Das europäische Verbundnetz beobachten und mitgestalten
Zwei Jahrzehnte Forschung
Der berufliche Einstieg von Walter Sattinger bei der damaligen Etrans, heute Swissgrid, in Laufenburg war für ihn wie das Aufspüren einer Goldader. Die Daten, die dort auf Netzebene zusammenkommen, sind für Forscher im Bereich der Übertragungsnetze einzigartig. Im Gespräch blickt Sattinger auf seine Erfahrungen im internationalen Umfeld zurück.
Bulletin: Wenn man die Stromnetze der USA und Europa vergleicht, trifft man auf unterschiedliche Systeme: Die USA haben 60 Hz, hier hat man 50 Hz. War die europäische Entscheidung damals richtig? Oder spielt es keine Rolle?
Walter Sattinger: Nein, das spielt eigentlich keine Rolle. Das Interessante ist, dass Rheinfelden auch an diesem sogenannten «Stromkrieg» zwischen Edison gegen Nikola Tesla beteiligt war. Nikola Tesla wollte ja Drehstrom, Edison Gleichstrom. Dann haben sich auch unterschiedliche Frequenzen etabliert. In Rheinfelden wurde zum ersten Mal ein Grosskraftwerk mit 50 Hz und Drehstrom gebaut. In den USA waren es damals noch 40 Hz mit Einphasensystem. Da fand ein Wettbewerb zwischen dem Bau des Kraftwerks in Rheinfelden und den Niagara-Wasserfällen statt. Mit dem Drehstrom hat Rheinfelden das Rennen gemacht, weil sich dieses System anschliessend weltweit durchgesetzt hat. Aber zwei unterschiedliche Frequenzen blieben. Man muss natürlich zugeben, dass 60 Hz ein wenig besser ist, weil die Motoren dann etwas kleiner werden. Aber die USA sind bezüglich Spannung, den 110 V, wieder im Nachteil. Wenn sich ein Standard mal festsetzt, kann man nicht mehr davon abweichen. Das ist genauso wie mit der Bahn und ihren 16,7 Hz. Heute könnte man Bahnmotoren für 50 Hz bauen, früher ging das nicht. Ich bin davon überzeugt, dass die Entscheidung mit 50 Hz und Drehstrom die richtige war.
Welche Rolle spielt die Cigre in diesem Kontext?
Die Cigre ist da auch involviert. Cigre kommt ja aus dem Französischen, Conseil International des Grands Réseaux Électriques. Die Organisation hat sich lange nur auf die Hochspannung konzentriert. Jetzt ist sie schon breiter aufgestellt und geht auch in Richtung Mittel- und Niederspannung. Dann gibt es das Cired, das für die Verteilnetze zuständig ist. Es gab immer Diskussionen, ob diese Organisationen zusammengehen sollen oder nicht. Aber ich glaube, es ist gut, dass sie auseinandergeblieben sind. Was für mich bei Cigre einmalig ist, dass es weltweit fast gleichmässig verteilt ist, im Gegensatz zur IEEE, die stark amerikanisch fokussiert ist. Zudem ist Cigre für Elektroingenieure nützlicher, weil es praxisbezogener ist. IEEE ist der akademische Tempel, da lässt sich vielleicht zehn Prozent der Papers in der Praxis brauchen. Cigre ist zwar nicht so hoch im Ranking bei Veröffentlichungen als IEEE, aber für einen Praktiker ist es etwas greifbarer. Die technischen Broschüren sind wirklich top, das ist Praxiserfahrung erster Güte.
Und ist das auch für die internationale Zusammenarbeit und Networking nützlich?
Ja, sicher. Das ist ein Riesenvorteil und ich empfehle auch allen jungen Ingenieuren, da in Arbeitsgruppen mitzumachen, um an vorderster Front mit dabei zu sein, was Entwicklungen betrifft.
