Kommt die Atomkraft wieder?
Entwicklungen und Herausforderungen
Die Schweiz möchte raus aus der Kernenergie, andere Länder wie Frankreich setzen vermehrt darauf – künftig auch mit Reaktoren der vierten Generation, die sicherer, sauberer und effizienter als bisherige Kraftwerkstypen sein sollen. Können moderne Atomreaktoren ein sinnvoller Teil eines klimaschonenden Energiemixes sein?
Die metallisch grauen Kugeln messen sechs Zentimeter im Durchmesser. Dem Aussehen nach könnten sie auf einem französischen Boulefeld liegen. Doch weit gefehlt. Denn sie sind ein wesentlicher Bestandteil zweier moderner Kugelhaufenreaktoren, die Ende 2023 in China ihren kommerziellen Betrieb aufgenommen haben. Diese zählen zu den Kernreaktoren der vierten Generation, die vor allem die beiden schweren Anklagepunkte der Atomkraft entkräften sollen: Sicherheitsbedenken und radioaktiver Müll. Zudem sollen diese Reaktortypen effizienter als die bisherigen arbeiten und damit kostengünstiger sein. Nach Einschätzung mancher Fachleute könnten Kernkraftwerke der vierten Generation in etlichen Ländern mittel- bis langfristig (2030 bis 2050) eine wichtige Quelle für Grundlaststrom werden [1]. Einige der Konzepte sollen sogar dafür geeignet sein, die schwankende Einspeisung aus erneuerbaren Energien effizient auszugleichen [2].
Die Reaktoren in China zählen zu den sogenannten Hochtemperaturreaktoren, die deutlich höhere Betriebstemperaturen erreichen als traditionelle Siedereaktoren. Möglich wird dies durch ein gasförmiges Kühlmittel und hitzeresistente Werkstoffe aus Keramik. Der radioaktive Brennstoff ist in den tennisballgrossen Graphitkugeln untergebracht – von denen jeder der beiden Reaktoren jeweils mehr als 400’000 Stück enthält. Die Kugeln halten Temperaturen bis zu 2500°C stand und sind daher weitgehend vor einem ungewollten Schmelzen geschützt. Jedes einzelne Exemplar kann während seiner Lebensdauer so viel Energie freisetzen wie 1,5 t Kohle.
Für viele ist es vor allem diese unvorstellbar hohe Energiedichte, die die Kernkraft attraktiv macht: «Man braucht nur winzige Mengen an Brennstoff, um extrem viel Energie zu erzeugen», sagt zum Beispiel Annalisa Manera, Ingenieurin und Professorin für Nukleare Sicherheit und Mehrphasenströmungen am Departement Maschinenbau und Verfahrenstechnik der ETH Zürich. Spaltet man einen einzigen Urankern, wird mehr als eine Million Mal so viel Energie frei wie bei den chemischen Reaktionen einer Verbrennung von fossilen Rohstoffen. «Dies ist die höchste Energiedichte, die wir auf unserem Planeten haben», schwärmt Manera, die wegen ihrer Forschung zur Sicherheit von Kernreaktoren und für ihre Beiträge in der Öffentlichkeit zur Kernenergie Anfang 2023 als Mitglied in die Schweizerische Akademie der Technischen Wissenschaften (SATW) gewählt wurde.
Hinzu kommt, dass beim Spalten von Atomkernen kein CO2 freigesetzt wird, beim Verfeuern fossiler Energieträger hingegen sehr viel, was uns die Klimakrise eingebrockt hat. Es überrascht deshalb nicht, dass die Atomkraft weiterhin zahlreiche Anhänger hat: Etliche Länder, darunter China, Frankreich, Grossbritannien, Polen, Tschechien, USA und Japan wollen mit Hilfe neuer Kernreaktoren ihre Energieversorgung krisenfest und CO2-neutral gestalten. Der Schweizer Bundesrat hat hingegen schon 2011 beschlossen, die bestehenden fünf Atommeiler stillzulegen [3], sobald sie die Sicherheitsanforderungen nicht mehr erfüllen. Neue Reaktoren dürfen nicht mehr gebaut werden [4]. 2016 bestätigte eine Volksabstimmung das entsprechende Gesetz, das schliesslich 2018 in Kraft trat [5]. In Deutschland sind die letzten drei Kernkraftwerke 2023 vom Netz gegangen [6]. «Mir kommt es manchmal so vor, als wäre der deutschsprachige Raum eine Anti-Atomkraft-Blase», urteilt Manera. Zahlreiche andere Länder – auch viele europäische – würden in eine gegensätzliche Richtung steuern und vermehrt auf Kernkraft setzen, so die Expertin.
