Isolationskoordination in Hochspannungsnetzen
Normen und Vorgehen
Dieser Beitrag erläutert die Vorgehensweise der Isolationskoordination gemäss der Norm DIN EN 60071-1. Relevante Normen, Begriffsbestimmungen sowie die grundsätzliche Vorgehensweise der Isolationskoordination in vier Schritten werden thematisiert. Zudem wird die Notwendigkeit des Einsatzes von Überspannungsableitern begründet.
Die Norm DIN EN 60071-1 definiert Isolationskoordination als die «Auswahl der dielektrischen Festigkeit von Betriebsmitteln, die für ein bestimmtes Netz vorgesehen sind, in Abhängigkeit von Spannungen, die in diesem Netz unter Berücksichtigung der betrieblichen Umgebungsbedingungen und der Eigenschaften der verfügbaren Überspannungs-Schutzeinrichtungen auftreten können» [1]. Das heisst, die dielektrische Festigkeit der Betriebsmittel wird den zu erwartenden Spannungsbeanspruchungen aus dem Netz gegenübergestellt. Ziel und Ergebnis der Isolationskoordination ist die Auswahl einer Kombination von in der dielektrischen Typprüfung anzuwendenden Bemessungsspannungen, die die Betriebsmittel abhängig von deren Um («höchste Spannung für Betriebsmittel») charakterisieren und die aus dielektrischer Sicht deren sicheren Betrieb im Netz gewährleisten.
Die Norm DIN EN 60071-1 ist als horizontale Norm mit einem Umfang von weniger als 40 Seiten recht knapp gehalten. Nur vordergründig erscheint die Vorgehensweise bei der Isolationskoordination einfach, im Detail ist sie dagegen sehr komplex. Das drückt sich u.a. in der zugehörigen Anwendungsrichtlinie DIN EN 60071-2 [2] mit einem Umfang von gut 150 Seiten aus, und auch diese ist ohne weiterführende Literatur nicht immer einfach zu interpretieren. Leider existiert nur wenig Literatur zu den Grundlagen der Isolationskoordination in Hochspannungsnetzen, wie sie heute praktiziert wird. Das dazu heute vermutlich einzige und zum Nachlesen unbedingt empfehlenswerte Buch [3] hat einen Umfang von fast 800 Seiten.
Die Normen der Reihe 60’071 waren lange auf Betriebsmittel in Drehstromsystemen mit Um > 1 kV beschränkt. Sie berücksichtigen ausschliesslich dielektrische und explizit keine Sicherheitsaspekte, was zum Beispiel die Auslegung von Mindestschlagweiten betrifft. Zur Isolationskoordination in Bahnsystemen, z.B. mit einer Nennspannung der Oberleitung von 15 kV und einer Frequenz von 16,7 Hz, sowie in Niederspannungsanwendungen gelten jeweils andere, eigene Normen, wie beispielsweise [4–6]. Auch IEEE hat eine eigene Normung der Isolationskoordination, die der von IEC zwar sehr ähnlich, jedoch nicht exakt gleich ist. In [3] werden die vorhandenen Unterschiede ausführlich dargestellt.
Die IEC-Normen der Reihe 60071 werden derzeit in schneller Abfolge angepasst und erweitert, um aktuellen Entwicklungen z.B. auf dem Gebiet der Netzmodellierung, der Simulationsverfahren oder in HGÜ-Systemen Rechnung zu tragen. Nach [7] soll die Reihe künftig folgende Dokumente umfassen:
- IEC 60071-1 Insulation co-ordination – Part 1: Definitions, principles and rules. Veröffentlicht (Edition 9.0, 2019-08).
- IEC 60071-2 Insulation co-ordination – Part 2: Application guidelines. Veröffentlicht (Edition 4.0, 2018-03).
- IEC 60071-11 Insulation co-ordination – Part 11: Definitions, principles and rules for HVDC system. Veröffentlicht (Edition 1.0, 2022-11).
- IEC 60071-12 Insulation co-ordination – Part 12: Application guidelines for LCC HVDC converter stations. Veröffentlicht (Edition 1.0, 2022-10).