Sie haben diverse Artikel fürs Bulletin verfasst. Ihre Fachartikel beginnen 2003 mit dem Blackout in Italien und der darauffolgenden Forschung zur Temperaturmessung an den Leiterseilen auf dem Lukmanier. Dort haben Sie ja drei Verfahren verglichen. Welche der drei untersuchten Methoden – der Power-Donut, der die Temperatur direkt misst, die Clearance Assurance of Transmission Lines, bei der die Zugspannung gemessen wird, und das Line Thermal Monitoring, also die Methode, bei der vom Stromfluss und den entsprechenden Verlusten auf die Leitertemperatur geschlossen wird – hat sich durchgesetzt?
Die Methode mit der Strommessung wird oft angewandt, weil man da praktisch keine zusätzlichen Messgeräte braucht. Über die Verlustmessung lässt sich die Temperatur gut ermitteln. International haben sich eigentlich nicht so viele dieser Verfahren etabliert, es sind vielleicht noch zwei andere, die Vibrationsmessung einer belgischen Firma, oder die direkte Temperaturmessung an fünf Punkten am Leiterseil, das ist eine Methode einer kleinen Firma aus Wien, die wir auch verwenden. Sie hat sich ziemlich gut etabliert am Markt. Das Verfahren wurde nach dem BSE-Skandal entwickelt, um die Temperatur in Müllhalden zu messen. Das hat man dann auf Leiterseile übertragen.
Wie wichtig sind solche Methoden für den Betrieb des Übertragungsnetzes?
Das sind alles Verfahren, die dem Netzbetrieb zwar helfen, aber die für den Betrieb nicht zwingend erforderlich sind. Es ist einfach eine zusätzliche Kontrolle, weil die Leiterseilproblematik sehr komplex ist. Da gibt es verschiedene Faktoren, die das Leiterseil aufheizen, und andere, die es abkühlen. Das Wichtigste, was aufheizt, ist natürlich der Strom. Er gibt die Grenze vor, wie stark man diese Leiterseile belasten kann. Gekühlt werden Leiterseile vom Regen, der etwa 10°C ausmacht, und vom Wind, der bis zu 20 bis 30°C ausmachen kann, wenn er senkrecht kommt und entsprechend stark weht. Beschattung macht auch viel aus. Indirekte Sonneneinstrahlung erhöht die Temperatur um etwa 10°C. Damit mussten wir uns nach dem Italien-Blackout befassen, weil ja eine Leitung den Bäumen zu nahe gekommen ist.
Der damalige CEO Karl Imhoff kam zu mir und fragte, was man da machen kann, und ich antwortete: messen. Dann haben wir den Markt abgeklappert, zusammen damals noch mit der Atel. Nach dem Blackout stand schnell Geld für solche Forschungsaufgaben zur Verfügung. Immer, wenn eine Grossstörung passiert, gibt es Vorteile und Nachteile. Ein Nachteil ist, dass sogar grössere Schäden entstehen können, aber der Vorteil ist, dass man dann die Aufmerksamkeit auf ein Problem fokussieren kann, und es dort dann schnell entsprechende Mittel gibt, um das Problem zu untersuchen und zu lösen.
Das Monitoring wird auch dazu gebraucht, um den Netzbetrieb zu optimieren. Beispielsweise, um kurzfristig die Nennströme zu überschreiten. Dieses Verfahren wird weltweit eingesetzt. Da muss man sich sehr sicher sein, dass man es richtig macht, denn es gibt zwei Gefahren, wenn das Seil zu heiss wird: Das Seil kann aus der elastischen Verformung in die plastische kommen und wird dadurch beschädigt. Dann bleibt es einfach hängen und muss ausgetauscht werden. Das ist dann zwar ein Riesenschaden, aber trotzdem weniger schlimm als der zweite Effekt, wenn die minimalen Abstände unterschritten werden und beispielsweise ein Fahrzeug darunter fährt oder jemand darunter geht. Das kann tödlich enden. Dann ist man als Netzbetreiber schon mehr als mit einem Fuss im Gefängnis. Diese Verfahren, dem Wetter nachzufahren, sind gut und auch schon ganz ausgereift, aber der Operator muss da genau wissen, was er macht, damit das Seil diese Grenztemperatur nicht überschreitet.