Dabei soll insbesondere eine neue Generation von Atomreaktoren eine wichtige Rolle spielen. «Als Kernreaktoren der vierten Generation bezeichnet man visionäre Konzepte, an die besondere Kriterien hinsichtlich Sicherheit, Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit vom Generation IV International Forum GIF gestellt wurden», erklärt Thomas Schulenberg, Honorarprofessor am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und ehemaliger Leiter des Instituts für Kern- und Energietechnik am KIT. Er hat sich viele Jahre aktiv in diesem Forum engagiert und ein Fachbuch über die Reaktoren der vierten Generation geschrieben. Insgesamt sechs Reaktortechnologien hat das 2001 gegründete Forum als Kandidaten für Generation-IV-Reaktoren ausgewählt. «Diese beruhen auf Designs, die zum Teil bereits seit vielen Jahrzehnten entwickelt werden, aber noch nicht funktionsreif oder zumindest ökonomisch nicht konkurrenzfähig waren und oft noch sind», sagt Schulenberg.
Ein neues Kühlmittel
Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal der verschiedenen Reaktorkonzepte ist das Kühlmittel. Bei den traditionellen Varianten wird Wasser verwendet. Sie funktionieren wie folgt: Die bei der Kernspaltung entstehende Wärme lässt das Wasser verdampfen; der Wasserdampf treibt wiederum eine Turbine an, die über einen Generator Strom erzeugt. Ein Nachteil davon ist, dass das verdampfte Wasser selbst wieder abgekühlt werden muss, um den Reaktor erneut zu kühlen. Ein Stromausfall kann – zumindest bei älteren wassergekühlten Anlagen – dazu führen, dass der Reaktorkern immer heisser wird und es zu einer Kernschmelze wie in Fukushima kommt. Dabei schmelzen die Hüllrohre um die Brennelemente und setzen radioaktives Material frei.
Verwendet man andere Kühlmittel, etwa flüssige Salze (Molten Salt Reactor, MSR) oder Metalle wie Natrium oder Blei (Lead-cooled Fast Reactor, LFR), die den Reaktor auch bei einem Stromausfall passiv weiterkühlen können, ist eine Kernschmelze im klassischen Sinne ausgeschlossen [7]. In den USA wurde schon in den 1950er- und 1960er-Jahren am Konzept der Flüssigsalzreaktoren gearbeitet [8]. Zwei schnelle natriumgekühlte Reaktoren (Sodium-cooled Fast Reactor, SFR) sind in Russland sogar am Netz, einer seit 1980, der andere seit 2015 [9]. China erforscht und entwickelt seit 2011 mehrere Flüssigsalz-Reaktorkonzepte für die kommerzielle Energiegewinnung. Das Land steht kurz davor, einen ersten Prototypen zu testen [10]. Laut chinesischen Forschern sind 99,99% des Atommülls nach spätestens 300 Jahren in harmlose Elemente zerfallen. Die Technologie würde es sogar erlauben, existierenden Atommüll als Brennstoff zu nutzen [11].
Auch das Schweizer Paul-Scherrer-Institut, PSI, hat erst kürzlich einen Kooperationsvertrag mit dem dänischen Entwickler von Salzschmelzenreaktoren Copenhagen Atomics geschlossen, um Experimente mit Thorium-Flüssigsalz durchzuführen. Ziel sei es, «die Technologie zu validieren und den Kooperationspartnern wertvolle Erfahrungen bei der Planung, dem Bau, der Genehmigung, dem Betrieb und der Stilllegung der neuen Salzschmelzenreaktor-Technologie zu liefern», heisst es in einer Pressemitteilung vom Juni 2024 [12]. Und Russland wiederum hat vor drei Jahren mit dem Bau des weltweit ersten bleigekühlten Schnellen Reaktors – Brest OD-300 – begonnen, der 2026 zu Testzwecken in Betrieb gehen soll [13].