- IEC 60071-13 Insulation co-ordination – Part 13: Application guidelines for VSC HVDC converter stations. In Arbeit.
Begriffsbestimmungen
Für Hochspannungsnetze sind verschiedene Spannungsdefinitionen relevant. Dabei sind Un die «Nennspannung» und Us die «höchste Systemspannung» eines Netzes. Sie charakterisieren damit das System. Die Betriebsmittel dagegen sind über die «höchste Spannung für Betriebsmittel», Um, dielektrisch definiert. Auch wenn das oft durcheinandergebracht wird, ist zwischen Us und Um sorgfältig zu unterscheiden. Im Regelfall werden in einem Netz Betriebsmittel mit Um = Us eingesetzt, gelegentlich aber auch – bei erhöhten Anforderungen an die Spannungsfestigkeit – mit Um > Us. Auf keinen Fall ist jedoch eine Wahl von Um < Us zulässig.
«Überspannungen» können im Netzbetrieb praktisch unendlich viele verschiedene Amplituden und Zeitverläufe aufweisen und ausserdem unter unterschiedlichen Umweltbedingungen wie Temperatur, Luftdruck oder Feuchte auftreten. Gemessen werden sie in der Isolationskoordination in der bezogenen Einheit p.u., wobei gilt: 1 p.u. entspricht √2Us/√3. Es handelt sich also dabei um den Scheitelwert der höchsten dauernd auftretenden Leiter-Erd-Spannung. Der Nachweis der dielektrischen Festigkeit der Isolation kann unmöglich individuell für diese unendlich vielen möglichen Spannungen erbracht werden. Es ist der unschätzbare Nutzen der Isolationskoordination, dass als deren Ergebnis dieser Nachweis durch Typprüfungen im Labor mit Hilfe nur weniger genormter Prüfspannungen definierter Amplitude und Form, in definierten Prüfanordnungen und unter definierten Klimabedingungen erfolgen kann. Dabei sind in einem Drehstromsystem im Grundsatz neun verschiedene Isolationsstrecken zu betrachten: drei Leiter-Erd-Isolationen, drei Leiter-Leiter-Isolationen und drei Längsisolationen (z.B. zwischen den Kontakten eines offenen Trennschalters).
Ein wichtiges Konzept der Isolationskoordination ist die Unterteilung der Spannungen bzw. Überspannungen in Klassen: «höchste dauernd anliegende Betriebsspannung» (per Definition keine Überspannung und dementsprechend mit einer Amplitude von 1 p.u.), «zeitweilige Überspannungen» (TOV; temporary overvoltage), «langsam ansteigende Überspannungen» (SFO; slow front overvoltage), «schnell ansteigende Überspannungen» (FFO, fast front overvoltage) sowie «sehr schnell ansteigende Überspannungen» (VFFO; very fast front overvoltage). Häufig werden im allgemeinen Sprachgebrauch die Begriffe «SchaltÜberspannung» und «Blitzüberspannung» verwendet, die aber nur spezielle Ausprägungen langsam und schnell ansteigender Überspannungen sind.
Definiert werden die Überspannungsklassen über die in ihnen enthaltenen Frequenzen oder Anstiegszeiten und die Dauer ihres Auftretens (Bild 1). Die normative Behandlung der sehr schnell ansteigenden Überspannungen ist derzeit in Diskussion. Jede der Überspannungsklassen wird durch eine genormte Prüfspannungsart repräsentiert. Diese spielt in der Isolationskoordination eine entscheidende Rolle, da letztlich alle im Netz auftretenden Spannungen einer dieser Spannungsarten zuzuordnen sind und mit diesen auch die dielektrischen Typprüfungen im Labor durchgefürt werden. Das reduziert den erforderlichen Prüfaufwand auf ein absolutes Minimum, und da die Anforderungen an die Prüfspannungsformen und die Durchführung der Prüfungen in einer Prüfnorm [8] eindeutig definiert sind, sind an allen Orten der Welt unter verschiedensten klimatischen Bedingungen durchgeführte Prüfungen problemlos miteinander vergleichbar.
Prinzip und Ziel der Isolationskoordination
Eine stark vereinfachte, schematisierte Darstellung zeigt auf grafischem Weg das der Isolationskoordination zugrunde liegende Prinzip (Bild 2).
