Innovationspotenzial für die Energiewende
Nachhaltige Technologien
Auswertungen von Swisscleantech bezüglich «Netto-Null» für die Schweiz zeigen: Bei linearer Absenkung der CO2-Emissionen auf null bis 2050 läge die Schweiz noch bei etwa 670 Mio. t CO2-Äquivalente an Gesamtemissionen. Das sind 50% zu viel, wenn die Reduktion streng nach Pariser Klimaabkommen erfolgen soll. Wie lässt sich dieses Missverhältnis auflösen?
Viele Firmen haben sich bereits heute im Rahmen der Science-based Target Initiative das Zieljahr 2040 oder sogar 2030 für ihre «Netto-Null»-Initiativen gesetzt [1]. Auch die Energieversorgung muss zur Erreichung dieser Ziele beitragen und muss deshalb möglichst rasch umgestaltet werden. Im Fokus stehen dabei aktuell Massnahmen zur effizienten Nutzung der Energie und der Umstieg auf erneuerbare Energie. Fest steht, dass die Netto-Null-Energieversorgung grösstenteils elektrisch sein wird:
- In der Stromversorgung müssen die fossilen und in vielen Ländern auch die nuklearen Bandlastkraftwerke ersetzt werden. Wasserkraft, Windkraft und Photovoltaik werden künftig die grossen Beiträge liefern.
- Die heute meist fossil betriebene Wärmeversorgung der Gebäude (Raumheizung und Warmwasser) wird vermehrt elektrifiziert. Mit Wärmepumpen werden lokale Energiequellen wie Erdwärme, Grundwasser, Seewasser, Abwärme oder Aussenluft erschlossen.
- Der Substitutionsbedarf im Verkehrssektor ist am grössten. Nur beim öffentlichen und privaten Landverkehr ist mit der E-Mobilität eine CO2-arme Alternative vorhanden.
Das künftige Energiesystem wird geprägt sein von erneuerbaren Energieträgern, deren Produktion schwankt. Mit dem Umbau des Energiesystems müssen zunächst 90% der heutigen CO2-Emissionen reduziert werden. Es gibt aber noch eine weitere Herausforderung: Gewisse Teile der Industrie und der Nahrungsmittelproduktion werden auch nach 2050 weiter CO2 emittieren. Diese Emissionen müssen der Atmosphäre wieder entzogen werden. Neben der massiven Anstrengung zum Umbau des Energiesystems muss also parallel die Industrie für die Negativemissionstechnologien aufgebaut werden. Sie wird nach Schätzungen von Swiss Re etwa der Grösse der heutigen Öl- und Gasindustrie entsprechen [2].
Flexibilität und Daten
Durch den Umbau des Energiesystems wird der Stromverbrauch dort steigen, wo der Anstieg nicht durch Effizienzmassnahmen aufgefangen werden kann. Die Stromproduktion unterliegt natürlichen Schwankungen, die nicht zwangsläufig zur Nachfrage passen. Auf der Nachfrageseite eröffnen sich durch die zunehmende Kopplung der Energiesektoren – also durch die Übertragung von Energie vom Stromsektor in die Sektoren Wärme und Mobilität – neue Möglichkeiten zur Flexibilisierung der Energieversorgung. Für die sektorübergreifende Optimierung des Energiesystems werden künftig diverse Flexibilisierungsmöglichkeiten zum Einsatz kommen (Bild 1). Wie hoch der Flexibilisierungsbedarf sein wird und in welcher Form ein Ausgleich am besten stattfindet, hängt von den Rahmenbedingungen ab. In der Schweiz wird der Anteil des zusätzlichen Speicherbedarfs durch den hohen Anteil an Wasserkraftproduktion, von dem wiederum rund 50% aus Speicherkraftwerken stammt, sicher geringer ausfallen als z. B. in Deutschland.
Um all diese Puzzleteile zwischen Angebot, Nachfrage sowie Strom- und Speichersystemen bestmöglich zu verbinden, braucht es eine Messung der einzelnen Energieverbraucher in möglichst kurzen Abständen. Durch die Messung und Vorhersage des Stromverbrauchs soll z. B. vermieden werden, dass zur Spitzenlastdeckung mit fossilen – künftig synthetischen – Brennstoffen nachgeheizt wird, wenn dies aufgrund vorhandener Stromproduktion, diverser Speichersysteme, der erwarteten Wetterlage oder flexibler Nachfrage nicht nötig wäre.
Um die Daten von Angebot und Nachfrage besser zu verknüpfen und die Zeitintervalle für die Messung zu verringern, bedarf es einerseits einer Datenerhebung zum Energieverbrauch; z. B. entsprechende Sensoren an den Wärmeversorgungs- oder Industrieanlagen mit guter Anbindung an das Datenleitsystem, und andererseits gebäude-, firmen- und sektorübergreifender Datenplattformen zum Austausch dieser Daten.