Bei Hochtemperaturreaktoren (Very High Temperature Reactor, VHTR), wie dem Kugelhaufenreaktor in China, soll eine Kernschmelze hingegen fast ausgeschlossen sein, weil die hitzebeständige Graphitbeschichtung der mit Uran gefüllten Kugeln verhindert, dass der Kernbrennstoff oder seine Spaltprodukte in den Reaktorraum austreten. Die USA, Grossbritannien und Deutschland haben an solchen Anlagen geforscht, Japan betreibt einen Testreaktor. Ob die Technik wirklich sicherer ist, wird allerdings bezweifelt: «Wenn es ein Leck gibt und Luft eindringt, entzündet sich das glühend heisse Graphit», erklärt Schulenberg. «Daher würde ich nicht sagen, dass es sicherer ist. Das wäre nur ein anderer Typ von Unfall – aber genauso verheerend.»
Daneben gibt es Reaktoren der Generation IV, die ähnlich aufgebaut sind wie Siedewasserreaktoren, aber mit überkritischem Wasser gekühlt werden (Supercritical-water-cooled Reactor – SCWR). «Der Druck darin ist so hoch, dass das Wasser nicht siedet und sich im sogenannten überkritischen Zustand befindet», erklärt Schulenberg, der in den 2000er-Jahren gemeinsam mit Studenten und Doktoranden an einem Konzept für einen solchen Reaktor gearbeitet hat. Weil das Wasser nicht verdampft, hat es eine höhere Dichte sowie höhere Temperatur und kann die Wärme besser aufnehmen, weshalb der Wirkungsgrad des Reaktors vergleichsweise gross ist. «Ausserdem besteht der Kraftwerkstyp aus weniger Komponenten, weshalb er preiswerter herstellbar sein sollte», sagt Schulenberg. Noch befindet sich die Entwicklung eines solchen Reaktortyps in einem frühen Stadium. «Unsere Forschung war damals in dem Sinne erfolgreich, als dass viele Studenten im Anschluss in die Kernenergietechnik gegangen sind», erinnert sich Schulenberg. Zu jener Zeit gab es in Deutschland noch einen grossen Bedarf an Nachwuchskräften für die Entwicklung der Atomkraft. Heute dagegen gehört Schulenberg in seiner Heimat zu einer «aussterbenden Spezies». In der Schweiz gebe es inzwischen mehr Atomkraftexpertise, glaubt er.
Schwammige Begriffsdefinition
Weil die Idee von schnellen natriumgekühlten Reaktoren der Generation IV bereits in den 1970er-Jahren aufkam und mehrere Anlagen bereits gebaut wurden, hält Manera die Klassifizierung der AKWs für «ziemlich schwammig»: «Das GIF wurde zwar erst im Jahr 2001 gegründet, das Konzept und die Ideen hinter manchen Generation-IV-Reaktoren reichen jedoch viel weiter zurück», sagt sie. «Schon vor mindestens 60 Jahren hat man nach Wegen gesucht, um die Effizienz der Brennstoffnutzung zu verbessern.» Daher gebe es viele Missverständnisse darüber, was diese «neue» Generation an Reaktoren überhaupt ist, vermutet sie.
Seit der Begriffsdefinition um die Jahrtausendwende haben sich auch die traditionellen Konzepte weiterentwickelt. «Bei den wassergekühlten Reaktortypen haben wir ein Sicherheitsniveau erreicht, das wirklich schwer zu schlagen ist», sagt Manera. Laut statistischen Risikoabschätzungen komme es innerhalb von zehn Millionen Jahren oder sogar einer Milliarde Jahre nur noch zu einem einzigen kritischen Zwischenfall. «Aus der Ingenieursperspektive ist die Unfallwahrscheinlichkeit praktisch bei Null», sagt sie. Passive Sicherheitssysteme sorgen etwa dafür, dass eine Kernschmelze ausgeschlossen ist. «Die Art der Kühlflüssigkeit ist also kein ausschlaggebender Sicherheitsfaktor, es kommt auf das Design des Reaktors an.» Daher seien die Reaktoren der Generation IV laut Manera wegen Folgendem attraktiv: «Einige können sehr hohe Temperaturen erreichen, mit denen man eine ganze Reihe von industriellen Prozessen betreiben könnte. Und eine Untergruppe nutzt schnelle Neutronen, mit denen sich Material, das eigentlich kein Brennstoff ist, in Brennstoff umwandeln lässt. So erhält man viel mehr Energie bei deutlich weniger Abfall.» Hinzu kommt, dass sich bestehender Atommüll mit manchen Reaktoren der vierten Generation recyceln lässt. «95% von dem, was wir heute als Atommüll bezeichnen, könnte immer noch als Brennstoff dienen», sagt Manera.