Für die verschiedenen Überspannungsklassen lassen sich zunächst allgemein Amplitudenbereiche angeben, mit denen sie typischerweise im Netz auftreten können. Diese Bereiche hängen von den jeweiligen Betriebsbedingungen ab, im Falle der zeitweiligen Überspannungen z.B. von der Art der Sternpunktbehandlung (mit den beiden Extremen «isoliert» oder «starr geerdet») oder bei den langsam ansteigenden Überspannungen (vereinfacht: Schaltüberspannungen) von diversen Einflussgrössen, auf die später kurz eingegangen wird. Die in Bild 2 in Orange dargestellte Kurve stellt die im Betrieb auftretenden Spannungsbeanspruchungen dar. Hier wurden typische Verhältnisse eines starr geerdeten Hochspannungsnetzes der unteren Übertragungsspannungsebenen gewählt. Den Spannungsbeanspruchungen wird mit der grünen Kurve die dielektrische Festigkeit der Betriebsmittel gegenübergestellt. Diese sollte in jedem erdenklichen Fall oberhalb der orangefarbenen Beanspruchungskurve liegen. Man erkennt, dass das im Bereich der dauernd anliegenden Spannung sowie der zeitweiligen Überspannung offenbar einfach zu erreichen ist, jedoch nicht immer im Bereich der langsam ansteigenden und schon gar nicht im Bereich der schnell ansteigenden Spannungen, die praktisch beliebig hohe Werte annehmen können.
Hier muss kurz auf eine Besonderheit der dielektrischen Festigkeit eingegangen werden. Die Isolationskoordination unterscheidet dazu nach Betriebsmitteln im «Bereich I» (Um ≤ 245 kV) und solchen im «Bereich II» (Um > 245 kV), siehe Kurven «I» und «II» in Bild 2. An den Isolationsstrecken im «Bereich I» treten nur sogenannte Streamer-Entladungen auf, geprägt durch reine Stossionisationsprozesse, an denen im «Bereich II» jedoch im Falle der Beanspruchung mit Schaltstossspannungen auch Leader- Entladungen, geprägt durch Thermoionisation. Aufgrund der Besonderheiten des Leaderwachstums führt dies dazu, dass Isolationsstrecken im «Bereich II» bei Schaltstossspannungsbeanspruchung ein ausgeprägtes Minimum der dielektrischen Festigkeit aufweisen. Das hat zur Folge, dass Betriebsmittel im «Bereich I» durch eine Prüfung nur mit Wechsel- und Blitzstosspannung ausreichend dielektrisch charakterisiert bzw. qualifiziert werden können, für Betriebsmittel im «Bereich II» jedoch zwingend Prüfungen mit Schaltstossspannung erforderlich sind, um die dort vorliegende minimale dielektrische Festigkeit zu erfassen. Da es die Philosophie der Isolationskoordination ist, mit nur zwei unterschiedlichen Spannungsformen zu prüfen (für «Bereich I» sind das Wechsel- und Blitzstossspannung, für «Bereich II» Schalt- und Blitzstossspannung), bietet die Anwendungsrichtlinie [2] Hilfestellung, wie die unterschiedlichen Spannungsbeanspruchungen durch «Prüf-Umrechnungsfaktoren» ineinander überführt werden können.
Um die Betriebsmittel vor den zu hohen Überspannungsbeanspruchungen zu schützen, werden Überspannungsableiter eingesetzt. Diese begrenzen die Überspannungen typischerweise auf die in Blau (dunkel- und hellblau) eingezeichnete Kennlinie. Dabei ist zu beachten, dass im Bereich der langsam und schnell ansteigenden Überspannungen, in denen in die Ableiter transiente Ströme eingeprägt werden oder in ihnen transient Energie umgesetzt wird, die Ableiter die Überspannungen entsprechend ihrem sogenannten Schutzpegel begrenzen (und dabei überschüssige Ladung nach Erde abführen und Energie aufnehmen), dargestellt durch die dunkelblaue Kurve. Im Bereich der dauernd anliegenden Spannung und der zeitweiligen Überspannungen werden den Ableitern jedoch Spannungen dauerhaft eingeprägt. Sie können diese nicht begrenzen, müssen ihnen aber widerstehen können. In diesem Bereich ist die Ableiterkennlinie daher als eine Stehspannungskennlinie zu verstehen und aus diesem Grund in hellblau eingezeichnet. Diese muss zwingend oberhalb der orangefarbenen Beanspruchungskurve liegen. Als Ergebnis des Ableitereinsatzes zeigt die rot-gestrichelte Kurve nun die resultierende Beanspruchung aus dem Netz bei Einsatz von Ableitern. Sie verläuft ausnahmslos unterhalb der grünen Stehspannungskurve der Betriebsmittel, womit das Schutzziel erreicht ist.
