Interview Erneuerbare Energien , Regulierung

«Klimaschutz gibt es nur durch Elektrifizierung»

Schutz und Nutzung

01.12.2021

CO2 abbauen, mehr grünen Strom produzieren und gleichzeitig Landschaft und Biodiversität erhalten: Die Schweiz steht vor einem gigantischen Generationenprojekt. VSE-Direktor Michael Frank, Nationalrätin Ursula Schneider Schüttel und Umweltforscher Frank Krysiak diskutieren, wie Zielkonflikte zwischen Energiestrategie und Umweltschutz aufgelöst werden können.

Bulletin: Was muss sich in unserer Energieversorgung ändern, damit wir das Klima schützen können?

Michael Frank: Wenn wir netto null erreichen wollen, müssen wir einerseits Energie effizienter nutzen und andererseits mehr grünen Strom produzieren. Wir brauchen mehr Produktionsstandorte für Erneuerbare, mehr PV-Panels, mehr Windräder, mehr Wärmenetze, Speicher, höhere Staumauern und den Ausbau der Netze. Gemäss den Energieperspektiven 2050+ des Bundes müssen die erneuerbaren Energien Sonne, Wind, Biomasse und Geothermie ihre Produktion verzehnfachen. Der zusätzliche Produktionsbedarf entspricht mehr als dem Volumen der heutigen Wasserkraftproduktion. Schaffen wir dieses Ziel nicht, bleibt der Klimaschutz eine Illusion – und damit auch der Schutz der Biodiversität. Leider ist es um die Akzeptanz von Erneuerbaren und Netzprojekten schlecht bestellt. Geplante Bauten und Umbauten werden torpediert, blockiert, verschleppt. Hier braucht es eine 180-Grad-Wende: «Umsetzung dank Akzeptanz» muss die Devise sein. Sonst können die Investitionen nicht getätigt werden.

Ursula Schneider Schüttel: Zentral ist der rasche Ausstieg aus den fossilen Energien. Der gesteigerte Strombedarf durch elektrifizierte Fahrzeuge, Heizungen und so weiter bedingt einen massiven Ausbau der erneuerbaren Energien. Dabei soll auf alle erneuerbaren Energien, vor allem auf Photovoltaik auf bereits überbauten Flächen gesetzt werden. Die Nutzung der Wasserkraft bringt Eingriffe in Natur und Landschaft mit sich, die minimiert werden müssen. Statt in unberührte Landschaften einzugreifen, ist es sinnvoller, bestehende Anlagen auszubauen. Klimaschutz bedingt auch den Schutz der Biodiversität. Die natürlichen Fliessgewässer dürfen nicht noch mehr zerstört werden. Sanierungsmassnahmen bei Gewässern sind daher rasch zu realisieren.

Frank Krysiak: Die Energieversorgung muss mittelfristig gänzlich auf Technologien umgestellt werden, die keine direkten und indirekten CO2-Emissionen verursachen. Dies gelingt am einfachsten in der Elektrizitätsversorgung, so dass (Raum-)Wärme und Mobilität zukünftig weit stärker als heute auf Strom basieren werden. Um die notwendigen Strommengen bereitzustellen, braucht es einen intensiven Ausbau erneuerbarer Energien. Hierbei ist wichtig, dass nicht zu stark auf eine Technologie (zum Beispiel Photovoltaik) fokussiert, sondern ein Technologiespektrum erreicht wird, dessen Produktionsprofil insgesamt etwa dem Nachfrageprofil entspricht. Ebenso könnte eine gute internationale Zusammenarbeit helfen, die Kosten des Umbaus der Energieversorgung zu reduzieren.

Wie gut kommt diese Entwicklung unter den aktuellen Rahmenbedingungen voran?

Michael Frank: Sie kommt schleppend voran – um es noch schön zu sagen. Geht es mit den aktuellen Rahmenbedingungen in diesem Tempo weiter, erreichen wir die erwähnten Ziele anstatt wie angestrebt in knapp 30 erst in 100 Jahren. Die Abwägung zwischen Schutz und Nutzung ist zentral. Doch den Schutz des Klimas durch Elektrifizierung gibt es nicht ohne einen schnelleren und pragmatischeren Zubau inländischer Erneuerbarer. Stromimporte allein werden es nicht richten. Im Jahr 2035 droht uns im Winter eine Importabhängigkeit für bis zu 40% unseres Verbrauchs. Unsere europä­ischen Strom-Handelspartner kämpfen aber genauso vehement um die konkrete Umsetzung der Energiewende. Will heissen: Unsere Importsicherheit nimmt in Zukunft eher ab. Es geht neben dem Klima also auch um unsere unmittelbare Stromversorgungssicherheit. Dafür brauchen wir alpine Photovoltaik, Windenergie, Wasserkraft, das Netz sowie mehr Effizienz.