Und das sind 80°C?
Ja. Wir haben dazu mit der Empa Untersuchungen gemacht, also diese Leiterseile in den Backofen und in die Klimakammer getan und geschaut, was mit der Materialstruktur passiert. In der Schweiz verwenden wir Aldrey-Leiterseile, also Seile, die aus einer Aluminiumlegierung mit 0,5% Magnesium und 0,5% Silicium bestehen, die weltweit nicht so oft eingesetzt werden. Meist hat es im Ausland ein Stahlseil in der Mitte. In der Schweiz haben wir filigranere Masten gebaut und dadurch auch diese etwas leichteren Seile eingesetzt.
Wenn irgendwo ein altes Seil abgebaut wird, sind wir nun auch in der Lage, dieses von der Empa untersuchen zu lassen, um den Alterungsprozess zu bestimmen. Dabei wird festgestellt, ob der Leiter noch 10 Jahre einsatzfähig gewesen wäre, oder ob er zum richtigen Zeitpunkt ersetzt wurde. Zudem wissen wir jetzt auch, dass ein Leiterseil genauso wie ein guter Schinken, zuerst einmal für eine bis vier Wochen hängen muss, bevor man die richtige Endseilspannung anbringt, damit sich das Material setzen kann.
In einem Artikel haben Sie das Zusammenschalten von West- und Südosteuropa behandelt. Wie hat sich die Lage da in den letzten zwei Jahrzehnten entwickelt?
Diese Netzentwicklung ist wirklich eine Erfolgsstory. Das Ganze ging ja 1958 in Laufenburg los, wo das erste Mal Deutschland, Frankreich und die Schweiz zusammengeschaltet wurden. Dann kamen verschiedene Etappen des Wachstums. Die Wasserkraft des Alpenraums wurde mit der Kohlekraft von Mitteldeutschland verbunden. Im Winter konnten die Wasserkraftwerke revidiert werden, weil nicht viel Wasser da war, und aus dem Norden hat man damals Kohlestrom importiert. Im Sommer war es umgekehrt. Wenn die Schneeschmelze kam, konnten die deutschen Kraftwerke revidiert werden. Das waren die ersten Stromaustäusche. Anschliessend hat man die Netze immer mehr zusammengebaut, damit man auch grössere Ausfälle verkraften kann, ohne dass etwas passiert.
Diese gegenseitige Unterstützung ist eigentlich der Grundgedanke des vermaschten Netzbetriebs. Egal, ob das jetzt Wasser, Strom und Gas oder Telekommunikation ist. Das hat aber auch Nachteile, denn man kann gewissermassen auch durch Probleme seiner Nachbarn in Mitleidenschaft gezogen werden. Um das zu vermeiden, gibt es genaue Mechanismen zur Entstörung, wenn etwas passiert. Man versucht, so lange wie möglich verbunden zu bleiben, aber irgendwann wird man sich trennen. Das macht der Schutz automatisch. Einzelne Inseln können dann überleben, und die lassen sich dann wieder zusammenschalten. Das ist in ein paar Worten das Geheimnis des Netzverbundes, das mit den drei Ländern anfing und nun praktisch Kontinentaleuropa umfasst.
Welche Schritte gab es da?
Ein grosser Schritt war Anfang der 1970er-Jahre die Anbindung des ehemaligen Jugoslawien. Da hat man auch seine Erfahrungen gemacht, beispielsweise, dass diverse Regler richtig eingestellt werden müssen, um zu verhindern, dass die Netze zueinander pendeln. Zwischendurch hat man wieder abstellen müssen, um ein paar Regler zu optimieren. Das wurde an einem Wasserkraftwerk an der Donau gemacht und die Funktion kontrolliert. Dieses Wissen wurde dann beim nächsten grösseren Anschluss genutzt, vor der Wende, als Ostdeutschland, Ungarn, Polen, Tschechoslowakei angeschlossen wurden. Das war die Verbindung der zwei Zonen des UCTE-Netzes im Jahr 2004, also gerade ein Jahr, nachdem ich in Laufenburg begonnen habe. Da durfte ich auch schon mitmachen. Und dann folgte der nächste Schritt 2010, der Anschluss der Türkei.