Solche Argumente überzeugen offenbar. Gemeinsam mit dem Wirtschaftsdachverband Economiesuisse forderten etwa SVP- und FDP-nahe Kreise im Sommer 2024 mit der Initiative «Blackout stoppen» den Ausstieg aus der Kernkraft rückgängig zu machen [14]. Der Schweizer Umwelt- und Energieminister Albert Rösti beantragte daraufhin im Bundesrat formell, das bestehende AKW-Neubauverbot aus dem Gesetz zu streichen.
Die ökonomische Perspektive
Der Hauptkritikpunkt an der Kernenergie ist, dass sie schlicht zu teuer sei. «Bei Atomkraftwerken sind über viele Jahrzehnte die Kosten nicht zurückgegangen, weil die Technologie sehr komplex ist», sagt der Ökonom Jonas Savelsberg von der ETH Zürich, der sich schon lange mit Energiesystemen aus der Wirtschaftsperspektive auseinandersetzt und den Strommarkt modelliert. Daran würden auch die Reaktoren der vierten Generation nichts ändern. Auf der anderen Seite gebe es alternative Technologien, die man in sehr grossen Mengen standardisiert produzieren könne: «Solar- und Windenergie wurden über die letzten Jahre erheblich günstiger.»
Seine Aussagen werden unter anderem durch die Berechnungen der US-Investmentbank Lazard und der Unternehmensberatung Roland Berger bestätigt. Die Unternehmen nutzten dazu die Levelized Costs Of Energy (LCOE) – eine Kennzahl für die Kosten der Energieproduktion. Die LCOE ist so etwas wie der durchschnittliche Mindestpreis, zu dem die von der Anlage erzeugte Elektrizität verkauft werden muss, um die gesamten Produktionskosten während der Lebensdauer zu decken. In den letzten Jahren ist der LCOE für Atomstrom laut Lazard um fast 50% gestiegen; in der gleichen Zeit fiel er für Solar um mehr als 80 und für Wind um 65% [15]. Demnach liegt der LCOE für Atomstrom bei etwa 18 US-Cent, bei Solarenergie und Windkraft um die 5 US-Cent pro Kilowattstunde.
Das Fraunhofer Institut für Solare Energiesysteme ISE in Freiburg, Deutschland, kommt für die LCOE der Atomkraft sogar auf Werte von bis zu 50 Eurocent pro Kilowattstunde [16]. Windkraft und PV-Anlagen lägen dagegen zwischen 4 und 15 Eurocent. Hinzu kommt, dass der LCOE-Wert langfristige Kosten wie die Endlagerung von Atommüll nicht berücksichtigt. Damit wäre die Kernkraft die teuerste Art der Stromerzeugung.
Da Lazard eine Investmentfirma ist, die in erneuerbare Energien investiert, und das ISE an Solarenergie forscht, sehen Kritiker hier allerdings keine unabhängige Auseinandersetzung mit der Thematik. «Es wurden unrealistische Worst-Case-Annahmen für die Kernenergie zugrunde gelegt», so beispielsweise der Vorwurf von Manera. Das PSI ermittelte etwa in einem Report für das Bundesamt für Energie aus dem Jahr 2017 den LCOE-Wert auf 5 bis 12,5 Rp./kWh [17]. Im ungünstigsten, aber sehr unwahrscheinlichen Fall könnte der Wert auf 27,5 Rp./kWh steigen.
