Ist automatisiertes Fahren praxistauglich?
Erkenntnisse aus sechs Jahren Praxis
Mit ihrer liberalen Gesetzgebung konnte die Schweiz schon 2016 für automatisierte Kleinbusse ohne Steuerrad und ohne Pedale Versuche im Mischverkehr genehmigen. Die Versuche führten zu einer realistischen Einschätzung der Automatisierung. Sie ist eines der Werkzeuge, um unsere Mobilität zu gestalten.
Das heutige Strassenverkehrsrecht erlaubt für Versuche Abweichungen von seinen Regelungen, wenn damit Erkenntnisse für neue Regelungen gewonnen werden können. Damit ist schon einiges möglich im Bereich der Automatisierung, weil noch vieles unklar ist. Bei Versuchen muss die Betriebs- und Verkehrssicherheit immer gewährleistet sein. Dazu gehört unter anderem, dass automatisierte Fahrzeuge sich in den bestehenden Verkehr einfügen können oder dass sie richtig bremsen.
Umsetzung in der Praxis
Belastbare Erkenntnisse können nur gewonnen werden, wenn sowohl positive als auch negative Versuchsergebnisse bekannt sind. Ein wichtiger Eckpfeiler ist darum, dass die Versuchsbehörde, also das Bundesamt für Strassen Astra, die Möglichkeit hat, auf alle Versuchsdaten zuzugreifen. Das schafft zudem Vertrauen in die Versuche und ermöglicht, fokussiert auf Probleme während der Versuche zu reagieren. Die Betreiber von Versuchen müssen ungeschönt regelmässig in Zwischenberichten und in einem Schlussbericht rapportieren. Diese Berichte werden auf der Website des Astra publiziert [1], wobei in jedem Fall das Geschäftsgeheimnis gewahrt bleibt.
Das Astra will das Rad nicht neu erfinden bezüglich Sicherheitsmassnahmen und orientiert sich deshalb an den bestehenden Regeln des Strassenverkehrsgesetzes (SVG). Können sie nicht eingehalten werden, so müssen sie durch andere Massnahmen kompensiert werden. Fehlen also die Bremspedale, so darf beispielsweise das Fahrzeug nicht zu schnell fahren und eine Begleitperson muss bei Problemen einen Notbremsknopf betätigen können. Diese Kompensationsmassnahmen können von Fall zu Fall verschieden sein.
Der Strassenverkehr kann sich auf verschiedensten Strassen bewegen. Ihre Eigentümer müssen für die Erteilung einer Versuchsbewilligung begrüsst werden. Dazu gehören Kantone, Gemeinden oder Private. Eine enge Zusammenarbeit ist darum zentral. Das gilt auch für Ämter untereinander. Das Bundesamt für Verkehr (BAV) ist für die Konzessionierung im öffentlichen Verkehr zuständig, das Bundesamt für Kommunikation (Bakom) für die Funkkonzessionen oder die Strassenverkehrsämter für die Erteilung der Kontrollschilder.
Welche Versuche konkret?
Im Rahmen der heutigen Technik konnten nur Versuche in einem beschränkten räumlichen Bereich bewilligt werden. Swisscom versuchte sich 2015 mit einem umgebauten konventionellen Fahrzeug in Zürich für einige Tage. Postauto wagte sich 2016 mit einem Kleinbus ohne Steuerrad und ohne Pedale in den normalen Mischverkehr von Sion, zwar nicht auf Durchgangsstrassen, aber in einem 50-km/h-Bereich, über einen Kreisel, durch verkehrsberuhigte Zonen und durch enge Gässchen. Das war eine Weltneuheit. Sieben weitere Versuche mit Kleinbussen folgten in Fribourg, Schaffhausen, Genf, Zug und Bern durch die ansässigen öffentlichen Transportunternehmen. Diese Versuche zogen sich über mehrere Jahre hinweg, manchmal in mehreren Phasen. Auch da ist die Schweiz Vorreiter.