Anschliessend war es lange ruhig, bis 2022 der Notanschluss der Ukraine kam. Wir hatten vorher schon alles vorbereitet, aber das, was wir in drei Jahren umsetzen wollten, wurde dann in drei Wochen realisiert. Gerade als wir unsere Versuche für den Anschluss gemacht haben, um zu demonstrieren, ob die Kraftwerke genügend leistungsfähig sind, ist der Krieg gekommen. Es war ursprünglich geplant, dass sie wieder ans russische Netz angeschlossen werden, aber nach der Invasion war es keine Option mehr. Und da hat die Ukraine im Kriegszustand im Inselbetrieb ein paar Wochen überleben müssen, bis alles fertig war und sie angeschlossen werden konnten.
Anfänglich haben wir hauptsächlich Strom von der Ukraine bezogen, da waren noch alle Kernkraftwerke im Betrieb, inklusive das Kernkraftwerk Saporischschja, das grösste Kernkraftwerk in Europa mit 6000 MW Leistung, das jetzt in russischer Hand ist und praktisch nur noch gekühlt wird. Die Ukraine ist jetzt mit acht Verbindungen an Europa angeschlossen. Im Februar 2025 kommen noch die baltischen Staaten hinzu. Aber dann ist langsam Schluss, weil wir eine gewisse Stabilitätsgrenze erreicht haben.
Eigentlich wussten wir schon beim Anschluss der Türkei, dass dies nur möglich ist, wenn wir künstliche Dämpfung, also Leistungselektronik mit speziellen Regeleinstellungen, ins Netz einbringen, um Pendelungen zu verhindern. Das waren immer spannende Projekte, bei denen ich dabei war, um diese Anschlüsse vorzubereiten. Ein solcher Job dauert oft rund zehn Jahre, bis man dann tatsächlich anschliessen kann. Denn man muss mit den Kollegen zusammensitzen, um die Schutzeinstellungen zu harmonisieren, Messungen zu machen usw. Ich durfte also teilweise an der europäischen Stromgeschichte mitschreiben.
In der Türkei gab es das von Ihnen in einem Artikel beschriebene Problem mit den Bewässerungspumpen in Anatolien, die einen Spannungskollaps verursachten, der sich in einem bis Nordeuropa feststellbaren Frequenzanstieg auswirkte. Ist dieses Problem jetzt entschärft?
Ja, das ist entschärft. Wie genau, weiss ich nicht, weil es in einem konfliktreichen Grenzgebiet in der Nähe von Syrien ist. Es gibt theoretisch mehrere Möglichkeiten – entweder wird weniger angepflanzt und entsprechend weniger bewässert, oder sie haben zwei Massnahmen umgesetzt, die sie versprochen hatten: Einerseits nicht mehr durch Pumpen zu bewässern, sondern mit Kanälen, was weniger Leistung aus dem Netz braucht. Oder das Netz dort entsprechend zu ertüchtigen, wieder mit Statcoms, also Kompensationsanlagen oder mit Static-VAR-Kompensatoren, SVC, damit es diese Spannungsprobleme nicht mehr gibt.
Wie gross war die Anschlussleistung dieser Pumpen insgesamt?
An die 700 MW. Das kann man sich kaum vorstellen. Dieser Wert lässt sich von den Auswirkungen herleiten. Die Pumpen wurden staatlich gefördert, der Strom fürs Bewässern war kostenlos. Effizienz war da keine Frage. Diese Vorfälle haben wir auch nur gesehen, wenn bei ihnen Schwachlast war im ganzen Netz, inklusive bei uns. Der Unterschied zwischen Starklast und Schwachlast ist etwa Faktor zwei.
Wie konnten Sie feststellen, was in Anatolien für die Netzprobleme verantwortlich war?
