«Industrie 4.0 alleine reicht nicht aus»
Interview mit Rolf Höpli
Für das Gedeihen der Schweizer Industrie ist die mit der Digitalisierung verbundene Innovationskraft ein wichtiger Faktor. Im Gespräch zeigt der Industrieexperte Rolf Höpli von Zühlke auf, welche Rolle dabei das Konzept Industrie 4.0 spielt – und dass sich innovative Ansätze nicht nur auf technische Aspekte der Produktionsprozesse beschränken.
Vor knapp zehn Jahren wurde der Begriff Industrie 4.0 geprägt – als Begriff, der die Prinzipien Vernetzung, Informationstransparenz, technische Unterstützung von Produktionsmitarbeitenden und dezentrale Entscheidungen in cyberphysischen Systemen zusammenbringt. Mit diesem Konzept soll beispielsweise eine automatisierte Herstellung bis zur Losgrösse 1 ermöglicht werden. Zudem können Produktionsbetriebe damit ihre Infrastruktur besser auslasten und profitieren von einer schnellen Umstellung der Produktionsabläufe beim Ausfall einer Maschine. Doch die Hürden für die Einführung von Industrie 4.0 sind für Betriebe oft hoch und mit Unsicherheiten behaftet.
Bulletin: Was halten Sie vom Begriff Industrie 4.0?
Rolf Höpli: Ich bin sehr dankbar, dass es diesen Begriff und die damit verbundene Schweizer Initiative «Industrie 2025» gibt. Dadurch wurden viele Einzelinitiativen rund um das Thema Zukunft der industriellen Produktion angestossen, die u. a. zu neuen Fachanlässen geführt haben. Insbesondere in der Schweiz, die keine Industriepolitik betreibt, finde ich diese Initiative deshalb sehr wertvoll. Die langfristige Ausrichtung der Initiative bis zum Jahr 2025 gibt den Firmen genügend Zeit, um sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen bzw. um sie umzusetzen.
Ist Industrie 4.0 einfach eine Komponente eines ganzheitlichen Digitalisierungsansatzes, oder ist der Begriff breiter?
Ich verstehe den Begriff als Komponente des ganzheitlichen Digitalisierungsansatzes. Der Begriff hat sich seit den Anfängen im Jahr 2012, als die «Losgrösse 1» und die rein technische Sichtweise im Vordergrund stand, stark verbreitert und umfasst heute mit neuen Geschäftsmodellen auch den wirtschaftlichen Aspekt.
Welche Aspekte von Industrie 4.0 wurden bereits in Schweizer Firmen umgesetzt? Wo gibt es noch Nachholbedarf?
Die technischen Themen wurden rasch angepackt – aber das greift klar zu kurz. Die grossen Potenziale können erst durch einen Paradigmenwechsel erschlossen werden. Dabei geht es um ein Umdenken, weg vom reinen produktezentrierten Ansatz zum kundenzentrierten Handeln. Ein Beispiel: Ein Schraubenhersteller kann einfach seine Einzelteile an seine Kunden verkaufen, oder er kann ihnen eine Dienstleistung anbieten, bei der die Produktionsstrasse des Kunden von stets ausreichend gefüllten Regalen profitiert. Dies kann durch automatisch ausgelöste Bestellungen durch Waagen in den Regalen umgesetzt werden. Der Kunde erhält, was er braucht: eine materialmässig stets einsatzbereite Produktion. Solche Paradigmenwechsel werden in der Praxis aber eher zögerlich angepackt, da diese neuen Geschäftsmodelle nur mit einem Investment in die IT sowie dem Aufbau eines neuen Kundenstammes erreichbar sind. Dies dauert mehrere Jahre. Will aber eine Firma ihre Daseinsberechtigung stärken, sollte sie sich aus der durch die Konkurrenz aufgezwungenen negativen Spirale, bei der es meist um das Minimieren von Produktionskosten geht, lösen.
In welchen Branchen ist Industrie 4.0 aus Ihrer Sicht kaum nötig?
In Branchen mit einem hohen Anteil an Geistesarbeit und persönlicher Interaktion sowie in Branchen, in denen keine Automatisierung möglich ist. Branchen und Tätigkeiten, die einen hohen repetitiven und manuellen Anteil haben, werden automatisiert.
In Deutschland wollte man mit Hilfe von Industrie 4.0 die Produktionsstandorte sichern. Hat es funktioniert? Wie sieht es in der Schweiz diesbezüglich aus?