Vorgehensweise bei der Isolationskoordination
Bild 3 zeigt schematisiert das prinzipielle Vorgehen bei der Isolationskoordination, wie es ähnlich auch in [1] dargestellt ist. Hier wurde zusätzlich eine farbliche Unterscheidung eingeführt: Rote Kästen bezeichnen Eingabegrössen, grüne auszuführende Aktionen, blaue das jeweilige Resultat und orangefarbene die Rechenvorschrift zur Ermittlung der jeweiligen Spannungen mithilfe der ermittelten Faktoren. Die Vorgehensweise kann hier nur in groben Zügen dargestellt werden.
Schritt für Schritt werden im Rahmen der Isolationskoordination zunächst durch intensive numerische transiente Netzanalysen die auftretenden Überspannungen aller Überspannungsklassen jeweils mit und ohne Ableitereinsatz ermittelt. Dies ist mit Abstand die aufwendigste Phase der Isolationskoordination, die grosses Wissen über das Netz und viel Erfahrung erfordert. Für jede Überspannungsklasse ergeben sich repräsentative Überspannungen Urp («representative overvoltage»), deren Form derjenigen der zugehörigen genormten Prüfspannungen (Bild 1) entspricht und deren Höhe entweder Amplituden oder Wahrscheinlichkeitsverteilungen des Auftretens bestimmter Amplituden sind. Grundsätzlich ist Isolationskoordination ein statistisches Verfahren, in dem praktisch ausschliesslich mit Wahrscheinlichkeiten, Wahrscheinlichkeitsverteilungen, Fehlerrisiken und -raten etc. gearbeitet wird.
Das zeigt sich auch im zweiten Schritt, in dem man sich auf eine akzeptierte Fehlerrate, das sogenannte Ausfallkriterium, festlegt (z.B. ein erlaubter Fehler in tausend Jahren, entsprechend einer Rate von 1·10-3 a-1) und durch Multiplikation mit einem Koordinations-Faktor Kc («coordination factor»), der statistisches Verhalten und Ungenauigkeiten der Eingabegrössen berücksichtigt, die Koordinationsstehspannung Ucw («coordination withstand voltage») berechnet. Dazu ist eine genaue Kenntnis der Isolationscharakteristik (also der dielektrischen Festigkeit für alle Überspannungsklassen) der einzelnen Betriebsmittel erforderlich, die hier den auftretenden Beanspruchungen gegenübergestellt wird.
Im dritten Schritt wird ein Höhenkorrekturfaktor Ka («altitude correction factor») angewendet, der der Abhängigkeit der dielektrischen Festigkeit von der Aufstellungshöhe und damit dem Umgebungsdruck Rechnung trägt. Da die dielektrische Festigkeit ebenfalls von Temperatur und Feuchte abhängt, kann hier alternativ auch ein atmosphärischer Korrekturfaktor Kt («atmospheric correction factor») zur Anwendung kommen. In einem Anhang von [2] wird jedoch dargelegt, dass sich in der Regel die Einflüsse von Temperatur und Feuchte auf die dielektrische Festigkeit gegenseitig aufheben, sodass eine Korrektur allein mit der Aufstellungshöhe empfohlen wird und auch allgemein üblich ist. Die korrekte Durchführung der Höhenkorrektur sorgt jedoch oft für Verwirrung bei den Anwendern. Es lohnt sich, in [2] den ganzen Anhang H dazu durchzulesen! Ein weiterer Faktor, der Sicherheitsfaktor Ks («safety factor»), berücksichtigt diverse Unwägbarkeiten und insbesondere die Alterung der Betriebsmittel über ihre gesamte Lebensdauer. Denn ein Gerät, das im fabrikneuen Zustand mit den in der Isolationskoordination bestimmten Spannungsamplituden typgeprüft wird, soll den Beanspruchungen aus dem Netz ja auch noch nach z.B. dreissig Jahren dielektrisch standhalten können. Durch Multiplikation von Ucw mit diesen beiden Faktoren ergibt sich die erforderliche Stehspannung Urw («required withstand voltage»).