Dieses Phänomen kannte ich bereits von Industrienetzen. Da werden auch grosse Asynchronmaschinen eingesetzt. Wenn man den Effekt mal begriffen hat, dann kann man das ableiten. Anfänglich wusste ich nicht, wo die Motoren eingesetzt wurden. Die Messungen haben darauf hingewiesen, dass es sich bei dem Verhalten um viele Asynchronmaschinen handeln muss. Und dann sind die türkischen Kollegen nach und nach mit der Wahrheit rausgerückt. Eigentlich habe ich sehr gute Erfahrungen gemacht mit den Kollegen aus der Türkei, und noch viel mehr mit den Kollegen aus der Ukraine. Da ist die Transparenz gross in technischen Fragen. Sowohl in der Türkei als auch in der Ukraine haben die Kollegen transparent informiert und immer die Wahrheit gesagt. So ist man dann auch schnell weitergekommen. Es bringt ja nichts, sich irgendwo zu verstecken. Irgendwann kommt es ja raus.
Sie haben im Jahr 2018 den Artikel «Unerwünschte Gleichströme im Tessiner Netz» geschrieben. Ist dieses Problem mit den DC-Strömen nun gelöst? Hat man Methoden, wie man damit umgeht?
Ich glaube, so ganz haben wir es noch nicht gelöst. Vor allem, weil es noch immer nicht klar ist, was die Ursachen dafür sind. Ein nachvollziehbarer Teil kam über die Bahnen. Teilweise gibt es aber auch Induktionen aus dem Weltall. Da das Terrain im Tessin schlecht leitet, es isoliert sehr gut, bleibt alles, was man über irgendwelche elektrischen Stränge einfangen kann, da drin. Und man weiss jetzt in der Dimensionierung der Transformatoren, die wir dort haben, dass dieses Problem besteht.
Man kann das zum Teil berücksichtigen, indem man die Transformatoren entsprechend ein wenig überdimensioniert. Die neuen Transformatoren kommen nämlich sehr schnell in die Sättigung, denn sie werden auf geringste Leerlaufverluste optimiert. Das hat aber den Nachteil, dass sie ziemlich schnell in die Sättigung kommen. Es ist ein Optimieren. Aber ich würde sagen, dass man das im Augenblick beherrscht. Es gab jetzt keine weiteren Klagen oder sonstige Probleme.
Kennt man das Phänomen auch von anderen Orten?
Das Problem gibt es weltweit. Vor allem weit weg vom Äquator, in der Nähe von Nord- und Südpol. Da leidet man immer, wenn es grössere Sonnenstürme gibt, denn dann wirken die Leitungsnetze wie Antennen. Die Transformatoren sind die Senken, die den ganzen Gleichstrom ableiten. Sie können dadurch sogar beschädigt werden. Bei grösseren Sonnenstürmen versucht man irgendwie, diese Elemente durch Netzschaltungen zu schützen. Da wir zwar noch nicht äquatornah sind, aber etwas mehr zur Mitte hin, sind diese induzierten Ströme etwas geringer. Und wir haben auch nicht so lange Leitungen in Nord-Süd-Richtung. Von dem, was jetzt im Augenblick vom Weltall kommt, also von der Sonne selber, sind wir nicht so stark betroffen.
Aber gerade Südafrika, Kanada und Russland haben da viel grössere Probleme. Skandinavien zum Teil auch. Die Netzbetreiber dort müssen das Phänomen kennen.
Was lässt sich da machen?
Das Problem lässt sich mit Gleichstromnetzen lösen. Die sind dafür nicht anfällig.
2020 wurde Ihr Artikel zur Frequenzmessung beim Lastabwurf veröffentlicht. Können Sie etwas zu dieser dynamischen Modellrechnung für das europäische Netz sagen?
Ja, heute hat man sehr gute Möglichkeiten, um die komplexe Technik in einem bestimmten Umfang in der Simulationsumgebung nachzubilden. Und dann kann man mit diesen Modellen schauen, was in gewissen Netzsituationen passiert. Was man ja über Versuche gar nicht realisieren kann. Ein Beispiel wäre der Lastabwurf, den man auch entsprechend vorausrechnen kann. Wenn etwas passiert, haben wir diese letzte Verteidigungslinie im Netzschutz, bevor es zusammenbricht. Ist sie leistungsfähig genug? Das kann man mit diesem Modell untersuchen.