Der Report gehe jedoch von niedrigen Investitionskosten und von einem Grundlastbetrieb aus, der in Zukunft immer unwahrscheinlicher werde, bemängelt Savelsberg wiederum. «Auf europäischer Ebene bewegen wir uns hin zu einem Stromsystem, in dem der grösste Teil mit Wind, Sonne und Wasserkraft gedeckt werden wird», sagt er. «Nun müssen wir uns die Frage stellen, wie sich der Rest vernünftig erzeugen lässt.» Technisch braucht es dazu eine Methode, die flexibel hochgefahren werden kann, sobald die Nachfrage das Angebot an erneuerbaren Energien übersteigt. «Es ist ein Missverständnis, dass die Kernenergie das nicht leisten kann», sagt Manera. «In Frankreich wird das die ganze Zeit praktiziert.» Aus wirtschaftlicher Sicht sei es allerdings nicht sinnvoll, einen Kernreaktor nur zeitweise mit voller Leistung zu betreiben, räumt sie ein. Und genau das ist für Savelsberg das grundlegende Problem: «Wenn man auf Kernenergie als komplementäre Technologie zu den erneuerbaren Energien setzt, wird eine einzelne Stromeinheit sehr teuer. Denn die abzuschreibenden Investitions- und die Betriebskosten der Reaktoren bleiben gleich, unabhängig davon, ob sie gerade Strom produzieren oder nicht.» Die ohnehin schon teure Energie eines AKWs wird also noch teurer. Das bestätigt auch Schulenberg: «Wenn man jede einzelne Kilowattstunde von Wind und Sonne nutzen will, dann macht ein Kernkraftwerk ökonomisch keinen Sinn, die Fixkosten sind viel zu hoch.»
Und diese hohen Kosten beginnen schon beim Bau: In seinem Buch «How Big Things Get Done» kommt Bent Flyvbjerg, Ökonom und Professor an der IT University of Copenhagen, zum Ergebnis, dass Kernkraftwerke im Schnitt 120% teurer werden als geplant. End- oder Zwischenlagerung kosten sogar rund 240% mehr, als ursprünglich kalkuliert wurde [18]. Ein aktuelles Beispiel lässt sich in Polen verfolgen: Das Land wollte 2033 seinen ersten Reaktor fertigstellen, was inzwischen auf 2040 verschoben wurde bei 14 Jahren Bauzeit und hohen Kosten, wie das Magazin «Focus» berichtet [19].
Das Kernkraftwerk Hinkley Point C im englischen Somerset sollte bei Baubeginn 2016 rund 21 Mia. Euro kosten, mittlerweile geht man von rund 40 Mia. aus [20]. Und statt 2025 wird der erste von insgesamt zwei Reaktoren frühestens 2031 ans Netz gehen [21]. Allerdings werden die beiden Einheiten des Hinkley Point C voraussichtlich so viel Strom erzeugen wie alle Schweizer Kernkraftwerke zusammen. «Will man die gleiche Menge mit Alpensolar produzieren, würden die Anlagen mehr als 50 Milliarden Schweizer Franken kosten», ordnet Manera ein. Gleichwohl zählt diese Methode zu einer der teuersten erneuerbaren Stromquellen.
Zur Wahrheit gehört auch, dass die Bauzeiten stark variieren: China, Japan oder Südkorea stellten zum Beispiel ihre jüngeren Reaktoren oft innerhalb von fünf bis sieben Jahren fertig [22]. Laut Statista liegt der Median für den Bau eines Kernreaktors in den Jahren 2020 bis 2022 bei etwas mehr als sieben Jahren [23]. Besonders China sticht heraus. Obwohl das Land erst im Jahr 1981 sein erstes Atomkraftwerk genehmigt hat, sind heute schon 57 Reaktoren in Betrieb und 30 weitere werden gebaut. So hat das chinesische Atomprogramm in den letzten Jahrzehnten einen hohen Grad an Standardisierung erreicht, von dem andere Länder nur träumen können. Die gebauten Reaktortypen sind oft einheitlich, zugehörige Lieferketten etabliert und erfahrene Arbeitskräfte vorhanden. Zudem garantieren staatliche Banken die Finanzierung. «Neue Atomkraftwerke werden eigentlich nur gebaut, wenn der Staat sie finanziert», sagt Savelsberg. Für private Investoren ist das Risiko zu hoch, weil sowohl Investitionssumme als auch Bauzeit in der Regel ungewiss sind.
