Innovatives aus der Gebäudetechnik: Augmented Reality
Gebäudetechnik-Kongress 2023
Der nationale Gebäudetechnik-Kongress 2023 findet am 21. September im Trafo Baden statt. Mit dem Schwerpunkt auf Adaption und Transformation bieten spannende Referate inspirierende Impulse. Das ETH Start-Up Incon.ai präsentiert eine wegweisende AR-Lösung. Referentin Sheerah Kim und CEO Dr. Fadri Furrer beantworten unsere Fragen hierzu.
Bulletin: Wie kam es zu der Gründung des Start-ups? Welche Verbindung haben Sie zur Baubranche? Wie wurden Sie auf diese Nische bzw. auf die Bedürfnisse der Baubranche aufmerksam?
Fadri Furrer: Die Gründungsidee entstand während des Doktorats im Rahmen des NCCR Digital Fabrication in der Robotik. Während der Entwicklung unserer «3D Vision»-Algorithmen für Kamera- und Objekttracking von Robotern erkannten wir, dass unsere Positions- und Orientierungsschätzungen für Objekte sehr präzise sind. Jedoch sind die Manipulationsfähigkeiten von mobilen Robotern vergleichsweise noch begrenzt. Die meisten heute verkauften Roboter, die nicht in kontrollierten Fabrikanlagen arbeiten, navigieren durch ihre Umgebung, ohne sie zu verändern. Während des Doktorats wurde für uns durch den intensiven Kontakt zur Industrie offensichtlich, dass auf Baustellen im Gegensatz zur Planung viele Prozesse nach wie vor ähnlich ablaufen wie vor 100 Jahren. Sowohl auf der Baustelle als auch in der Vorfertigung werden weiterhin überwiegend 2D-Pläne verwendet, obwohl es mittlerweile gängige Praxis ist, 3D-Modelle zu erstellen.
Frau Kim, Sie kommen aus der Rückversicherung und Strategieentwicklung. Welche Firmen sind das und was bringen Sie aus dieser Efahrung mit für Ihre zukünftigen Projekte?
Sheerah Kim: Vor Incon.ai habe ich fünfzehn Jahre bei Swiss Re gearbeitet, in verschiedenen Bereichen wie in der Technischen Buchhaltung, im Reporting & Analytics und im Corporate Strategy & Performance Management. Dadurch habe ich eine starke Affinität zu Daten, Macro-Trends, Marktforschung, Go-to-Market Strategien und Nachhaltigkeit entwickelt. Dieses Wissen kann ich nun bei incon.ai einsetzen. Das Potenzial für innovative Lösungen ist in der Bauindustrie noch nicht ausgeschöpft, unter anderem bezüglich des Einsatzes von Augmented und Mixed Reality. Des Weiteren ist die Bauindustrie ein sehr fragmentierter und komplexer Markt mit vielen Stakeholders, die ein grosses Interesse teilen, den Gesamtprozess end-to-end zu verbessern. Augmented Reality ist der nächste Sprung der Digitalisierung in der Baubranche. Unser Geschäftsmodell stützt sich auf unsere Hypothese und den Glauben, dass sich die Industrie in der Anfangsphase einer grossen Transformation befindet. Sogenannte Early Adopters werden Augmented/Mixed Reality in den nächsten zwei Jahren in ihre Arbeitsprozesse enführen und standardmässig integrieren - sei es in der Planung, Produktion, auf der Baustelle oder in der Wartung. Unsere Vision: Wir befähigen alle, besser zu bauen, dank digitaler Produktionspläne und Augmented Reality Visualisierungen.
Wer sind Ihre Kunden und was bieten Sie diesen?