Ist das Modell digital?
Ja, es ist digital. Wir haben da auch sehr viel gemacht. 2021 hatten wir zwei Grossstörungen, die wir durch Modelle nachbilden konnten. Erst anschliessend waren wir uns fast sicher, dass wir verstanden haben, was passiert ist. Weil man es nachbilden und auch entsprechende Massnahmen ableiten konnte. Mit dem Modell kann man ja viel mehr «spielen», um der Sache Herr zu werden. Und das war auch das Erfreuliche bei beiden Grossstörungen. 2021 waren wir in der Lage, über Modellrechnungen diesen Störfall nachzubilden und auch genau zu verstehen, was eigentlich passiert ist und warum. Und wussten, wo man ansetzen muss, damit das Gleiche nicht wieder geschieht.
Waren diese Störungen europaweit?
Ja. Das waren zwei Inselnetzbildungen. Am 8. Januar 2021 wurde ein Teil des Balkans abgetrennt und am 24. Juli war dann die Iberische Halbinsel betroffen. Dort gab es den Lastabwurf. Das Schöne war, dass wir da auch Daten von Schutzrelais-Messungen bekommen haben, die wir in Modelle einspeisen konnten. Damit konnten wir dann die Lastabwurfrelais versuchen zu optimieren. Die Relais konnten wir dort einbauen und schauen, ob sie richtig reagieren.
Sind solche Grossstörungen aus Forschungssicht auch eine Chance?
Bei Grossstörungen erhält man nützliche Messungsdaten und kann modellieren. Man lernt, das Ganze zu verstehen, bildet sein Modell nach und rüstet sich für die nächsten Störungen, damit man künftig besser reagieren kann. Dies geschieht auf internationaler Ebene. Die Spanier profitieren also vom Know-how aus der Schweiz und umgekehrt. Diese Relais müssen ja auch im ganzen Netz gut koordiniert, aufeinander abgestimmt werden. Sie werden auch regelmässig überprüft. Jedes Land muss dafür gerade stehen, weil das wirklich die letzte Verteidigungslinie ist, die man noch hat, bevor es zum Blackout kommt.
Werden da auch die Gerätehersteller einbezogen?
Da sind natürlich auch die Hersteller der Relais involviert. Wir haben damals eine DACH-Arbeitsgruppe gebildet, Deutschland, Österreich, Schweiz, mit Herstellern, die dann Entwicklungsdetails preisgeben mussten, wie ihre Geräte programmiert sind. Sie waren selber überrascht, festzustellen, was sie auch noch nicht wussten. Es war eine gegenseitige Befruchtung in Richtung Verbesserung der Relais. Und es war auch eine sehr schöne Zusammenarbeit mit Fachhochschulen, also gerade mit der Fachhochschule Fribourg. Und dann hatten wir auch eine Diplomarbeit mit der ETH Zürich. Da ist eine gute Sache draus geworden.
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Netzentwicklung
Ein Artikel, der einen Blick in die Zukunft des Schweizer Übertragungsnetzes wirft, erscheint in Bulletin 8/2025. Das Thema: «Swissgrid plant das Netz der Zukunft».
Informationen zum Netz der Zukunft
Zur Person
Nach seiner Promotion an der Universität Stuttgart war Walter Sattinger bei einer Firma in Deutschland tätig, die Netzberechnungsprogramme entwickelte. Im März 2003 stiess er zur damaligen Etrans in Laufenburg, der jetzigen Swissgrid, um sich mit dem Netzwiederaufbau zu befassen. Dort war er bis zu seiner Pensionierung 2024 als Principal Grid Studies Engineer aktiv und hat mit seiner Arbeit das Europäische Hochspannungsnetz mitgestaltet und zuverlässiger gemacht. Nun ist er noch als Consultant in einem Teilzeitpensum für Swissgrid aktiv.
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Swissgrid AG, 5001 Aarau
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