Kohn und der Kaiseraugst-Krimi
Neuerscheinung
Als einer der profiliertesten Exponenten der Schweizer Wirtschaft stand Michael Kohn (1925–2018) wie kein anderer für die Atomenergie. Die Kernkraftwerke Kaiseraugst und Gösgen sind unzertrennlich mit seinem Namen verbunden – als grösste Niederlage und als grösster Erfolg seiner Karriere. Karl Lüönd hat über den Sohn jüdischer Einwanderer eine Biographie verfasst.
Michael Kohn studierte von 1944 bis 1948 Bauingenieurwesen an der ETH Zürich und fand anschliessend eine Stelle bei der Empa, wo er sich mit der Stabilität von Beton auseinandersetzte. Nach den entbehrungsreichen Kriegsjahren fiel sein beruflicher Start also mit dem wirtschaftlichen Aufbruch, mit dem Start ins Wirtschaftswunder zusammen. Kohn war denn auch geprägt von dieser Aufbruchstimmung, die er wie folgt kommentierte: «Ich hatte nie Angst, arbeitslos zu werden. Ich sah ja, dass Geld investiert wurde, da fühlten wir uns sicher. Wir wussten doch: Jetzt geht’s los, jetzt werden wir gebraucht.»
Von Ziegelstein-Experimenten zu den Staumauern
An der Empa beschäftigte sich Michael Kohn mit der statischen Prüfung von Ziegelsteinen und Betonwänden. Seine Erkenntnisse veröffentlichte er unter anderem in Artikeln in der «Schweizerischen Bauzeitung». Mit ihren Materialkenntnissen spielte die Empa eine wichtige Rolle bei den grossen Kraftwerkprojekten der Nachkriegszeit. So kam Kohn in Kontakt mit Motor-Columbus und den grossen Staumauerbauten in den Alpen. In Zervreila war er für die Berechnung der Staumauer zuständig.
Ein Inserat machte ihn auf eine Stelle in Israel aufmerksam, wo mit dem National Water Carrier die Wasserversorgung im ganzen Land verbessert werden sollte. Rund vier Jahre verbrachte er daraufhin hauptsächlich «im Wüstensand», wo er sich internationale Erfahrung aneignen konnte. Diese brachte ihn, als er nach Baden zur Motor-Columbus zurückkehrte, bald an die Spitze des Unternehmens. Neben seinem technischen Wissen zeichnete sich Kohn insbesondere durch einen ausgeprägten kaufmännischen Sinn sowie durch sein Kommunikationstalent aus. Er selbst verwies dabei immer wieder auf seine Kindheit, in der er im väterlichen Geschäft an der Langstrasse Hosen verkauft hatte: «Da lernt man mit den Leuten reden, damit sie einen verstehen.»
Die Energiewende 1960–1980: Vom Kernkraft-Hype …
In den 1960er-Jahren vollzog die Schweizer Energiepolitik eine Wende. Die Zeit der Wasserkraftwerke ging zu Ende; jedes Ausbauvorhaben begegnete erbittertem Widerstand von Naturschützern. Doch der Strombedarf stieg weiterhin. Eine Alternative wären thermische Kraftwerke auf der Basis von Kohle oder Erdöl gewesen, doch die wollte niemand: zu dreckig und erst noch zu teuer! So lag der Fokus voll und ganz auf der Atomenergie. Noch erschien diese als sauber und unproblematisch. So entstanden die ersten Kernkraftwerke in der Schweiz: Beznau I und II (1969 respektive 1972) sowie Mühleberg (1972).
… zur vernichtenden Atom-Kritik
Ebenfalls in den 1960er-Jahren ereigneten sich aber auch die ersten Unfälle mit Kernreaktoren. In der Schweiz war es der Vorfall von Lucens, wo in Folge einer Explosion im Versuchsreaktor die unterirdische Kavernenanlage radioaktiv verseucht wurde. Doch es waren nicht diese Unfälle, die zum Meinungsumschwung in breiten Teilen der Bevölkerung führten. Der Widerstand regte sich erst, als die immer grösseren Reaktoren nicht mehr mit Flusswasser gekühlt werden konnten, sondern Kühltürme notwendig wurden. Nun vereinigten sich Landschaftsschützer, Atomkritiker und Kapitalismusgegner zu einer wirkungsvollen Gegnerschaft. Das definitive Aus für neue Kernkraftwerke in der Schweiz besiegelte dann aber der Super-GAU in Tschernobyl.