Da es vier Überspannungsklassen gibt, jedoch nur mit zwei unterschiedlichen Spannungsformen geprüft werden soll, werden im vierten Schritt noch Prüf-Umrechnungsfaktoren Ktc («test conversion factor») eingeführt, sodass für jede Überspannungsklasse ein Wert für die jeweilige in der Typprüfung abzuprüfende Bemessungsspannung Uw («withstand voltage») vorliegt. Die Kombination der verschiedenen Bemessungsspannungen für Kurzzeit-Wechsel-, Blitz- und Schaltstossspannung resultiert schliesslich im Bemessungsisolationspegel für jeden der genormten Werte von Um. Die Prüfanforderungen werden, wie bereits weiter oben ausgeführt, nach «Bereich I» und «Bereich II» differenziert. Geräte des «Bereich I» werden durch eine Prüfung nur der Leiter-Erde-Isolation jeweils mit Kurzzeit- Wechsel- und mit Blitzstossspannung, also durch nur zwei Spannungsprüfungen, für den Netzbetrieb dielektrisch qualifiziert. Das zeigt eindrucksvoll die Effektivität des Prinzips der Isolationskoordination! Die Prüfanforderungen im «Bereich II» sind etwas aufwendiger, weil bei der Prüfung mit Schaltstossspannung alle drei Isolationsstrecken (Leiter-Erde-, Leiter-Leiter- sowie Längsisolation) zu prüfen sind.
Das grundsätzliche Vorgehen bei der Isolationskoordination ist damit umrissen, und die nächsten Abschnitte widmen sich den typischerweise auftretenden Amplituden der zeitweiligen, der langsam und der schnell ansteigenden Überspannungen.
Typische Amplituden von Überspannungen
Wie bereits ausgeführt, sind die repräsentativen Überspannungen für jede Überspannungsklasse in transienten Netzanalysen von Fall zu Fall individuell zu ermitteln. Trotzdem lassen sich aus der Betriebserfahrung und als Ergebnis vieler einschlägiger durchgeführter Untersuchungen und Berechnungen auch ganz allgemein typische Bereiche und Richtwerte von Überspannungsamplituden angeben.
Zeitweilige Überspannungen entstehen bei Erdfehlern, durch Lastabwurf oder durch Resonanzeffekte, um nur die wichtigsten Ursachen zu nennen. Die Höhe der Überspannung wird entscheidend durch die Sternpunktbehandlung des Netzes (isolierter Sternpunkt, direkte bzw. starre Sternpunkterdung, Impedanz-Sternpunkterdung, Erdung mit Erdschlusskompensation; Definitionen dazu in [1]) und den Fehlerort beeinflusst. Beides drückt sich im Erdfehlerfaktor k aus. Definiert ist dieser als «für eine bestimmte Stelle eines Drehstromnetzes und für eine bestimmte Netzkonfiguration das Verhältnis des Effektivwerts der höchsten betriebsfrequenten Spannung Aussenleiter-Erde eines nicht fehlerbehafteten Aussenleiters während eines Fehlers mit Erdberührung, der einen oder mehrere Aussenleiter an beliebigen Stellen des Netzes beeinflusst, zum Effektivwert der betriebsfrequenten Aussenleiter-Erde-Spannung an der betrachteten Stelle, die dort ohne Fehler vorhanden wäre» [1]. Das heisst, dass der Erdfehlerfaktor an jeder Stelle des Netzes und je nach aktueller Netzkonfiguration ein anderer sein kann. Als grober Anhaltspunkt (und natürlich mit Ausnahmen) werden z.B. im deutschen Stromversorgungsnetz die Netze der Verteil- und unteren Übertragungsspannungsebenen (Us ≤ 123 kV) isoliert oder kompensiert betrieben, die der Hoch- und Höchstspannungsebenen (Us > 123 kV) direkt geerdet. Die höchsten zeitweiligen Überspannungen ergeben sich bei isoliertem Sternpunkt mit k = √3 bis 