Daten-Ökosysteme für Optimum
Seit vielen Jahren gestaltet Zühlke gemeinsam mit seinen Kunden den Umbau des Energiesystems durch die effizientere Produktion und Nutzung von erneuerbaren Energien mit. Das Unternehmen begleitet Kunden aus diversen Branchen bei ihren Innovationsvorhaben und sorgt z. B. für die erwähnte Datenerhebung und sektorübergreifende Datenverfügbarkeit. Auf Basis neuester Technologien entstehen so neue Daten-Ökosysteme und damit neue Möglichkeiten für die Optimierung des ganzen Energiesystems.
So können Kunden u. a. aktuelle Betriebsdaten aus unterschiedlichen Systemen in Echtzeit miteinander verknüpfen. Dies ergibt eine ganzheitliche Entscheidungsgrundlage für Optimierungsmassnahmen im Betrieb.
Einen solchen Use Case realisierte Zühlke mit den Elektrizitätswerken des Kantons Zürich (EKZ). Mit einer Datenplattform konnte EKZ Daten von über 1200 Wärmeanlagen automatisiert zusammenführen und auswerten. Diese Effizienzsteigerung der Prozesse führt zu neuen Möglichkeiten hinsichtlich eines automatisierten Portfoliomanagements aller Anlagen und somit zu einer kosteneffizienten Bewirtschaftung. Langfristig werden bei solchen Projekten technische und organisatorische Kompetenzen gemeinsam aufgebaut, die eine eigenständige Weiterentwicklung der Datenplattform ermöglichen. Durch das verbesserte Verständnis von Betriebsprozessen und Kundenbedürfnissen lassen sich energie- und kostenoptimierte Handlungsempfehlungen ableiten, welche EKZ auch bei der Erreichung der Nachhaltigkeitsziele unterstützt. EKZ generiert somit neben dem internen Nutzen auch Mehrwert für ihre Kundinnen und Kunden sowie für die Umwelt.
Kollaboration über Firmen- und Branchengrenzen hinweg
Auch das vom Europäischen Parlament beschlossene Verbot von Benzin- und Dieselfahrzeugen hat grosse Auswirkungen auf das künftige Energiesystem. Basierend auf dem Gesetz dürfen in der Schweiz ab 2035 neu zugelassene PKW und leichte Nutzfahrzeuge keine Treibhausgase mehr ausstossen. Mit der Einführung von mehr Elektroautos wird künftig auch die Stromnachfrage steigen. Für die Umsetzung der «Netto-Null»-Ziele und für die Modernisierung der Energiesysteme wird eine grosse Menge an Infrastruktur benötigt. Investoren müssen künftig die richtigen Entscheidungen über potenzielle Investitionen in Elektrofahrzeug-Infrastruktur treffen. Die von Zühlke in Grossbritannien entwickelte Elektrofahrzeug-Infrastruktur-Investoren-App, kurz EVIIA, bietet eine digitale, datenbasierte Lösung für diese Herausforderung. Denn es ist kompliziert, eine potenzielle Investorengemeinschaft mit den lokalen Netzbetreibern, Behörden sowie Planungs- und Bauunternehmen zu vernetzen. Zudem ist es entscheidend, den regionalen Strombedarf für die Zukunft bestmöglich zu prognostizieren. Dies ist ein Schlüsselelement für Investitionen in den Aufbau einer neuen Stromversorgung für Elektrofahrzeuge. EVIIA verknüpft Daten der Stromversorger, Daten zum Verkehrsaufkommen und geografische Daten und visualisiert diese in einem Dashboard (Bild 2). Die App hilft Investoren, datenbasiert vielversprechende Investitionsfälle zu identifizieren.
Das Beispiel zeigt: Die Zusammenführung verschiedener Akteure aus dem Energiesektor kann zu einem wertvollen und nachhaltigen Daten-Ökosystem führen. Die britische Energieregulierungsbehörde Ofgem (Office of Gas and Electricity Markets) versucht aktuell, rund 100 wettbewerbsfähige Unternehmen des Energiemarktes dazu zu bringen, ihre Daten zusammenzuführen. Ofgem möchte so Erkenntnisse generieren, wie der Energiemarkt besser reguliert werden kann und die Dekarbonisierungsziele schneller erreicht werden können. Gemeinsam mit Zühlke hat Ofgem eine Strategie mit Handlungs- und Investitionsempfehlungen für die IT dieser Energiefirmen entwickelt, um Ofgem Zugang zu ihren Daten zu ermöglichen. Das Ziel ist, dass die verschiedenen Akteure ihre Daten in einem Daten-Ökosystem zusammenführen, um ein höheres Ziel zu erreichen, nämlich den Energiemarkt in Richtung «Netto-Null» zu entwickeln.
Dezentrale Energiekreisläufe
Ein weiterer Bereich zur Unterstützung des Netzausgleichs sind sogenannte virtuelle Kraftwerke (VPP: Virtual Power Plant). VPPs sind Zusammenschaltungen bzw. zentral gesteuerte Netzwerke von dezentralen Stromerzeugern. Sie werden künftig immer mehr zum Einsatz kommen, da mit ihnen auch Lastspitzen und Schwankungen durch die zentrale Steuerung abgefangen werden können.