Die Langzeitversuche zeigen ein realistisches Bild davon, wie die Bevölkerung mit automatisierten Fahrzeugen umgeht. Allfälliger Schabernack, den gewisse Personen mit den Fahrzeugen spielten, legte sich nach einigen Wochen und die Leute integrierten die Kleinbusse in ihren Alltag: Die Teenager jagten damit Pokémons, die Senioren stiegen mit dem Rollator zu. Die späteren Versuche wurden immer mehr in Kooperation mit weiteren Partnern durchgeführt.
Aber nicht nur Personen sollen automatisiert transportiert werden, auch Güter sind interessant. Die Post betrieb dazu Versuche in Bern und Zürich mit kleinen Lieferrobotern.
Nur Kleinbusse?!
Aber sind so viele Versuche mit langsam fahrenden Kleinbussen nicht langweilig? Überhaupt nicht, denn die Schweiz lag damit goldrichtig. 2018 identifizierten die Behördenexperten des EU-ITS-Komitees, das sich mit intelligenten Transportsystemen befasst, das grösste Potenzial in fahrerlosen Kleinbussen in Agglomerationen für den gemeinschaftlichen Personentransport. Genau zu diesem Szenario lieferten die Versuche wertvolle neue Erkenntnisse, indem jede Versuchsanordnung ihre eigenen speziellen Fragen beantwortete. Akzeptieren Kunden automatisierte Fahrzeuge? Wodurch unterscheidet sich das Verhalten von Ortsansässigen und Touristen? Wie sieht es mit Pendlern oder Schülern aus? Wie reagieren die Sensoren auf veränderliche Umweltbedingungen wie Sonneneinstrahlung oder bewegende Blätter im Wald? Wie können automatisierte Fahrzeuge in bestehende Systeme integriert werden wie Linienführung, Steuerzentrale, andere Verkehrsmittel/-träger? Funktioniert On-Demand in einer flexiblen Zone? Wie soll mit variablen Haltestellen umgegangen werden? Wie sollen Kleinbusse behindertengerecht ausgestaltet werden, beispielsweise für Rollstuhlfahrende, Blinde oder Gehörlose? Sind Begleitpersonen in den Kleinbussen nicht «nur» zur Sicherheit nötig, sondern als Dienst an den Kunden? Wie können häufige Softwareaktualisierungen gehandhabt werden? Wie ist eine Vernetzung mit Lichtsignalen umsetzbar? Wie ist der Umgang mit anderen Verkehrsteilnehmenden, die sich nicht zwingend rational verhalten, wie unachtsame Fussgänger, ungeduldige Autofahrende oder überholende Velofahrende? Interessant war der Ansatz der Verkehrsbetriebe Zürich: Sie liehen sich einen Kleinbus aus, um ihre Mitarbeiter zu sensibilisieren.
Erste Antworten auf all diese Fragen erlauben, die Mobilitätslösung Automatisierung umfassender zu beurteilen. Die Betreiber der Versuche stellten von Anfang an die Mobilitätsdienste ins Zentrum statt die Technologie. Diese Dienste sind aber nur effizient zusammen mit anderen, was eine immer breitere Zusammenarbeit förderte.
Und was daraus gelernt?
Mit automatisierten Kleinbussen ohne Begleitperson eine Buslinie zu verlängern, einen On-Demand-Dienst anzubieten oder entlegene Gebiete zu versorgen, liegt mit der aktuellen Technik noch nicht drin. Die Fahrzeuge bremsen zu abrupt, weshalb sie nicht zu schnell fahren können. Sie fahren auf sogenannt virtuellen Schienen und müssen darum ihre Fahrlinien respektive -bereiche vor einem Betrieb abfahren und einlesen. Das Ausweichen vor Hindernissen, die vorher nicht kartografiert wurden, steckt noch in den Kinderschuhen. So wurden die Erwartungen der Versuchsbetreiber geerdet. Aber trotz der langsamen Fahrzeuge, die zudem noch aus Sicherheitsgründen von einer Person begleitet werden müssen, akzeptierte die Kundschaft die Kleinbusse und benutzte sie. Einmal mehr zeigt sich, dass primär ein Dienst und nicht eine Technologie für die Akzeptanz wichtig ist. Die Versuchsbetreiber gingen je länger je mehr Kooperationen ein, denn die neue Technologie der Automatisierung verlangt nach vielen verschiedenen Kompetenzen in der Digitalisierung wie Cybersecurity, Softwaremanagement oder Datenverwaltung – und das alles zugeschnitten auf automatisierte Kleinbusse. Dieses Wissen zusammen aufzubauen, ist effizienter.
