In der Stille liegt die Kraft
Probefahrt mit einem elektrischen Motorrad
Während bei den PKW-Neuzulassungen in der Schweiz der elektrische Antrieb deutlich an Fahrt gewinnt, kommen die Verkäufe elektrischer Motorräder kaum vom Fleck. Gründe dafür gibt es einige: Der kernige Motorensound fehlt, die Reichweite ist kleiner, das Aufladen dauert länger. Aber elektrische Motorräder haben auch ihre Qualitäten, wie eine Probefahrt mit der Livewire zeigt.
Harley Davidson ist eigentlich bekannt für schwere, laute, rüttelnde Maschinen, die mit einem bestimmten Lifestyle verbunden sind. Das Unternehmen hat nun aber mit einem Modell den mutigen Schritt in eine elektrifizierte Zukunft gewagt: Die erste elektrische Harley heisst Livewire. Auf Englisch steht «live wire» für die elektrische Phase, den Phasenanschluss eines Stromnetzes, aber der Ausdruck kann auch im Sinn von «Energiebündel» eingesetzt werden. Also ein passender Name für ein Motorrad mit einer enormen Beschleunigung.
Genau genommen ist die Livewire nicht mehr neu, denn erste Prototypen wurden bereits 2014 vorgestellt. Im 2019 kam sie definitiv auf den Markt. Im Mai 2021 hat dann Harley Davidson den Livewire-Bereich als eigenständige Marke ausgegliedert – scheinbar waren die zwei Kulturen schliesslich zu unterschiedlich. Doch die Abspaltung ist kein leiser Ausstieg aus der Elektromobilität, sondern ein Neuanfang, denn bald soll bereits das zweite elektrische, etwas kleinere und erschwinglichere Modell in limitierter Auflage von 100 Exemplaren erhältlich sein: die auf den urbanen Einsatz eines jüngeren Publikums zugeschnittene Livewire S2 Del Mar.
Ein revolutionäres Konzept
Gemeinsamkeiten zwischen den fossil betriebenen Harleys und der neu konzipierten Livewire gibt es nicht viele. Die für manche Nicht-Harley-Fahrer offensichtlichste und gewöhnungsbedürftigste sind die Blinkerschalter. Statt einem kombinierten Schalter am linken Griff haben Harleys – wie gewisse BMWs – je eine Taste am linken und am rechten Griff. Für ungeübte Fahrer kann der rechte Schalter den Nachteil haben, dass man beim Drücken manchmal den Gashebel leicht bewegt – oder sollte man jetzt Stromhebel sagen? Das englische Throttle hat den Vorteil, dass es für alle Antriebsarten passt. Die dadurch erzeugte Beschleunigung ist gerade vor dem Abbiegen nach rechts eher weniger erwünscht. Praktisch ist aber die automatische Rückstellung der Blinker bei der Livewire nach absolvierter Kurve.
Zentral im neuen Konzept ist die Anzeige, die diverse Möglichkeiten bietet. Beispielsweise die Ladezustandsanzeige, dem für Einsteiger in die elektrische Mobilität wohl zentralen Element – abgesehen vom Tacho, der bei der Livewire noch wichtiger ist, um durch Geschwindigkeitsbussen verursachte finanzielle Engpässe zu vermeiden. Man sieht auf der Anzeige nebst dem Ladestand auch eine Schätzung der potenziellen Fahrdistanz. Zusätzlich kann mit dem Menüknopf eine «statistische» Reichweitendarstellung angezeigt werden, die zur geschätzten auch die maximal und minimal mögliche Distanz anzeigt, um ein Gefühl dafür zu vermitteln, welche Strecke vor dem Ladestopp bei unterschiedlichen Fahrstilen noch drin liegt. Eine nützliche Sache, die zusätzliches Vertrauen schafft. Eine weitere Anzeigeoption ist eine Grafik, die die Temperaturen der Batterie, der Motorenansteuerung sowie des Motors anzeigt. Damit klar ist, ob die sportliche Passtour eventuell für eine kurze Abkühlungspause unterbrochen werden sollte.
