausgeschöpft werden. So kann zum Beispiel ein Verbraucher für die Reduktion von Netzbezugskosten eingesetzt werden; jedoch könnte er seine Flexibilität auch einer Windturbine zur Verfügung stellen, wenn diese unvorhergesehen weniger Energie produziert als angemeldet.

Dank künstlicher Intelligenz, Automatisierung und Vernetzung sind solche Modelle bereits im heutigen Energiemarkt möglich und bieten einen Mehrwert, der über die individuelle Optimierung hinausgeht. Aufgrund der weiteren Penetration der neuen erneuerbaren Energien, der zunehmenden Elektrifizierung durch E-Mobilität und dem Rückgang von steuerbaren und Bandleistungs-Kraftwerken werden solche Synergien zunehmend wichtiger und wertvoller. Der Trend zur weiteren Vernetzung und die Anbindung aller Erzeuger und Verbraucher wird deswegen weiter zunehmen und die Transformation zur wirtschaftlich und ökologisch nachhaltigen Energielandschaft katalysieren.

Fussnote

1) Energy AI wurde in 2017 von der Renewable Grid Initiative mit dem «Good Practice of the Year» Award in der Kategorie «Technology & Design» ausgezeichnet.

 

Autor
Dr. Christian Zaugg

ist Head of Digital Offering bei Alpiq.

  • Alpiq AG
    4600 Olten

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