Michael Kohn und das Projekt Kaiseraugst
Michael Kohn erlebte diese Entwicklung nicht nur hautnah mit, sondern war die prägende Figur auf Seiten der Kernkraftbauer. 1962 stieg er in die Direktion der Motor-Columbus AG auf, die von der Brown, Boveri & Cie. (BBC, heute ABB) zur Finanzierung und Ausführung grosser Energieinfrastrukturprojekte gegründet worden war. Von Beginn an setzte er auf die Atomenergie, und 1966 wurde das Projekt eines Kernkraftwerks in Kaiseraugst öffentlich angekündigt. Der begnadete Kommunikator Kohn sorgte mit regelmässigen Informationsveranstaltungen für eine gute Information der Öffentlichkeit, den Behörden wurde das Projekt unter anderem mit Reisen zu ausländischen Kernkraftwerken vorgestellt. So begrüssten die Standortgemeinden das Vorhaben bedenkenlos.
Als aber aufgrund eines Gutachtens der Bau von zwei 115 Meter hohen Kühltürmen notwendig wurde, kippte die Stimmung. In der Folge verhärteten sich die Fronten. Während Vertreter aus der Finanzwirtschaft im Verwaltungsrat von Motor-Columbus bereits Anfang der 1970er-Jahre einen Abbruch des Projekts Kaiseraugst ins Spiel brachten, hielt Michael Kohn am Plan fest. Für ihn war Kaiseraugst mehr und mehr eine Schicksalsfrage. Ein Verzicht würde die Realisierung von Kernkraftwerken in der Schweiz um zehn Jahre zurückwerfen: «Wenn es hier nicht geht, geht es überhaupt nirgends.»
Besetzung und Brandanschläge
Mit den Atomkraftgegnern suchte Michael Kohn den Dialog. Als sie 1975 eine Besetzung des brach liegenden Baugeländes ankündigten und bei Motor-Columbus um eine Bewilligung ersuchten, wurde ihnen diese gegeben. Doch die Konfrontation spitzte sich zu. Die Besetzung wurde zu einem mehrwöchigen «Happening» mit Unterstützung in der breiten Bevölkerung. In der Folge kam es zu weiteren Demonstrationen und zu verschiedenen politischen Vorstössen gegen das Kernkraftwerk Kaiseraugst, womit der Projektfortschritt mehr und mehr gelähmt wurde. Der Höhepunkt der Konfrontation war 1979 gekennzeichnet durch einen Bombenanschlag auf einen Informationspavillon sowie einen Brandanschlag auf das Auto von Michael Kohn in seiner Tiefgarage.
Und dann kam Tschernobyl ...
Durch die Verzögerung um die Kühlwasserfrage und die immer neuen Auflagen verzögerte und verteuerte sich das Projekt Kaiseraugst zusehends. Damit war das Projekt in einer ersten Krise, noch bevor der öffentliche Widerstand richtig aufflammte. Ab 1979 wurde ein Projektabbruch dann auch öffentlich diskutiert. Aber noch bis Mitte der 1980er-Jahre hielt Michael Kohn daran fest. Die endgültige Wende brachte die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Verweise von Michael Kohn, wonach sich Tschernobyl von westlichen Kernkraftwerken grundsätzlich unterscheide, nützten nichts. Auf Initiative von Christoph Blocher wurde ein Abkommen in die Wege geleitet, mit dem der Bundesrat und die Kernkraftwerk Kaiseraugst AG einen Projektabbruch unter Entschädigung abschlossen. Für Michael Kohn war dies die grösste Niederlage in seiner Karriere.
Bei Gösgen lief alles anders als in Kaiseraugst
Eine «Erfolgsstory» spielte sich dagegen im Solothurnischen Bezirk Gösgen ab. Die Voraussetzungen, aber auch das Vorgehen waren gänzlich andere. Mit dem späteren Bundesrat Willi Ritschard hatte Michael Kohn nicht nur einen persönlichen Freund in der Solothurner Regierung, sondern auch eine volksnahe und angesehene Persönlichkeit, die als SP-Mitglied auch in linken Kreisen zu überzeugen vermochte. Taktisch klug wurden die künftigen Steuereinnahmen auf alle umliegenden Gemeinden verteilt, was den Kreis der Unterstützer automatisch erhöhte. Zwar regte sich auch hier Widerstand, doch war er zu klein und zu spät. Die grössten Demonstrationen fanden vor dem Kühlturm statt, also vor vollendeten Taten. Nach nur sechsjähriger Bauzeit nahm das KKW Gösgen-Däniken 1979 seinen Betrieb auf.