SK: Unsere B2B / B2B2B Kunden sind genau diese Early Adopters der Bauindustrie. Dies können im Prinzip alle Stakeholders sein, die irgendwie im Gesamt- oder Teilprozess eines Bauprojekts involviert sind. Unser Ansatz bietet eine kundenorientierte und pragmatische Lösung, da unsere Lösung keine Spezialausrüstung wie Sensoren oder aufwendige Schulungen benötigt. Unsere Software ist intuitiv gestaltet und auf allen gängigen mobilen Geräten wie Smartphones und Tablets (auf Android) nutzbar. Ausserdem synchronisieren wir die 3D Modelle mit gängigen Beamern. Bei dieser Transformation sind von Seiten der Unternehmen jedoch grosse Unsicherheiten zu spüren. Dabei dreht es sich mehr um den Change Prozess selbst. Komplett auf einen 2D-Plan zu verzichten bedeutet eine grosse Umstellung der bisherigen Arbeitsweise. Es bedeutet zwar eine Erleichterung und Effizienzsteigerung für Angestellte wie auch die Firma insgesamt. Dennoch müssen alle - egal ob CEO, Planer, Zimmermeister oder Monteur - diese Veränderung wollen und aktiv vorantreiben. Wir bieten unseren Kunden deshalb eine enge Begleitung mit einem ersten Pilotprojekt im Umfang von vier bis acht Wochen, sowie eine kundenspezifische Konfiguration. Auf diese Weise können sie ab ‘Tag 1’ der Initialisierung komfortabel und sicher unsere Lösung einsetzen.
Ist das Konzept auf andere Branchen übertragbar?
FF: Das Konzept ist sehr gut übertragbar. Für uns ist Voraussetzung, dass 3D-Modelle vorhanden sind oder diese erstellt werden können. Wir können die Modelle automatisch in sequenzierte Bauanleitungen konvertieren, über unsere AR Geräte anzeigen und mit zusätzlichen Informationen versehen. Das kann zum Beispiel beim Zusammenbau von Maschinen in Fabrikhallen oder von Möbeln zuhause sein, beim Sortieren von Waren in Warenhäusern oder bei der Qualitätskontrolle nicht nur auf dem Bau sondern auch in Industrien wie dem Flugzeug-, Auto-, oder Zugsbau. Da unser Konzept es erlaubt zusätzliche Informationen an gewünschten Orten anzuzeigen, kann es auch als Bedienungsanleitungen von Maschinen, wie Industriemaschinen, Fahrzeugen oder Haushaltsgeräten verwendet werden.
Kundenprojekte: Wie läuft das ab?
SK: Wie Dr. Fadri Furrer bereits in der vorherigen Antwort erwähnt hat, ist die einzige Voraussetzung, dass es 3D-Modelle gibt oder diese erstellt werden können. Wir haben tolle Erfahrungen gemacht in der Holzindustrie und arbeiten mit zehn Holzbaufirmen in einem Innosuisse-Projekt zusammen. Wir haben festgestellt, dass bereits sehr ausführliche und präzise 3D-Modelle im Planungsprozess erstellt werden, die perfekt geeignet sind für die Anwendung von Augmented Reality Overlays. Das Know-How für die 3D-Modelle sowie zu CAD/BIM ist bereits firmenintern vorhanden. Unser System befähigt die Kunden, die 3D-Modelle effektiv vom Planer-Tisch für die Produktion und die Baustelle zum Leben zu erwecken. Wir haben einen typischen Kundenprozess in der Holz Vorfabrikation visualisiert.
Wie lange braucht man, um die Methode und das Programm verwenden zu können?
SK: Dies ist stark abhängig von der Maturität der bestehenden 3D-Modelle und den internen Prozesse der einzelnen Unternehmen. In der Regel gehen wir von einer ersten Phase zwischen zwei und acht Wochen aus, in der wir die Baupläne analysieren und diese in unserer Testumgebung einspeisen. Anschliessend wird verbessert oder zusätzliche Informationen integriert, z.B. Abstände und Messungen für Elektroinstallationen. Die zweite Phase - ebenfalls zwischen zwei und acht Wochen - beinhaltet die Vorbereitung für den Einsatz der AR-Baupläne sowie die Initialisierung (und ggf. Installation der Beamer), entweder in der Produktion oder auf der Baustelle. Die letzte Phase beinhaltet eine enge Begleitung in der ersten Woche mit vor Ort Support und Training der Belegschaft.
Das Erkennen und Tracken von Objekten wird von künstlicher Intelligenz unterstützt. Ist das eine grosse Herausforderung? Wird die KI an jedem neuen Ort zunächst «eingelernt»?
