Krise als neue Normalität?
Die politische Feder 9/2022
Was über Jahrzehnte nicht mehr als ein Gedankenspiel war, hat sich zu einem ebenso bedrohlichen wie vorstellbaren Szenario entwickelt: Europa steht an der Schwelle zu einer schweren Energiekrise.
Die sichere Energieversorgung ist heute eine Frage der nationalen und öffentlichen Sicherheit, denn ohne sie würde die Wirtschaft lahmgelegt und die Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttert. Unsere Nachbarländer haben das erkannt. Die Regierungen Deutschlands und Österreichs sind wild entschlossen, bei der Energiewende den Turbo zu zünden. Persönliche Befindlichkeiten und andere Interessen, auch Umweltbelange, müssen für dieses überwiegende Interesse hintanstehen.
In der Schweiz dagegen scheint die Zeit still zu stehen. Während nach Fukushima in null Komma nichts eine neue Energiestrategie aus dem Boden gestampft wurde, fehlt heute die Anpassung an die neue Realität. Stattdessen diskutiert man seelenruhig über die Ausweitung von Schutzflächen und damit die weitere Erhöhung der Hürden für die erneuerbaren Energien. Kaum zu glauben, schlägt man mit den Erneuerbaren doch gleich drei Fliegen mit einer Klappe: einen höheren Selbstversorgungsgrad und damit weniger Versorgungsrisiken durch Importabhängigkeit; die Schaffung von Arbeitsplätzen im Inland und Chancen für den Wirtschafts- und Forschungsstandort Schweiz; und einen zentralen Beitrag an den Klimaschutz, welcher wiederum die Basis für den Schutz der Biodiversität ist.
Energie und Natur lassen sich unter einen Hut bringen. Den goldenen Mittelweg zwischen Schutz und Nutzung zu finden, ist machbar, wie zahlreiche Beispiele belegen. In vielen Fällen ist zudem erst durch die energiewirtschaftliche Nutzung Schützenswertes entstanden. Erneuerbare Energie haben wir in der Schweiz mehr als genug, auch die Technologien sind da. Nur läuft uns die Zeit davon, sie auch einzusetzen. Den Luxus jahrelanger Blockaden und Streitigkeiten um Details können wir uns nicht mehr leisten.
Die Coronakrise hat uns gelehrt, dass das scheinbar Undenkbare denkbar ist. Gegen den potenziellen Schaden einer Energiekrise war Corona möglicherweise ein lauer Vorgeschmack. Doch zum Glück haben wir die Bereitstellung einer ausreichenden einheimischen Energieversorgung selbst in der Hand. Sorgen wir also dafür, dass der Krisenmodus nicht zur neuen Normalität wird.
Kommentare
Stefan Roth,
Zeit ist tatsächlich der entscheidende Faktor. Die Systemgrenze für langatmige Auseinandersetzungen nur um den Windpark- oder Stauseeperimeter zu ziehen, wird der Problematik in keiner Art und Weise gerecht.