Manera ist jedoch optimistisch, dass sich eine Standardisierung sowie höhere Effizienz in der Produktion über die gesamte Branche hinweg durchsetzen könnte und der Bau neuer Kraftwerke auch in Europa künftig wieder schneller geht. «Man entwickelt ausserdem kleine modulare Reaktoren und sogar Mikroreaktoren, die zu grossen Teilen in Fabriken gefertigt werden. Das macht die Herstellung viel kosteneffizienter.» Solche Anlagen könnten etwa Energie für ein grosses Unternehmen liefern, das viel Strom oder Wärme benötigt und nicht von den Preisschwankungen im Netz abhängig sein will, denkt sie.
Noch sei der Strom eines «Small Modular Reactors», SMR, aber teurer als der der grossen, sagt Schulenberg. «Ich denke nicht, dass sich das bald ändert.» Manche, wie etwa die Firma NuScale Power, mussten bereits geplante SMRs wegen explodierender Kosten wieder einstellen [24]. Andere glauben weiterhin an die Technologie – zum Beispiel das Unternehmen Rolls-Royce, das an einem SMR arbeitet [25]: «Jedes fabrikgefertigte Kernkraftwerk wird genügend bezahlbaren, kohlenstoffarmen Strom liefern, um eine Million Haushalte mehr als 60 Jahre lang zu versorgen», heisst es in einer Pressemitteilung der Firma aus dem Jahr 2024 [26].
«Nicht jedes Land ist an grossen Anlagen interessiert», sagt Manera. Es gebe bereits mehrere europäische Länder, die den Kauf von SMRs in Betracht ziehen – darunter Polen, Rumänien und Grossbritannien. «Bei uns in Europa sehe ich hierfür keinen Markt», urteilt Schulenberg hingegen. «Sinnvoll könnten die SMRs für sogenannte Inselnetze sein, wo man die Leistung von grossen Atomkraftwerken gar nicht losbekommen würde», sagt er. Solche Netzinfrastrukturen gibt es etwa in Kanada, Alaska oder Sibirien. Eine Idee für die ferne Zukunft ist auch, solche Minikraftwerke im All zu nutzen. Die US-amerikanische Raumfahrtbehörde Nasa hat gemeinsam mit dem Los Alamos National Laboratory bereits einen Demonstrationsreaktor mit dem Kürzel Krusty entwickelt [27]. China und Russland entwickeln ebenfalls ein Modell, das auf einer Forschungsstation auf dem Mond zum Einsatz kommen könnte [28].
Wie entwickelt sich die Energieversorgung?
Doch zurück zur Erde: Kann die Atomkraft in Zukunft ein sinnvoller Teil eines kohlenstoffarmen Energiemixes sein? Schulenberg und Manera sind davon überzeugt. Für Schulenberg etwa ist die angestrebte Struktur der Energieversorgung eine rein politische Entscheidung: «Frankreich sagt: Wir setzen bei unserer Grundstromversorgung im Wesentlichen auf Kernenergie und produzieren nebenbei Solar- und Windenergie.» Das sei einfach ein anderes Konzept. Er denkt sogar, dass Frankreich auf Dauer billiger Strom produzieren werde als Deutschland. Denn Flauten ohne Wind und Sonne müssen mit alternativen Technologien überbrückt werden, beispielsweise mit Speichertechnologien wie Batterien und Wasserstoff oder Gas- oder Ölkraftwerken mit CCS, also der Abscheidung und Speicherung des entstehenden CO2-Gases.
Viele dieser Ansätze seien nicht effizient, noch nicht einsatzfähig oder würden ebenfalls hohe Kosten verursachen, sagt Manera. Sie findet das Verhalten von Deutschland daher «heuchlerisch»: «Man will keine Kernenergie mehr, aber dann importiert man Atomstrom aus Frankreich. Das macht wenig Sinn.» Sie ist der Meinung, dass Kernenergie auf dem Weg zur CO2-Neutralität unverzichtbar ist und in vielen Ländern die energetische Grundversorgung in Zukunft gewährleisten wird. Zu diesem Schluss kommt auch ein Grundlagenpapier, das Manera kürzlich zusammen mit anderen führenden Schweizer Kernkraftforschern im Auftrag des Bundes verfasst hat. Gemäss dem Bericht ist die Kernkraft ausserdem nicht zwangsläufig teurer als andere Energiequellen, so lange man sie sinnvoll in das Stromversorgungssystem integriert [29].