Ursula Schneider Schüttel: Durch die Umsetzung der parlamentarischen Initiative Girod, die eine Überbrückungslösung bis zur umfassenden Revision der Energiegesetzgebung vorsieht, werden Förderlücken vermieden und Investitionen in die erneuerbaren Energien im Interesse der Versorgungssicherheit weiterhin unterstützt. Dies gibt den Investoren Sicherheit und sollte den weiteren Ausbau ermöglichen. Allerdings wurde in der parlamentarischen Debatte die Verknüpfung von Investi­tionshilfen mit dem Gewässerschutz abgelehnt, die Berücksichtigung des Naturschutzes stellt also immer noch eine Herausforderung dar. Die Einsicht, dass eine nachhaltige Förderung der erneuerbaren Energien den Schutz der Ökosysteme zu berücksichtigen hat, ist noch zu wenig ersichtlich.

Frank Krysiak: Die Entwicklung kommt in den meisten Bereichen voran, aber eher langsam. Sowohl der Ausbau erneuerbarer Energien als auch der Ersatz fossiler Brennstoffe in den Bereichen Wärme und Mobilität gehen nicht so rasch voran, dass ein Erreichen der Ziele der Klimapolitik sicher erscheint. Insbesondere ist seit der Ablehnung des revidierten CO2-Gesetzes im Juni 2021 die eigentlich dringend notwendige Weiterentwicklung der Rahmenbedingungen nicht gesichert. Dies gilt für die Ausweitung der CO2-Bepreisung sowie für die Förderung erneuerbarer Energien. Zudem ist mit dem Entscheid des Bundesrats zum Institutionellen Rahmenabkommen die Einbettung der Schweiz in die europäischen Energie- und insbesondere Strom-Märkte nicht mehr gesichert, was zu erheblichen Schwierigkeiten führen könnte.

In zahlreichen Einzelfällen prallen Naturschutz und energetische Nutzung aufeinander. Müssen wir mit diesem Widerspruch leben, oder lässt sich das Dilemma lösen?

Michael Frank: Es lässt sich lösen, wenn Partikularinteressen in den Hintergrund und das grosse Ganze, nämlich Klimaschutz dank Elektrifizierung und Effi­zienzgewinnen, in den Vordergrund rücken. Wichtig ist nun, dass die als Gegenvorschlag zur Initiative konzipierte Revision des Raumplanungsgesetzes als Chance genutzt wird, um bestehende Blockaden aufzuheben und den raumplanerischen Grundstein für den Zubau der einheimischen Erneuerbaren zu legen. Die Raumplanung muss verstärkt frühzeitig die verschiedenen Nutzungsinteressen im Bau- und Nichtbaugebiet aufeinander abstimmen. Sodann muss die Bewilligungsfähigkeit der Anlagen für die erneuerbare Energieversorgung sichergestellt und damit die Rechts- und Planungssicherheit verbessert werden. Konkret müssen insbesondere die Verfahrensdauern massiv gestrafft werden. Die Branche ist bereit, ihre zentrale Rolle für die Dekarbonisierung zu spielen. Strom ist die Energie der Zukunft.

Ursula Schneider Schüttel: Technisch ist vieles lösbar, daher ist ein «Leben mit dem Widerspruch» die letztmögliche Variante. Wir müssen akzeptieren, dass Nutzung und Schutz miteinander in Einklang gebracht werden müssen. Die Klimakrise kann und darf nicht auf Kosten der Biodiversität gelöst werden. Mit frühzeitigem Einbezug der Naturschutz-Organisationen in die Planung können gangbare Wege gesucht und gefunden werden. Zusätzliche Kosten aufgrund von Schutzmassnahmen für die betroffene Tier- und Pflanzenwelt müssen in Kauf genommen werden, wobei sich die Frage stellt, wer diese bezahlt. Wenn die erneuerbaren Energien mit Bundesgeldern gefördert werden, so sollen dafür auch Massnahmen zugunsten der Natur verlangt – und allenfalls zusätzlich unterstützt – werden können.