2, die geringsten bei direkter Sternpunkterdung mit einem resultierenden Erdfehlerfaktor von typischerweise k ≤ 1,4. Besondere Beachtung verdient die Dauer des Auftretens von zeitweiligen Überspannungen, die in Netzen mit kompensiertem oder isoliertem Sternpunkt durchaus bei mehreren Stunden liegen kann. In [1] wird aber eine Zeit von 3600 Sekunden als maximale Dauer zeitweiliger Überspannungen definiert (Bild 1), was bedeutet, dass bei mehrstündigem Auftreten die Überspannung als dauernd anliegende Spannung zu betrachten ist. Dies wirkt sich auf die Dimensionierung der Überspannungsableiter aus, deren Dauerspannung in diesem Fall zwingend oberhalb dieser Spannung liegen muss (Bild 2).
Langsam ansteigende Überspannungen treten bei praktisch jeder – gewollten oder ungewollten – transienten Änderung des elektrischen Netzzustandes auf, da die geladenen Kapazitäten und Induktivitäten im Netz grundsätzlich zu Ausgleichsvorgängen mit im Allgemeinen schwingenden Verläufen führen. Die repräsentative Spannungsform ist die genormte Schaltstossspannung 250/2500, während die auftretenden Amplituden in der Regel durch Wahrscheinlichkeitsverteilungen als Ergebnis von transienten Netzanalysen abgebildet werden. Einen groben Anhalt über wichtige Einflussparameter und resultierende Überspannungsamplituden bietet die Anwendungsrichtlinie [2]. Hier werden z.B. die Einflussgrössen «Einschaltung/dreiphasige Wiedereinschaltung», «Vorhandensein/Nicht-Vorhandensein von Einschaltwiderständen an den Leistungsschaltern», «Charakteristik des Netzes (komplex/induktiv)» sowie der «Grad der Parallelkompensation (>50%/<50%)» bewertet. Der Bereich möglicher langsam ansteigender Überspannungen erstreckt sich danach etwa von 1,2 p.u. bis 3,6 p.u. Grundsätzlich ist es am wichtigsten in den Höchstspannungsnetzen, durch geeignete Massnahmen diese Werte möglichst niedrig zu halten (siehe auch Bild 2), da die absoluten Spannungsamplituden dort beträchtlich hohe Werte annehmen. Beispielsweise entspricht ein typischer Wert von 2,6 p.u. in den europäischen 420-kV-Netzen bereits einer Überspannung von 892 kV und stellt damit einen Wert dar, der im Betrieb nicht merklich überschritten werden darf (Tabelle 1). Im 24-kV-Netz führt der gleiche p.u.-Wert dagegen auf eine absolute Spannungshöhe von 51 kV, was für die dortigen Betriebsmittel unkritisch ist.
Hauptursache für schnell ansteigende Überspannungen sind Blitzeinwirkungen. In diesem Fall spricht man auch von Blitzüberspannungen. Einer der kritischsten Fälle, auf den hier beispielhaft eingegangen wird, ist ein direkter Blitzeinschlag in ein Leiterseil einer Freileitung. Die Blitzstromamplituden weisen im Allgemeinen eine enorme Bandbreite auf. Die heute noch verwendeten Daten beruhen auf Veröffentlichungen von Berger, Anderson, Eriksson und Kroninger aus den Jahren 1975 und 1980 und wurden später in einer Technischen Broschüre von Cigre aktualisiert, zusammengefasst und übersichtlich dargestellt [9].
Blitzüberspannungen müssen grundsätzlich sowohl bezüglich ihrer Amplituden als auch ihrer Anstiegssteilheiten bewertet werden, wobei die höchsten Amplituden beim Erstblitz auftreten, die höchsten Steilheiten jedoch bei den in der Regel immer auftretenden Folgeblitzen. Transiente Netzanalysen im Zuge der Isolationskoordination müssen beides berücksichtigen.