Wie Michael Kohn zum «Energiepapst» wurde
Mit den Projekten in Kaiseraugst und Däniken (der Standortgemeinde des KKW Gösgen-Däniken) wurde Michael Kohn zum national bedeutenden Energiemanager. Der Höhepunkt seiner Karriere stellte das Präsidium der Kommission zur Erarbeitung einer Gesamtenergiekonzeption dar, in das ihn Bundesrat Willi Ritschard berief. Von 1974 bis 1978 wendete Kohn rund zwei Tage in der Woche auf, um alle möglichen Szenarien durchzurechnen und zu beurteilen. Am Schluss präsentierten er und seine Kommissionsmitglieder 13 Szenarien für eine zukünftige Energiewirtschaft. Alt Bundesrat Adolf Ogi bilanzierte: «Michael Kohn kann mit Fug und Recht als Wegbereiter einer zukunftsfähigen schweizerischen Energiepolitik bezeichnet werden.»
Der «Drei-Tage-Jude» im Einsatz für die jüdische Gemeinde
In seiner aktiven Zeit als Energiemanager spielte Michael Kohns jüdische Herkunft keine Rolle. Nicht einmal beim Jordan-Wasserwerk war sein Judentum anfänglich bekannt. Zudem war Kohn religiös nicht besonders aktiv. Er bezeichnete sich als «Drei-Tage-Juden», der aus Respekt gegenüber Tradition und Herkommen die höchsten Feiertage hielt. Das änderte sich nach seinem Rückzug aus der Privatwirtschaft, als er das Präsidium des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes übernahm. Während vier Jahren versuchte er, die oft zerstrittene jüdische Gemeinde für ein pragmatisches Miteinander zu gewinnen – dann gab er das Amt entnervt ab.
Trotzdem blieb Michael Kohn für die jüdische Sache aktiv. Als in den 1990er-Jahren die nachrichtenlosen Vermögen zum Top-Thema avancierten und sich der Streit zwischen den USA und der Schweiz anbahnte, engagierte sich Michael Kohn in eigener Mission und auf höchster Ebene. Zusammen mit anderen jüdischen Vertretern versuchte er, den aggressiv auftretenden Amerikanern den schweizerischen Standpunkt verständlich zu machen. Einmal mehr setzte sich Kohn für den Dialog ein und versuchte, im Gespräch Brücken zu bauen und gegenseitiges Verständnis zu fördern.
Die Erfahrung des Antisemitismus
Seine Verantwortung gegenüber der jüdischen Gemeinschaft lag auch in Kindheitserfahrungen begründet. «Wir gehörten eben doch nicht wirklich dazu!» So kommentierte Michael Kohn die antisemitischen Aktionen, die auch das Geschäft seines Vaters in den 1930er-Jahren betrafen. Die Kriegsjahre bedeuteten zusätzlichen Kummer. Auch Michael Kohn und seine Familie konnten nie wissen, wie lange sie noch sicher sein könnten.
Das Erbe bewahren
Der Verein für wirtschaftshistorische Studien hat es sich zur Aufgabe gemacht, das wirtschaftshistorische Erbe der Schweiz zu bewahren. Mit seiner Buchreihe «Schweizer Pioniere der Wirtschaft und Technik» will der Verein Werk und Wirkung von Erfindern, Ingenieuren, Unternehmern und Wissenschaftern der Schweiz einem breiteren Publikum bekannt machen. Zugleich dokumentieren die Pionierbände, dass auch in Zeiten raschen Wandels schöpferisches Denken und unternehmerische Tatkraft für Gegenwart und Zukunft wegweisend sind. Seit 1950 sind in bislang 117 Publikationen herausragende Persönlichkeiten und bemerkenswerte Unternehmen porträtiert worden. Der Verein umfasst über 600 Mitglieder. Nebst zahlreichen Journalisten befinden sich darunter namhafte Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft.
Buchhinweis
Karl Lüönd: Der Energiepapst. Wirken, Werk und Werte von Michael Kohn, Schweizer Pioniere der Wirtschaft und Technik, Band 117, hrsg. vom Verein für wirtschaftshistorische Studien, Zürich 2020. 128 Seiten, 43 Bilder, 31 Franken. Das Buch ist hier erhältlich.
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