Kleinwasserkraftwerke machen sich flexibel
Spitzenenergie und Systemdienstleistungen
Strom dann produzieren, wenn er gute Erlöse bringt oder zur Stabilisierung des Stromnetzes eingesetzt werden kann – das war stets die Geschäftsidee von Speicherkraftwerken. Was bisher den Grossen vorbehalten war, wollen kleine Wasserkraftwerke in den Alpen nun nachahmen. Dass dies möglich ist, zeigt ein BFE-Forschungsprojekt.
In der Schweiz gibt es über 1000 Kleinwasserkraftwerke, jedes mit einer jahresmittleren Bruttoleistung unter 10 MW. Zusammen beträgt dIie installierte Leistung stattliche 760 MW. Mit einer Jahresproduktion von 3,4 TWh decken sie rund 5 % des Schweizer Stromverbrauchs ab. Gemäss einer BFE-Schätzung aus dem Jahr 2019 lässt sich die Stromproduktion aus Kleinwasserkraft längerfristig jährlich um 110 bis 550 GWh steigern. Um dieses Potenzial zu realisieren, müssen neue Kraftwerke den Anforderungen an Landschaftsschutz und Gewässerökologie genügen, und sie müssen – natürlich – wirtschaftlich arbeiten. Letzteres wird begünstigt, wenn sie Strom zu Zeiten produzieren können, in denen er besonders gewinnbringend verkauft werden kann.
Ein flexibler Betrieb steht bei grossen Speicherkraftwerken seit jeher im Zentrum des Geschäftsmodells. Anders bei Kleinwasserkraftwerken ohne Speichersee: Sie produzieren meist Bandenergie. Dabei haben auch sie ein Flexibilitätspotenzial, das sich gezielt nutzen lässt, wie ein Forscherteam nun am Beispiel des Kraftwerks Gletsch- Oberwald belegt: Das Kraftwerk wurde mit entsprechenden Kompensationsmassnahmen (Revitalisierung der Rhone) erbaut und produziert seit der Inbetriebnahme Mitte 2018 jährlich rund 41 GWh Strom. Mit zwei Peltonturbinen à 7,5 MW Nennleistung übersteigt die Anlage die Schwelle von 10 MW. Trotzdem wird sie der Kategorie der Kleinwasserkraftwerke zugerechnet, da die Durchschnittsleistung aufgrund der grossen saisonalen Schwankungen bei 4,7 MW liegt.
Zwei Speichervolumina
Das Kraftwerk verstromt hauptsächlich das Wasser des Rhonegletschers. Da es keinen Speichersee hat, hängt die Produktion direkt von der Ergiebigkeit des Zuflusses ab. In den Sommermonaten stehen 5000 bis 15 000 l/s als nutzbare Wassermenge zur Verfügung, in den Wintermonaten deutlich weniger als 500 l/s. Um dem stark schwankenden Volumenstrom gerecht zu werden, lassen sich die sechs Düsen jeder Peltonturbine individuell öffnen. So lässt sich die Durchflussmenge zwischen 145 l/s und 5800 l/s regeln.
Nun wäre es allerdings falsch zu glauben, das Kraftwerk könne immer nur so viel Wasser verstromen, wie aktuell zufliesst. Die Anlage verfügt nämlich über zwei Volumina, die sich als Speicher nutzen lassen: einerseits die Entsander-Felskaverne (mit Druckaufbaubecken), die der Reduktion des Feinstoffanteils dient, andererseits der obere Teil des Druckstollens, der von der Wasserfassung in Gletsch zum Kraftwerk in Oberwald führt (Höhendifferenz 288 m). Dank dieser Speichervolumina lässt sich das Kraftwerk flexibel betreiben, also zu Zeiten, in denen sich auf dem Strommarkt hoch vergütete Spitzenenergie absetzen lässt. Denkbar ist zudem, das Speichervolumen zu nutzen, um gegenüber Swissgrid Regelleistung vorzuhalten.
Spitzenenergie, Regelleistung
Ein interdisziplinäres Forscherteam unter der Leitung der Fachhochschule Westschweiz (HES-SO) Wallis hat nun im Rahmen des BFE-Forschungsprojekts «SmallFlex» das Potenzial eines flexiblen Betriebs untersucht. Zwei Messkampagnen wurden im November 2018 und im Mai 2020 durchgeführt. Unter Ausschöpfung des verfügbaren Speichervolumens – evaluiert durch das Wasserbaulabor der Ecole polytechnique fédérale de Lausanne (EPFL) und das Team der HES-SO Valais-Wallis – wurden 15 Minuten bis gut 3,5 h lange Produktionsmaxima (Schwälle, engl. Hydropeaks) realisiert. In der ersten Messkampagne wurde nur das Speichervolumen der Entsanderkaverne und der Druckaufbaukammer (2500 m3) genutzt, in der zweiten auch das oberste Drittel des Druckstollens (6400 m3), womit insgesamt 8900 m3 Speichervolumen zu Verfügung standen.