Es muss ferner entschieden werden, welche Wahrscheinlichkeit des Auftretens betrachtet wird. In der Regel ist das die 5%-Auftrittswahrscheinlichkeit, die allerdings auf extreme Werte der Amplituden und Steilheiten führt. Wichtig für die Isolationskoordination der Schaltanlagen ist aber auch die Ausführung der angeschlossenen Freileitungen. Wird ein Erdseil mitgeführt, was im Hoch- und Höchstspannungsnetz praktisch immer der Fall ist, hat man es durch dessen geometrische Anordnung auf den Masten in der Hand, welche maximalen Blitzstromamplituden bei einem direkten Leiterseileinschlag in der Schaltanlage auftreten können [3]. Ein typischer Wert für die in Deutschland häufig eingesetzten 420-kV-«Donaumasten» ist ein maximal zu erwartender Blitzstrom von îmax = 36 kA. Ein «stärkerer» Blitz würde nicht mehr direkt ins Leiterseil, sondern ins Erdseil einschlagen. Dieser durch den Einschlag eingeprägte Strom teilt sich auf in zwei Strom-Wanderwellen, die sich, ausgehend vom Einschlagsort, in beide Richtungen ausbreiten. Damit lässt sich typischerweise ein maximaler Wert von 18 kA für die über die Leitung laufenden Strom-Wanderwellen annehmen. Dieser Wert, multipliziert mit dem Wellenwiderstand von typischerweise Z = 350 Ω einer 420-kV-Freileitung, führt auf eine Amplitude der Überspannungswellen von 6,3 MV. Bei dieser Spannungshöhe schlagen aber die Isolatoren über. Als maximal mögliche Amplitude der weiterlaufenden Spannungswellen kann man die 100%-Überschlagspannung U100,neg der Isolatoren bei negativer Polarität annehmen (bei negativer Polarität ergeben sich die höchsten Überschlagspannungen, und 90% aller Blitzströme weisen ohnehin negative Polarität auf). Die Anwendungsrichtlinie [2] nennt Richtwerte für die spezifischen Überschlagspannungen verschiedenster Anordnungen.
In dem hier betrachteten Fall eines Isolators mit 3,5 m Schlagweite ergibt sich mit einer spezifischen 100%-Überschlagspannung von 770 kV/m ein Wert von U100,neg= 2,7 MV, entsprechend 7,9 p.u. Das führt immer noch zu völlig inakzeptablen Amplituden der schnell ansteigenden Überspannungen, was aber auch bereits bei langsam ansteigenden Überspannungen von 3 p.u. schon der Fall ist. Bei den Betrachtungen in Tabelle 1 ist es wichtig zu beachten, dass im Netzbetrieb nicht die Bemessungsstehspannungswerte Uw der Typprüfungen auftreten dürfen, sondern nur die um den Sicherheitsfaktor Ks reduzierten Werte, also die Koordinationsstehspannungen Ucw.
Es zeigt sich, dass der Einsatz von Standard-Überspannungsableitern (typischer Schaltstossschutzpegel SIPL = 650 kV, typischer Blitzschutzpegel LIPL = 790 kV [10]) im gewählten Beispiel die langsam ansteigenden Überspannungen auf einen Wert von 650 kV (1,9 p.u.) und die schnell ansteigenden auf einen Wert von 790 kV begrenzt. Diese Werte liegen mit einer grossen Sicherheitsmarge unterhalb der Koordinationsstehspannungen, wobei die besonders grosse Marge von 1239 kV/790 kV = 1,57 bei den schnell ansteigenden Spannungen insbesondere durch zwischen Ableiter und zu schützendem Betriebsmittel auftretende Wanderwelleneffekte schnell aufgebraucht wird, und zwar umso mehr, je grösser der Abstand zwischen beiden ist. Ableiter haben daher nur einen begrenzten räumlichen Schutzbereich und sollten so nah wie möglich an den zu schützenden Betriebsmitteln installiert sein.