Die Automobilbranche ist hier exemplarisch: Technologisch wurde bereits enorm viel umgesetzt und automatisiert. Dies alleine hilft den Herstellern aber relativ wenig, wenn sie die grossen Trends aufgrund einer bremsenden firmeninternen Kultur nicht aufnehmen und in Innovationen umsetzen können. Beispielsweise könnte die Produktion rasch auf andere Antriebssysteme umgestellt werden, aber die Kultur für den Wandel ist noch nicht so weit. In gewissen Branchen wird das Ziel der Fabrik ohne Licht, d. h. ohne Montagepersonal, aber früher oder später Realität sein. Und somit ist auch die Produktion in der Schweiz möglich.
Wo sehen Sie die grossen Chancen von Industrie 4.0 für die Schweiz?
Dass wir trotz Hochpreisinsel konkurrenzfähig bleiben können. Die hohe Innovationskraft der Schweizer Firmen ist ein grosser Vorteil. In der Schweiz setzen wir rasch und pragmatisch um. Die Ergebnisse dieser Entwicklungen überzeugen durch ein hohes Qualitätsniveau. Die laufenden Projekte bei unseren Kunden zeigen auf, dass vernetzte Maschinen, Stichwort IoT, und genutzte Daten, Stichwort Machine Learning, zu messbaren Wettbewerbsvorteilen führen. Die Diskussion, ob sich IoT als Business Case rechnet, ist hinfällig, denn je nach Kundensegment verlangen das die Kunden – es ist zum Basismerkmal geworden, um überhaupt noch Maschinen verkaufen zu können. Kurz: Innovative Schweizer Firmen mit einer starken IT-Affinität erarbeiten sich dank Industrie 4.0 Wettbewerbsvorteile und gewinnen dadurch den entscheidenden Marktvorsprung.
Und wo liegen die grössten Herausforderungen? Bei der Cyber Security, den Investitionskosten oder den Firmenkulturen?
Ganz klar bei der Firmenkultur und den Wissensdefiziten beim Top-Management. Ohne die Unterstützung der Geschäftsleitung ist ein fundamentaler Shift in Richtung Digitalisierung nicht möglich. Das Geld für die Investitionen ist in der Regel da, aber meistens stehen Generationskonflikte dem beherzten Vorwärtsgehen im Weg. Die jungen nachrückenden Kräfte haben zwar das Wissen und die Motivation, werden aber abgebremst.
Das Internet der Dinge ist hier auch relevant. Wie sieht es heute bei der Standardisierung der Schnittstellen und Protokolle aus?
Die Standardisierung wird vielfach als Vorwand gebracht, um zunächst mal abzuwarten. Das ist fatal, denn es sind die innovativen Firmen, die sich den Markt holen und De-facto-Standards setzen. Wir stellen fest, dass gerade der chinesische Markt IoT-Anwendungen als Standard voraussetzt. IoT ist dort kein Begeisterungsmerkmal mehr, sondern ein Basismerkmal. Wir begleiten Kunden, welche innert Wochen ihre Maschinen für die chinesischen Zahlungsplattformen fit machen müssen. Da erleben wir teilweise riesige Unterschiede, was den Reifegrad der Software der Maschinen angeht.
Welche Schritte empfehlen Sie Unternehmen beim Einstieg in die Digitalisierung?
Der Verwaltungsrat und die Geschäftsleitung müssen die Absicht haben, in die Digitalisierung investieren zu wollen und sich dazu einen Zeithorizont von fünf bis zehn Jahren zu geben, bis man damit Geld verdienen kann. Zudem helfen sogenannte «Digital Nightmare Workshops», an denen man sich in die Rolle eines Konkurrenten hineinversetzt, der die eigene Firma aus dem Markt drängen möchte. Dieser Perspektivwechsel führt oft zu neuen Erkenntnissen, wie man es besser machen kann. Und schliesslich kann man die an der ETH Zürich entwickelte Hybride Produkte-Matrix einsetzen. Dies ist eine integrierte Betrachtung von Sach- und Dienstleistungen, bei der der Kundennutzen statt des physischen Produktes im Vordergrund steht. Die Digitalisierung ermöglicht es hier beispielsweise, Daten über die reale Nutzung eines Produktes zu erhalten, um Optimierungen am Produkt oder an Wartungsintervallen vornehmen zu können.
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