Eine zentrale Erkenntnis der Tests: Das Kraftwerk ist grundsätzlich in der Lage, Spitzenenergie zu produzieren bzw. Regelleistung Swissgrid zur Verfügung zu stellen. Um dies zu tun, steht gemäss Berechnungen der FMV (Sitten), Besitzerin des Wasserkraftwerks, ein nutzbares Speichervolumen von 6180 m3 zur Verfügung (entspricht ca. 4,0 MWh Strom). Das ist weniger als die theoretisch verfügbaren 8900 m3. Der Grund für diese Einschränkung: Wenn der Druckstollen bis unter eine Fallhöhe von 210 m entleert wird, treten durch die geringere kinetische Energie an der Turbine unwillkommene Effekte auf, denn die Wasserstrahlen treffen anders auf die Schaufeln des Turbinenlaufrads, reduzieren den Wirkungsgrad der Turbine und können im ungünstigen Fall Vibrationen (den sog. Falaise-Effekt) auslösen.
Die Forscher haben untersucht, wie stark der Druckstollen entleert werden kann, ohne dass an der Turbine Vibrationen auftreten. Sie entleerten den Druckstollen in Versuchen von 287,5 m (voller Zustand) bis auf eine Fallhöhe von 185 m. Unerwünschte Effekte traten bei Fallhöhen unter 210 m auf.
Die FMV wird den Druckstollen im flexiblen Betrieb unter Zurechnung einer Sicherheitsmarge bis maximal zu einer Fallhöhe von 230 m nutzen. Das entspricht einem Speichervolumen von 6180 m3. Eine zweite Erkenntnis aus den Testläufen: Wenn der Druckstollen nicht mehr ganz gefüllt ist, sinkt auch die Turbinenleistung, weil die beiden Peltonturbinen in dieser Situation nicht mehr unter Auslegungsbedingungen arbeiten, wie die numerischen Simulationen der HES-SO Wallis und der PowerVision Engineering (PVE) zeigen. Die FMV veranschlagen die maximal erzeugbare Leistung im flexiblen Betrieb auf 2 x 5 MW= 10 MW.
«Das sind Grössenordnungen, die es erlauben, interessante Dienstleistungen am Schweizer Strommarkt anzubieten», sagt Projektkoordinatorin Prof. Cécile Münch-Alligné, Wasserkraftexpertin der HES-SO Wallis. Nach Auskunft des Forscherteams sind die Ergebnisse auf 175 Schweizer Kraftwerke mit Peltonturbinen im Leistungsbereich 1 bis 30 MW übertragbar. «Die flexible Produktion könnte auch in Regionen mit vielen PV-Anlagen eingesetzt werden, um kurzzeitige Einbrüche der Solarstromproduktion auszugleichen», sagt die Walliser Forscherin.
Regelleistung ja, Spitzenenergie nein
Das Energieunternehmen FMV wollte im Rahmen des SmallFlex-Projekts erfahren, welche Nutzungen des Speichervolumens finanziell und betrieblich interessant sind. Im Vordergrund steht für die FMV das Anbieten von Regelleistung: «Dank des Speichers können wir praktisch das ganze Jahr Regelleistung für das Schweizer Netz im Umfang von bis zu 1,5 MW vorhalten», sagt Steve Crettenand, der das Projekt für FMV begleitet hat. FMV werde die Regelleistung des Kraftwerks in einen Pool einbringen, an dem mehrere Anbieter von Regelleistung beteiligt sind. Weniger attraktiv ist für das Unternehmen die Produktion von Spitzenenergie: In den Wintermonaten ist diese Produktionsweise nicht möglich, in den Sommermonaten mit grossen Wassermengen nicht lohnend. In den Monaten mit mittelgrossen Zuflüssen (April/Mai und Oktober/November) wäre die Produktion von Spitzenenergie möglich, laut Crettenand aber kaum sinnvoll, da das verfügbare Speichervolumen mit ca. 4,0 MWh relativ gering sei. Gegen die Produktion von Spitzenenergie spricht ferner, dass die Effizienz der Peltonturbinen sinkt, wenn der Druckstollen nicht mehr ganz gefüllt ist (siehe oben). So erzielt Spitzenenergie zwar einen guten Preis, aber die Produktionsmenge sinkt, was unter dem Strich den Ertrag schmälert.