Zusammenfassung
Dieser kurze Beitrag kann nur einen groben Überblick über die Grundlagen der Isolationskoordination geben. Detailliertere Betrachtungen sind hier nicht möglich. Isolationskoordination bedeutet die Gegenüberstellung von Spannungsbeanspruchungen im Netz einerseits und der dielektrischen Festigkeit der Betriebsmittel andererseits. Ziel der Isolationskoordination ist die Definition von Prüfspannungen und -bedingungen, die die Verhältnisse im Netz repräsentieren und damit die Betriebsmittel durch die im Labor durchgeführten Typprüfungen für einen sicheren, fehlerfreien Betrieb im Netz über ihre gesamte erwartete Lebensdauer dielektrisch qualifizieren. Dabei wird nach verschiedenen Überspannungsklassen unterschieden: dauernd anliegende Spannung, zeitweilige Überspannungen und langsam sowie schnell ansteigende Überspannungen. Die prinzipielle Vorgehensweise der Isolationskoordination ist ein Prozess in vier Schritten, in denen zunächst die repräsentativen Überspannungen Urp ermittelt werden, dann durch Anwendung von entsprechenden Faktoren die Koordinationsstehspannung Ucw, die erforderliche Stehspannung Urw und schliesslich die Bemessungsspannungen Uw, die gemeinsam für jeden Wert der höchsten Spannung für Betriebsmittel, Um, den Bemessungsisolationspegel der Betriebsmittel ergeben.
Die im Netz auftretenden Überspannungsbeanspruchungen müssen für jeden individuellen Fall durch aufwendige transiente Netzanalysen ermittelt werden. Es lassen sich jedoch für alle Überspannungsklassen typische Ursachen und typische Amplituden benennen, was in diesem Beitrag stark vereinfacht dargestellt wurde. Es zeigt sich dabei, dass ohne Einsatz von Überspannungsableitern die auftretenden Überspannungen oft schon bei den langsam ansteigenden, auf jeden Fall aber bei den schnell ansteigenden Überspannungen in der Regel zu hoch für die installierten Betriebsmittel sind. Damit sind Überspannungsableiter unverzichtbare Betriebsmittel zur Sicherstellung einer korrekten Isolationskoordination in den Netzen.
Referenzen
[1] DIN EN 60071-1: Isolationskoordination – Teil 1: Begriffe, Grundsätze und Anforderungen. (IEC 60071-1:2006 + A1:2010); Deutsche Fassung EN 60071-1:2006 + A1:2010, 2010–09.
[2] DIN EN IEC 60071-2: Isolationskoordination – Teil 2: Anwendungsrichtlinie (IEC 60071-2:2018); Deutsche Fassung EN IEC 60071-2:2018, 2021–07.
[3] A. R. Hileman, Insulation Coordination for Power Systems, Marcel Dekker, 1999.
[4] DIN EN 50124-1: Bahnanwendungen – Isolationskoordination – Teil 1: Grundlegende Anforderungen – Kriech- und Luftstrecken für alle elektrischen und elektronischen Betriebsmittel; Deutsche Fassung EN 50124-1:2017, 2017–12.
[5] DIN EN 50124-2: Bahnanwendungen – Isolationskoordination – Teil 2: Überspannungen und zugeordnete Schutzmassnahmen; Deutsche Fassung EN 50124-2:2017, 2017–12.
[6] DIN EN 60664-1: Isolationskoordination für elektrische Betriebsmittel in Niederspannungsanlagen – Teil 1: Grundsätze, Anforderungen und Prüfungen, 2008–01.
[7] IEC-Dokument SMB/7782/QP: ACTAD recommendation to assign a horizontal function to TC 99, Insulation co-ordination and system engineering of high voltage electrical power installations above 1,0 kV AC and 1,5 kV DC. 2022–12–09.
[8] IEC 60060-1: High-voltage test techniques – Part 1: General definitions and test requirements. 2010–09.
[9] Cigre Working Group C4.407: TB 549 – Lightning Parameters for Engineering Applications. August 2013.
[10] Siemens Energy, High-Voltage Surge Arresters – Product Guide, 2021. Download. Daraus: Typ 3EL2 336-2P.3.-….
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