Ein gutes Beispiel sind die Tesla-Powerwall-Batterien, die im Rahmen des Pilotprogramms «Emergency Load Reduction Program (ELRP)» von Southern California Edison (SCE) zur Unterstützung des Netzes angeboten werden. Die Tesla-Powerwall-Kunden können entscheiden, ob und in welchem Umfang sie sich an diesem Netz beteiligen, um gleichzeitig eine Vergütung zu erhalten und ihre Energieversorgung zu sichern. Der Nutzen für die Teilnehmenden ist offensichtlich: Sie erhalten 2 USD für jede kWh, die sie bei einem Stromengpass liefern.
Im September 2022 gab es bereits über 4500 Teilnehmende, die zumindest in zwei Fällen dazu beigetragen haben sollen, Stromausfälle in Südkalifornien zu vermeiden. Bei 12 protokollierten Engpässen, die von Mitte August bis Mitte September 2022 stattfanden, lag der Beitrag in Bezug auf die Spitzenleistung zwischen 19 MW und 33 MW – und entspricht damit der Leistung eines kleinen Kraftwerks.
Auch die bereits erwähnten Elektrofahrzeuge können wie die Powerwall-Batterien nicht nur als Stromverbraucher, sondern auch als Stromquelle dienen. Autos können als Anlage betrachtet werden, da sie die meiste Zeit geparkt sind. Wenn sie nicht aufgeladen werden müssen, können sie als Batterie das Stromnetz versorgen. Mittels V2X (Vehicle-to-Everything) Technologie können Fahrzeuge mit ihrer Umwelt und untereinander kommunizieren. Dieser Ansatz wird dabei helfen, die Ressourcen zu managen, die künftig einen Grossteil der gespeicherten Energie ausmachen und die benötigt werden, um Nachfragespitzen zu bewältigen (Bild 3).
Microgrids als Teil eines dezentralen Energiesystems
Ein weiterer Ansatz sind sogenannte Microgrids – auf kleine Räume begrenzte Stromnetze. Ein Beispiel: Elektrofahrzeuge, die schnell aufgeladen werden müssen, sind grosse Stromfresser. Autos, die innerhalb eines bestimmten Radius zu Hause geparkt und ans Stromnetz angeschlossen sind, könnten mit ihren Batterien dazu beitragen, diesen Ladebedarf zu decken. Microgrids können so einen Beitrag zur Energieversorgung in regional abgegrenzten Gebieten leisten und Auswirkungen aussergewöhnlicher Ereignisse – wie beispielsweise extreme Wetterbedingungen, Erdbeben oder Sabotage – auf die zentralisierte Energieerzeugung massiv abfedern, indem der Energiekreislauf (Erzeugung/Verbrauch) unabhängiger, lokaler und dezentraler wird.
Und schliesslich kann jedes Gerät, das Energie verbraucht, Teil eines dezentralen Energiesystems werden. Durch die Messung und Steuerung von Energieverbrauchern, auch wenn sie in absoluten Leistungswerten klein, aber in Bezug auf die Gesamtzahl der Geräte gross sind, können virtuelle Kraftwerke geschaffen werden. Der erste Schritt ist dabei die Messung. Denn sie schafft das Bewusstsein des Endverbrauchers, Energie effizienter zu nutzen. Der Endverbraucher kann auch von der automatischen Analyse seiner Leistungskurven profitieren, die eine vorausschauende Wartung seiner Geräte ermöglicht, wie z. B. bei Klimageräten.
Daten-Ökosysteme als Basis
Für das Gelingen der Energiewende und den erfolgreichen Umbau des Energiesystems gibt es eine ganze Reihe neuer Geräte, Software und Technologien zu entwickeln. Sie können dazu beitragen, die genannten Möglichkeiten zu erschliessen und weitere Anwendungsfälle zu kreieren. Um unser Leben nachhaltiger zu gestalten und unsere Lebensgrundlage zu erhalten.
Für den Erfolg der genannten und neuer Lösungsansätze wird es wichtig sein, ein standardisiertes Verfahren für den Datenaustausch zu schaffen, indem grosse Akteure Daten-Ökosysteme für den Datenaustausch schaffen, die den richtigen Umgang mit den Daten in Bezug auf Sicherheit und Souveränität gewährleisten. Das Ziel lautet: Möglichst viele Anbieter zusammenbringen, die dieselbe Sprache sprechen und gemeinsam das Optimum aus den Daten herausholen. Im Bereich Elektrofahrzeuge ist dies bereits Realität, aber in anderen Bereichen wie Verbrauchsgeräten gilt es, rasch die nötigen Schritte einzuleiten.
Referenzen
[1] «Ambitious corporate climate action» auf sciencebasedtargets.org
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