Frank Krysiak: Einen gewissen Konflikt wird es wohl immer geben. Allerdings ist es wichtig, hier nicht nur den Einzelfall, sondern den Gesamtkontext zu betrachten. Es ergibt wenig Sinn, im Zuge des Naturschutzes die Energiewende zu verzögern, welche zentral für den Klimaschutz ist. Dies bedeutet aber nicht, dass die Energiewende zu massiven Kosten im Bereich Naturschutz umgesetzt werden sollte. Viele Konflikte liessen sich reduzieren, wenn auf energetische Nutzungen mit sehr geringem Zugewinn für die Energiewende – zum Beispiel manche Kleinwasserkraftanlagen – verzichtet und eine energetische Nutzung von Flächen in besonders sensitiven Gebieten vermieden würde.

Warum sind Sie für/gegen die Biodiversitätsinitiative und die Landschaftsinitiative?

Michael Frank: Dem VSE gehen beide Initiativen zu weit. Erzeugungsanlagen, Speicher und die dazu notwendige Netzinfrastruktur erstrecken sich sowohl über das Baugebiet als auch über das Nichtbaugebiet. Ihre Standorte können nicht einfach beliebig irgendwo gewählt werden. Die Initiativen würden den Bau dieser Anlagen, die zur Umsetzung der Klima- und Energiestrategie notwendig sind, verhindern. Damit werden Zielkonflikte nur zugespitzt und nicht gelöst. Das können wir uns nicht leisten. Verschiedene Arten von Bauten und Anlagen zur Energieversorgung ausserhalb des Baugebiets sind heute nicht automatisch bewilligungsfähig. Für Anlagen, die der sicheren Energieversorgung und der Umsetzung der Energie- und Klimastrategie dienen, sollen Ausnahmeregelungen vom Grundsatz der Trennung des Baugebiets und des Nichtbaugebiets gelten. Darum bevorzugt der VSE einen massvollen Gegenvorschlag auf Gesetzesstufe. Dieser muss die Umsetzung der Energie- und Klimastrategie, eine sichere Versorgung mit erneuerbarer Energie sowie die Bereitstellung eines effizienten Netzes gewährleisten. Damit werden die Zielkonflikte gelöst. Denn Klimaschutz gibt es nur über Elektrifizierung. Das darf vor dem Hintergrund der Schutz-Nutzen-Überlegungen niemals vergessen werden.

Ursula Schneider Schüttel: Beide Initiativen versuchen, Schutz und Nutzung unserer Ökosysteme miteinander zu vereinbaren. Um gegen den Klimawandel anzugehen, müssen wir die Biodiversität schützen und fördern. Denn je mehr Moore, Grünflächen und Wälder verschwinden, umso weniger CO2 wird absorbiert. Die intensive Bautätigkeit ausserhalb der Bauzonen zerstört zudem die Lebensgrundlage für Tiere und Pflanzen, das notwendige Kulturland für die einheimische Nahrungsproduktion und den Erholungsraum für den Menschen. Auf die erneuerbaren Energien bezogen: Ein Ausbau ohne Belastung von Biodiversitätsflächen und unverbauten Landschaften ist möglich. Ein grosser Teil kann zum Beispiel mit Photovoltaikanlagen in bereits überbauten, nicht schutzwürdigen Gebieten realisiert werden.

Frank Krysiak: Auch wenn ich die Anliegen der beiden Initiativen unterstütze, bin ich eher dagegen. Erstens versuchen die Initiativen einen Zustand – beispielsweise Gebäudebestand und -fläche ausserhalb von Baugebieten – festzuschreiben. Das reine Festhalten an Bestehendem kann und sollte aber nicht Ziel von Politik sein. Zweitens setzen beide Initiativen auf Gebote/Verbote und damit auf ineffiziente Politikmassnahmen. Eine effiziente Politik sollte den Raum für eine faire Abwägung von Nutzen und Kosten – inklusive der Kosten durch den Verlust an Artenvielfalt oder die Verbauung von Landschaft – schaffen, statt Entwicklungen oder Projekte weitgehend unabhängig von ihrem Nutzen zu verbieten. Die Forschung zeigt, dass so gerade im Bereich Biodiversitätsschutz erhebliche Effi­zienzgewinne erreichbar sein können.

Wenn Sie die Aussagen der anderen Gesprächsteilnehmenden hören, was nehmen Sie aus dieser Diskussionsrunde mit?