FF: Unsere Algorithmen funktionieren in erster Linie mittels klassischer Computer Vision. Wir verbessern aber unsere Schätzungen mittels Bildanalyse durch Neuronale Netze (KI). Die Netze werden mittels synthetischer Daten trainiert, somit müssen die Netze nicht an jedem neuen Ort neu trainiert werden. Anwendungsspezifische Trainingsdaten verbessern jedoch unsere Schätzungen. Falls wir Zugriff auf reale Bilder der Anwendungsorte haben, können wir unsere Netze noch weiter verbessern.
Wie stellt man sicher, dass alle Modelle und Objekte gültig sind?
FF: Wir verwenden Modelle aus der Cloud, das bedeutet, solange eine Internetverbindung besteht können wir sicherstellen, dass alle Benutzenden über Änderungen informiert werden.
Wird der Prozess komplett papierlos?
FF: Das ist unser Ziel und wir denken, dass wir auf gutem Weg dazu sind. Es wird noch einige rechtliche Hürden geben, aber diese scheinen überwindbar zu sein. Es wird wohl einfach noch ein bisschen Zeit brauchen.
Müssten Richtlinien zur technischen Dokumentation grundlegend modernisiert werden, um ideal von Ihrem System zu profitieren?
FF: Nein, ich denke nicht, dass grundlegende Veränderung notwendig sind, um vom System zu profitieren aber es können natürlich weitere Schritte obsolet werden, wie zum Beispiel die heute noch gesetzlich notwendigen ausgedruckten Pläne. Das sind aber jetzt schon nicht mehr so viele.
Frau Kim, studieren Sie digitale Ethik, um etwas davon in Ihrem Start-up umzusetzen? Gibt es auf diesem Gebiet ethische Konflikte?
SK: Mein CAS Digital Ethics Studium hat grundsätzlich keinen direkten Zusammenhang mit incon.ai. Aber natürlich können in jeder Firma im heutigen Zeitalter der Digitalisierung viele potenzielle moralische Konflikte entstehen, die eine ethische Entscheidungsfindung fordern. Vor allem wenn extensiv intelligente Systeme eingesetzt werden. Seit der langjährigen Macro Trend Projektleitung bei Swiss Re bin ich überzeugt, dass der Anwendungsbereich von Technologien ethischen Grundprinzipien unterliegt. Die fundamentalen Leitlinien und Rahmenbedingungen im Bereich 'Responsible AI’ sind jedoch unausgereift. Ich durfte im Herbst 2022 die Leiterin von ‘Data and AI Ethics’ von Thomsen Reuters kennenlernen. Bereits nach den ersten 10 Minuten im ethischen Diskurs wusste ich, dass dies mein Leidenschaftsprojekt wird. Ich glaube persönlich, dass es von grosser Wichtigkeit ist, dass alle Teilnehmer:innen der heutigen pluralistischen Gesellschaft die Fähigkeit aufbauen, einen ethischen Diskurs zu führen, um die Chancen und Risiken beim Einsatz von Technologien und künstlicher Intelligenz nachhaltig abzuwägen und zu hinterfragen.
Zur Person
Sheerah Kim ist Senior Lead Business Development bei incon.ai. Das ETH-Spin-Off entwickelt Augmented Reality Lösungen mit Computer Vision Algorithmen für die Baubranche. Sheerah Kim bringt fünfzehn Jahre Berufserfahrung aus der Rückversicherungsbranche sowie sieben Jahre in der Strategieentwicklung mit. Aktuell studiert sie Digitale Ethik an der HWZ Zürich und engagiert sich als Vorstandsmitglied bei Business & Professional Women Europe, Switzerland und Zürich.
Fadri Furrer, CEO und Co-Founder von incon.ai, ist Absolvent der ETH Zürich und der LiTH mit Bachelor- und Masterabschlüssen in Elektrotechnik und Informationstechnologie. Später promovierte er an der ETH im Bereich Robotik mit Schwerpunkt auf 3D Vision und maschinellem Lernen. Dabei lag sein Fokus auf der Erstellung von objektbasierten Karten und der Manipulation von Objekten durch mobile Roboter, besonders für den Innenbereich und die Baubranche.
Kommentare