Lohnend ist hingegen die Nutzung des Speichervolumens in der Winterperiode (Januar bis März). In dieser wasserarmen Zeit reicht die nutzbare Wassermenge oft nicht zum Betrieb des Kraftwerks. In solchen Momenten hilft das Wasser aus dem Speicher, um die für die Turbinierung minimal erforderliche Wassermenge (145 l/s) zu erreichen. «Dank des Speichers kann das Kraftwerk über längere Zeiträume kontinuierlich Strom produzieren; es kommt seltener zu Produktionsunterbrüchen mit Abschalten und Wiederanfahren der Turbinen. Damit können wir die Produktion in den drei Wintermonaten steigern, nämlich von 200 auf über 500 MWh», sagt Steve Crettenand und ergänzt: «Das ist im Sinn der Energiestrategie 2050.» Den finanziellen Gewinn aufgrund der flexiblen Betriebsweise schätzt FMV auf rund 30 000 CHF pro Jahr.
Zuflussprognosen nutzen
Der flexible Betrieb setzt voraus, dass für die Produktionsspitzen jeweils eine hinreichende Wassermenge zur Verfügung steht. Ein Team der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) hat im Rahmen des SmallFlex-Projekts zusammen mit MeteoSchweiz ein Prognosesystem für die Wasserzufuhr der Rhone entwickelt.
Die Ergebnisse zeigen: Das System erlaubt Prognosen bis zu zwölf Stunden mit sehr hoher Genauigkeit. Für einen Prognosezeitraum von drei Tagen beträgt der Fehler nur ±1000 l/s.
«Wir können den Zeitraum für das Auffüllen des verfügbaren Speichers auf drei Tage hinaus auf circa zehn Minuten Genauigkeit voraussagen, das ist eine akzeptable Grössenordnung», sagt WSL-Forscher Dr. Manfred Stähli. Mit der erzielten Prognosengenauigkeit lasse sich ein flexibler Betrieb des Kraftwerks auf fünf bis sechs Tage hinaus planen, sagt der Wissenschaftler.
Auswirkungen auf Ökosystem
Die durch den flexiblen Betrieb erzeugten Schwälle haben Auswirkungen auf das Ökosystem der Rhone. Ein wichtiger Teil des Ökosystems sind Insektenlarven (Makroinvertebraten), die am Grund des Flussbetts leben und als Nahrungsquelle z. B. für Fische und Spinnen dienen. Im Rahmen des BFE-Projekts ging ein Team des Wasserforschungsinstituts des ETH-Bereichs (Eawag) der Frage nach, in welchem Mass diese wirbellosen Tiere durch die Schwälle weggeschwemmt werden. Zu diesem Zweck erzeugte das Kraftwerk während zwei Wochen experimentelle Schwälle von 15 Minuten Dauer mit immer kürzeren Erholungszeiten (acht Tage bis hin zu einem einzigen Tag).
«Die Anzahl der Makroinvertebraten, die mit der Strömung weggeschwemmt werden, ist während der Schwälle stark erhöht, aber die Artengemeinschaft erreichte bei unseren Beobachtungen nach den Schwällen innerhalb eines Tages wieder den Ausgangszustand, vermutlich dank dem naturnahen Zustand des Oberlaufs», fasst Eawag-Forscher Dr. Martin Schmid ein Hauptergebnis der Studie zusammen. Das Forschungsteam hat allerdings festgestellt, dass die Häufigkeit mancher Arten im Verlauf des Experiments abnahm. Häufige Schwälle bei regelmässigem flexiblen Betrieb der Anlage könnten demnach längerfristig dem Ökosystem Schaden zufügen. Daher raten die Eawag-Experten, im Falle einer Einführung des flexiblen Betriebs die Entwicklung des Ökosystems über mehrere Jahre zu überwachen.
Literatur
Radomír Novotný, «Akzeptanzfragen bei alpiner Wasserkraft», Bulletin SEV/VSE 02/2019, S. 20 – 23.
Am Smallflex-Projekt waren, neben dem Team der HES-SO Valais-Wallis, zwei Labors der EPFL beteiligt: Das Labor für Wasserbau, das an der Ermittlung des verfügbaren Speichervolumens und der Durchführung des Programms für die erste Testkampagne mitgearbeitet hat, sowie das Labor für hydraulische Maschinen, das die numerischen Simulationen der Maschine ausgeführt hat.
Der Schlussbericht zum Projekt «Demonstrator eines flexiblen Kleinwasserkraftwerks» (engl. Demonstrator for flexible Small Hydropower Plant/SmallFlex) ist abrufbar unter: www.aramis.admin.ch/Texte/?ProjectID=40717
Auskünfte zu dem Projekt erteilt Dr.-Ing. Klaus Jorde (klaus.jorde@kjconsult.net), Leiter des BFE-Forschungsprogramms Wasserkraft.
Weitere Fachbeiträge über Forschungs-, Pilot-, Demonstrations- und Leuchtturmprojekte im Bereich Wasserkraft: www.bfe.admin.ch/ec-wasser.
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