Savelsberg sieht das anders: «Wir werden in Europa künftig einen Grossteil des Jahres die komplette Last mit den Erneuerbaren decken können.» Manchmal gibt es schon jetzt zu viel Strom. «Unter solchen Bedingungen lohnt sich ein Atomkraftwerk nicht mehr, weil seine Grundlast dann gar keinen Wert mehr hat», erklärt Savelsberg. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt eine Studie der ETH Zürich, die die Rolle der Kernenergie für das Schweizer Stromsystem bewertet. Eines der Resultate war, dass bei den derzeitigen Investitionskosten für Atomkraftwerke in Europa der Bau einer neuen Anlage zu wesentlich höheren Kosten führt als das Szenario ohne neue Kernkraftwerke. Allerdings kommt die Studie auch zum Schluss, dass ein längerer Betrieb der bestehenden Kernkraftwerke im Winter die Stromimporte reduzieren würde. Das könnte die Gesamtkosten der Stromversorgung senken und den Anstieg der Strompreise abschwächen, so das Fazit der Autoren [30].
Manera bemängelt unter anderem, dass dem Nuklearszenario ein sehr grosser Unsicherheitsfaktor hinzugefügt wurde – nur deshalb sei es kostspieliger geworden. Sie stützt ihre Meinung auf eine 2022 veröffentlichte OECD-Studie der Nuclear Energy Agency für die Schweiz [31]. Diese kommt zum Ergebnis, dass der Strom billiger wäre, wenn neue Kernkraftwerke gebaut würden. Allerdings resultiert diese Situation wiederum vor allem aus Gewinnen aus Stromexporten, «die lediglich zustande kommen, weil für die Nachbarländer historische Strompreise angenommen wurden», so Savelsberg. Würde man auch dort sinkende Kosten voraussetzen, fielen die Gewinne grösstenteils weg. Es zeigt sich also, dass die Ergebnisse völlig unterschiedlich ausfallen können, je nachdem welche Annahmen getroffen werden.
Ungeachtet der Kontroverse um die Kernenergie befindet sich die Schweiz bereits heute in einer komfortablen Situation, was die Versorgungssicherheit mit Strom betrifft. Ein erheblicher Teil des Bedarfs an elektrischer Energie wird durch die wenig schwankungsanfällige Wasserkraft gedeckt. Zudem gibt es Pumpspeicherkraftwerke für überschüssigen Strom, die diesen bei Bedarf wieder zur Verfügung stellen können. «Hierzulande ist die Lösung für die Energiewende also längst da», resümiert Savelsberg. In Deutschland hingegen setzt man übergangsweise auf Erdgaskraftwerke. «Wie es allerdings weitergehen soll, wenn man kein Gas mehr verbrennen möchte, ist noch völlig unklar», bemängelt Schulenberg. Die deutsche Politik möchte bei nicht vermeidbaren Emissionen mit CCS arbeiten, um das ausgestossene CO2 abzufangen und zu speichern [32]. Zudem soll ein umfangreicher Netzausbau die Stromversorgung gewährleisten.
Die Idee dahinter erklärt Savelsberg: «Der grosse Vorteil in Europa gegenüber anderen Regionen ist, dass es ein gemeinsames Netz gibt, in dem sich Strom untereinander handeln lässt.» In einem so grossflächigen Verbundsystem gleichen sich Angebot und Nachfrage im Mittel aus, so die Annahme. Irgendwo in Europa gibt es immer so viel Wind, Sonne und Wasserkraft, dass es meistens für alle reicht. Und wenn nicht, gibt es Back-up-Technologien wie Batterien und Gaskraftwerke mit CCS. Da aber einige Nationen weiterhin auf die Kernkraft setzen, wird auch diese Technologie in Zukunft Teil der europäischen Stromversorgung bleiben. «Natürlich muss nicht jedes Land in Europa Kernenergie haben», findet Schulenberg. Viel wichtiger sei es, dass man gemeinsam vernünftige Lösungen findet. Damit sind auch Manera und Savelsberg einverstanden.