Es ist auch möglich, ein Mobiltelefon via Bluetooth mit der Livewire zu verbinden und mittels HD-Mobile-App beispielsweise Navi-Anweisungen auf dem Display anzeigen zu lassen. Die App ermöglicht auch das Bedienen einer Musik-App oder das Abnehmen eines Anrufs mit einem Knopf auf der linken Lenkerseite.
Nützlich sind die vier mit dem rechten Blinkerknopf auch während der Fahrt einstellbaren Fahrmodi Eco, Strasse, Regenwetter und Sport. Die Rekuperation ist im Eco-Mode stärker und die Beschleunigung sanfter. Der Sport-Modus ermöglicht eine praktisch lautlose Beschleunigung von 0 auf 100 km/s in drei Sekunden – komfortabel ohne Schalten. Nur ein gutes Festhalten an den Griffen ist dabei nötig. Den Rest übernimmt der Traction Control und die Anti-Wheelie-Funktion.
Antrieb und Konstruktion
Radikal neu ist der Antrieb. Ein flüssigkeitsgekühlter Permanentmagnet-Synchronmotor mit 78 kW Leistung (von 105 PS zu sprechen wäre nicht zeitgemäss, und Kilowatt passt sowieso besser zur Elektrizität) ist zuunterst angebracht und sorgt für einen bodennahen Schwerpunkt. Ein Transmissionsriemen bringt die Kraft auf das Hinterrad. Die luftgekühlte 15,5-kW-Batterie liegt direkt darüber. Diese Anordnung kompakt in der Mitte verleiht dem Motorrad ein harmonisches, angenehmes Kurvenverhalten. Motor und Akku sorgen auch dafür, dass das sportlich ergonomisch gestaltete Motorrad 250 kg auf die Waage bringt – obwohl man es ihm eigentlich nicht ansieht.
Mit dem unter dem Sitz verstauten Ladegerät lässt sich der leere Akku in rund zehn Stunden an einer Haushaltsteckdose aufladen. Ein schnelles Laden mit Gleichspannung ist auch möglich: Die Batterie ist dann in etwa einer Stunde voll.
Anspruchsvolle Fahrer können die Federung des Vorder- und des Hinterrads individuell einstellen. Die Abstimmung ist sportlich hart und verleiht ein sicheres Fahrgefühl.
Zwei Pässe an einem Tag
Nun, dieser Antrieb will erlebt werden. Und nicht nur der Antrieb, sondern das gesamte Package, das auch die Reichweite und das Laden umfasst, um zu sehen, ob die Sache auch alltagstauglich ist. Dazu plante ich – als Anfänger der Elektromobilität – eine Tagestour, die mit dem Klausenpass anfing. Ein Ladestopp an der Schnellladestation in Silenen würde dann darüber entscheiden, ob zeitlich noch der Furkapass drin liegt oder ob die Rückfahrt die einzige Option ist.
Bei voller Batterie beträgt die Reichweite laut Anzeige rund 180 km. Die 120-km-Fahrt vom Zürcher Oberland via Glarus auf den Klausenpass und dann auf die Autobahn Richtung Süden verlief unbeschwert. Auf der Autobahn erwies sich der Tempomat als praktisches Feature, denn der regelmässige Kontrollblick auf den Tacho erübrigte sich. Dafür war der Verbrauch bei der hohen Geschwindigkeit deutlich grösser als bei der gemütlicheren Überlandfahrt. Erfreulicherweise wurde später bei der Passtalfahrt manchmal Energie wiedergewonnen. An der Gofast-Ladestelle in Silenen war dann noch knapp ein Viertel der Energie im Akku.