Die Gesellschaft konnte diese Technologie be-«greifen». Studien zeigten, dass die Akzeptanz für automatisiertes Fahren an den Versuchsorten zunahm. Zu Beginn war sicher das Neue entscheidend: Um von einem Lieferroboter bedient zu werden, warteten Kunden bis um drei Uhr nachmittags auf ihr Mittagssandwich. Nach einigen Monaten hingegen waren die Kleinbusse ins Leben der Bevölkerung integriert. Mit diesem Wissen in der Gesellschaft ist eine sachliche Diskussion möglich. Sie ist erforderlich, um die nötigen gesetzlichen Regulierungen zu schaffen. Denn Gesetze fallen nicht vom Himmel, sondern müssen breit abgestützt erarbeitet werden.
Die Experten des Astra waren ernüchtert von der Technologie. Mittlerweile ist auch die Industrie vorsichtiger beim Schüren von Erwartungen. Die wenigen Versuche mit Transportrobotern zeigten, dass diese Technologie noch zu unzuverlässig ist, um sich zu lohnen. Auch die Kleinbusse sind noch nicht rentabel, und doch konnte das Astra einen Versuch nach dem anderen bewilligen. Trotz des ähnlichen Aufbaus zeigten sich immer wieder neue Aspekte beispielsweise bezüglich gefahrener Strecken, Benutzungsverhalten, Entwicklungen der Technologie oder Zusammenspiel mit anderen Verkehrsteilnehmern. Wegen Sicherheitsmängel mussten keine Versuche abgebrochen werden – trotz einiger kleiner Unfälle. Deren Ursachen konnten insbesondere dank dem umfassenden Zugang zu Daten transparent ermittelt werden. So war eine Wiederaufnahme der Versuche nach Unfällen schnell möglich.
Wie sieht die Zukunft aus?
Automatisierte Fahrzeuge ohne Fahrer hat die Industrie schon für 2019 angekündigt, und heute wissen wir kaum besser, wann sie wirklich kommen: Auf die Prognosen ist kein Verlass. Die Technologie könnte einen Durchbruch erreichen, und alle würden sich um sie reissen: Das würde einen Kippeffekt in der Mobilität bedeuten. Ebenso könnte sich die Technologie langsam weiterentwickeln und die Automatisierung würde sukzessive in die Mobilität integriert. Natürlich sind alle Varianten zwischen diesen Extremen denkbar. Wegen dieser Unsicherheit müssen alle Beteiligten für alle Arten von Wandel bereit sein. Die Schweiz, aber auch die europäischen Länder wollen nicht Automatisierung per se, sondern sie soll die Mobilität positiv beeinflussen. Ein Schlüsselelement dazu ist, dass sich die Fahrzeuge untereinander und mit der Infrastruktur vernetzen, wie der Bericht des Uvek von 2018 [2] vorschlägt, aber auch die verschiedenen Verkehrsmittel und -träger allgemein müssen miteinander kommunizieren. Nur tun sich die meisten Beteiligten noch schwer damit, einen gleichberechtigten Datenaustausch an die Hand zu nehmen. Die Teilstrategie Intelligente Mobilität des Astra von 2019 [3] identifiziert die wichtigsten Probleme und schlägt für die vier nächsten Jahre entsprechende Massnahmen vor.
Schweizerische und europäische Behörden sehen also Automatisierung als eines der Werkzeuge, um die Mobilität zu erreichen, die die Gesellschaft will. Dazu muss sie sich für passende Mobilitätsoptionen entscheiden. Eine liberale Praxis, um Versuche zu Automatisierung zu bewilligen, ist eine wichtige Komponente, um diese Diskussion sachlich führen zu können.
Referenzen
[1] Website Astra Pilotversuche.
[2] «Bereitstellung und Austausch von Daten für das automatisierte Fahren im Strassenverkehr», 7. Dezember 2018.
[3] «Teilstrategie Intelligente Mobilität» Ausgabe 2019.
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