Referenzen
[1] www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0301421513006083?via%3Dihub
[2] arxiv.org/pdf/2302.14515
[3] www.uvek.admin.ch/uvek/de/home/uvek/abstimmungen/abstimmung-zum-energiegesetz/kernenergie.html
[4] www.uvek.admin.ch/uvek/de/home/uvek/abstimmungen/atomausstiegsinitiative.html
[5] www.zeit.de/wirtschaft/2017-05/schweiz-volksabstimmung-atomausstieg-energiewende
[6] www.bmuv.de/media/atomkraftwerke-in-deutschland-abschaltung-der-noch-betriebenen-reaktoren-gemaess-atomgesetz-atg
[7] www.sciencedirect.com/science/article/pii/S1687850713000101
[8] energyfromthorium.com/pdf/NAT_MSREexperience.pdf
[9] en.wikipedia.org/wiki/Sodium-cooled_fast_reactor#Reactors
[10] www.mdr.de/wissen/china-startet-ersten-thorium-fluessigsalz-reaktor-atomkraft-100.html
[11] edison.media/energie/ist-der-fluessigsalzreaktor-das-perfekte-kraftwerk/25223783
[12] www.psi.ch/de/news/medienmitteilungen/zusammenarbeit-in-der-reaktorforschung
[13] www.nuklearforum.ch/de/news/russland-baubeginn-fuer-bleigekuehlten-schnellen-reaktor
[14] www.tagesanzeiger.ch/akw-neubau-schweiz-roesti-will-verbot-kippen-198816516068
[15] www.lazard.com/media/xemfey0k/lazards-lcoeplus-june-2024-_vf.pdf
[16] www.ise.fraunhofer.de/de/veroeffentlichungen/studien/studie-stromgestehungskosten-erneuerbare-energien.html
[17] www.psi.ch/sites/default/files/import/ta/PublicationTab/Final-Report-BFE-Project.pdf
[18] www.n-tv.de/wirtschaft/Warum-China-AKWs-bauen-kann-und-wir-nicht-article25171647.html
[19] www.focus.de/earth/analyse/kurs-verschlingt-milliarden-ein-ungeloestes-problem-gefaehrdet-polens-riskante-atomkraft-plaene_id_260254192.html
[20] www.edf.fr/en/the-edf-group/dedicated-sections/journalists/all-press-releases/hinkley-point-c-update-1
[21] www.zdf.de/nachrichten/politik/ausland/atomkraftwerk-atomenergie-grossbritannien-bau-100.html
[22] thebreakthrough.org/issues/energy/chinas-impressive-rate-of-nuclear-construction#:~:text=The%20Chinese%20nuclear%20project%20construction,to%20just%20over%207%20years
[23] www.statista.com/statistics/712841/median-construction-time-for-reactors-since-1981
[24] www.theguardian.com/australia-news/2023/nov/09/small-modular-nuclear-reactor-that-was-hailed-by-coalition-as-future-cancelled-due-to-rising-costs
[25] www.rolls-royce-smr.com
[26] www.rolls-royce-smr.com/press/rolls-royce-smr-presses-home-advantage-as-it-moves-into-final-step-of-uk-regulatory-assessment
[27] www.nasa.gov/tdm/fission-surface-power
[28] www.spiegel.de/wissenschaft/weltall/russland-entwickelt-atomkraft-fuer-den-mond-a-ad047003-9e89-45fb-9cd6-9795006c021d
[29] www.bfe.admin.ch/bfe/de/home/news-und-medien/publikationen.exturl.html/aHR0cHM6Ly9wdWJkYi5iZmUuYWRtaW4uY2gvZW4vcHVibGljYX/Rpb24vZG93bmxvYWQvMTE4Mzg=.html
[30] nexus-e.org/role-of-nuclear-power
[31] www.oecd.org/en/publications/achieving-net-zero-carbon-emissions-in-switzerland-in-2050_ac21f8be-en.html
[32] www.bmwk.de/Redaktion/DE/Pressemitteilungen/2024/05/20240529-entscheidung-ccs-industrie-deutschland.html
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