Michael Frank: Unser Gespräch zeigt, wo wir in der politischen Diskussion stehen: Wir sind uns einerseits alle einig, dass es den raschen Ausstieg aus den Fossilen braucht. Dekarbonisierung geht nur durch Elektrifizierung mit Erneuerbaren. Nicht einig sind wir uns hingegen beim «wie». Erneuerbare Produktionsanlagen sind in der Regel standortgebunden und brauchen Platz. Selbstverständlich kann man einen Teil des Zubaus auf bestehenden Bauten vornehmen – aber das wird nicht reichen. Unser vordringliches Problem heisst immer noch Winterstrom, und der ist nicht ausschliesslich auf Dächern zu holen. Heute können zum Teil nicht mal bestehende Produktions­anlagen ausgebaut werden, weil alles blockiert wird. Von neuen Anlagen ganz zu schweigen. In Deutschland wurde in den Koalitionsgesprächen eine Verfahrensdauer für Windkraftprojekte von sechs bis sieben Jahren als inakzeptabel bezeichnet. Davon können wir in der Schweiz nur träumen – die letzte Windkraftanlage hat achtzehn Jahre gebraucht. Bei der Wasserkraft sehen die Vorschläge des Bundesrats zehn Prozent Zubau vor. Wenn man die heute geltenden Umweltvorschriften umsetzt, wird aber ein Minus von fünf Prozent herauskommen. Konsequenz davon: Wenn wir so weitermachen, wird die Dringlichkeit für Gaskraftwerke, um die Versorgungssicherheit zu garantieren, immer grösser.

Ursula Schneider Schüttel: Es ist meinerseits unbestritten, dass wir für den Ausstieg aus der Kernenergie und für einen Verzicht auf fossile Energien auf erneuerbare Energien angewiesen sind. Eine rasche Umsetzung der Energiestrategie ist notwendig. Gleichzeitig gibt es aber eine Strategie Biodiversität. Der Zubau der Erneuerbaren, auch wenn er zugunsten des Klimas erfolgt, darf nicht zulasten der Biodiversität gehen, sondern muss im Einklang mit der Schonung von Natur und Landschaft erfolgen. Ökologische Konsequenzen einer Energieerzeugungsanlage müssen so umfassend und so früh wie möglich abgeklärt werden. Das vermeidet langwierige Verfahren. Eine Verfahrensbeschleunigung steht politisch zur Diskussion. Es braucht zusätzlich genügend personelle Ressourcen, damit die Verfahren in den Ämtern zügig durchgeführt werden. Die verschiedenen Inte­ressen müssen sorgfältig abgewogen werden. Wo eine technische Lösung nicht möglich ist, müssen Ausgleichsmassnahmen getroffen werden, die gleichzeitig mit dem Eingriff umgesetzt werden. Die beiden Initiativen wollen nicht den Bau von Anlagen für erneuerbare Energie verhindern. Werden sie angenommen, haben sie zur Konsequenz, dass Anlagen mit Rücksicht und mit möglichst hohem Schutz der ökologisch und landschaftlich wertvollen Gebiete geplant und realisiert werden.

Frank Krysiak: Zwei Aspekte der Diskussion scheinen mir besonders inte­ressant. Erstens der Konflikt zwischen Klimaschutz/Energiewende und Naturschutz/Biodiversität. Beide Punkte sind wünschenswert. Aber sie beide vollumfänglich und gleichzeitig anzustreben, wird die Energiewende teurer machen, und dies bedeutet, dass weniger Geld für andere Ziele der Gesellschaft zur Verfügung steht. Dies geht nicht unbegrenzt. Klima- und Naturschutz sind nicht die einzigen Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen. Daher braucht es hier eine Priorisierung, die aus meiner Sicht auf den Klimaschutz fallen sollte. Zweitens sollten wir die Debatte um «Im­­port­abhängigkeit» entschärfen. Wir sind in vielen Bereichen kritisch von Importen abhängig, neben Öl und Gas betrifft dies zum Beispiel auch Lebensmittel. Strom ist durch die fehlende Lagerbarkeit natürlich problematischer. Aber dies sollte vor allem ein Grund für eine gute Zusammenarbeit mit den Nachbarländern sein. Eine Energiewende ohne Zusammenarbeit mit den Nachbarländern ist möglich, aber viel teurer als notwendig und mit mehr Folgen für Naturschutz und Biodiversität in der Schweiz. Eine intensive Zusammenarbeit, die im Klimaschutz ohnehin erforderlich ist, scheint mir der bessere Weg.

Autor
Julien Duc

ist Mediensprecher des VSE.

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