Das Schnellladen klappte ohne Enttäuschungen: Via QR-Code konnte ich mich anmelden, ohne eine App herunterladen zu müssen, und nach dem Einstecken des CCS-Steckers und dem Abschliessen des Kommunikationsaufbaus, der sicher eine Minute dauerte, ging es los. Eine Stunde später war der Akku voll. Bei einem Strompreis von 49 Rp. pro kWh kam ich auf rund 6 Fr., lag also unter den entsprechenden Benzinkosten. Die volle Batterie motivierte mich, den Furkapass bis zum Restaurant Furkablick hochzufahren – dessen Saison leider noch nicht eröffnet war. Es muss beim Reisen also nicht nur das Laden geplant werden ...
Mit der Livewire war die Fahrt auf beiden Pässen ein wahrer Genuss. Klar rüttelt es auf dem holprigen Klausen ein wenig, aber das gehört dazu. Mühelos beschleunigt die Maschine ohne Schalten. Den Reflex, nach dem Losfahren in den zweiten Gang zu wechseln, hatte ich während des Tages noch öfter, aber der fehlende Kupplungsgriff und Ganghebel erinnerten mich jeweils daran, dass ich auf einem elektrischen Gefährt sass. Das Überholen ging wie im Fluge, die Kurvenfahrten waren ein Vergnügen. Hat man sich einmal an diese Fahrweise mit omnipräsenter Kraftentfaltung gewöhnt, verlieren Passfahrten mit einem geschalteten Benziner irgendwie an Reiz.
Zurück vom Furkapass nutzte ich die Schnellladestation in Erstfeld. Zum Laden musste man nicht anstehen, und der Vorgang war ebenso einfach wie vorher; Kostenpunkt diesmal 4 Fr. Zurück ging es dann via Schwyz. Etwa nach insgesamt 250 km machte sich der sportliche Sattel langsam durch Gesässschmerzen bemerkbar. Die restliche Fahrt verlief aber problemlos, auch das finale Aufladen beim Elektrizitätswerk in Jona klappte nach anfänglichen App-Problemen gut.
Optimierungspotenzial gibt es eher bei der Ladeinfrastruktur als bei der Livewire: Wie man an allen Tankstellen einfach zwischen Bleifrei 95, 98 und Diesel unterscheidet, wäre auch beim Laden eine bezüglich Lade-Apps einheitliche Infrastruktur wünschenswert. Eine Vielfalt von selten genutzten Apps auf dem Mobiltelefon könnte so vermieden und der Ladekomfort erhöht werden.
Das Netz an Schnellladestationen wächst, und in wenigen Jahren sollten längere Ausflüge auch ohne Streckenplanung oder ohne mulmiges Gefühl, man könne das Ziel eventuell nicht erreichen, möglich sein.
Eine gelungene Sache
Das Fahren mit der Livewire bietet eine Leichtigkeit, die mir so auf einem fossil betriebenen Motorrad noch nicht begegnet ist. Die mühe- und fast lautlose Beschleunigung macht Spass. Die Bedienung ist unkompliziert und zuverlässig, das kompakte, aber dennoch 250 kg schwere, qualitativ hochwertige Motorrad erlaubt ein harmonisches Kurvenfahren und vermittelt ein Gefühl der Sicherheit.
Aber nicht nur die Kraftentfaltung erstaunt, sondern auch, wie subtil sich die Geschwindigkeit bei niedrigen Tempi vorgeben lässt. Im Stau muss man die Kupplung nicht ständig schleifen lassen und wird im Sommer nicht zusätzlich durch die vom Motor aufsteigende Hitze «temperiert».
Wenn da nicht der stolze Preis von 36’500 Fr. wäre, würde man sicher hie und da einer Livewire auf den Alpenpässen und in den Städten begegnen. Natürlich ohne akustische Vorankündigung. Und die Begegnung dürfte eher kurz sein, bis das Teil wieder flink und leise am Horizont entschwindet.
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