«Im EVU-Bereich braucht man einen langen Atem»
Digitalisierung bei Stromversorgern
EVUs werden heute oft vor die Frage gestellt, ob sich ein Prozess digitalisieren lässt. Dabei treten zahlreiche Herausforderungen auf, beispielsweise hohe Investitionskosten, die Schnittstellenvielfalt oder sich ändernde Anforderungen während eines IT-Projektes. Aber die Chancen sind auch gross, denn digitale Werkzeuge beschleunigen die Umsetzung der Energiestrategie 2050.
Bulletin: Herr Wiget, wo ist die Digitalisierung bei EVUs und Netzbetreibern bereits fortgeschritten?
Die Digitalisierung beeinflusst den Bereich der Energiedienstleistungen immer stärker. Vor sechs Jahren waren die ersten Gespräche mit Energieversorgern zur Digitalisierung des Verkaufsprozesses von Dienstleistungen noch schwierig. Damals mussten wir die Vorteile der Digitalisierung genau erklären. Zu der Zeit gab es auch Ängste, man könne durch eine Digitalisierung den persönlichen Charakter einer Kundenberatung verlieren. Inzwischen ist den meisten Unternehmen klar, dass man eben genau dank der Digitalisierung des Verkaufsprozesses mehr Zeit für die persönliche Beratung des Kunden hat.
Handlungsbedarf erfordern hauptsächlich die dem Verkauf nachgelagerten Prozesse: Abwicklung, Bestellung, Preisaktualisierungen von Lieferanten, administrative Aufwände. Eine weitere Herausforderung ist die Vielfalt der Schnittstellen bei technischen Geräten im Gebäudebereich. Hier braucht es eine Standardisierung, um das Potenzial der Digitalisierung optimal nutzen zu können.
Welchen Beitrag leistet die Digitalisierung zur Energiestrategie 2050?
Kleine dezentrale Energieerzeuger sind aus meiner Sicht eine wichtige Stütze der Energiestrategie. Um Immobilienbesitzer aber für eine Installation von PV-Anlagen zu motivieren, braucht es viel mehr Überzeugungsarbeit als beispielsweise bei Betreibern grosser Wasserkraftwerke. Hier sind intuitive, digitale Werkzeuge sehr nützlich, denn sie können den Überzeugungsaufwand deutlich reduzieren. Aber die Digitalisierung ist auch in anderen Bereichen des Energiesystems wichtig, beispielsweise, um einen zuverlässigen Netzbetrieb auch mit dezentral einspeisenden Quellen sicherstellen zu können.
Wo liegen die technischen Herausforderungen bei der Einführung solcher IT-Lösungen?
Zunächst die Situation, dass sich im Verlauf der Umsetzung von IT-Projekten Anforderungen ändern können. Deshalb setzt man heute oft sogenannte «agile Vorgehen» ein. Meiner Erfahrung nach ist man im Bereich der Softwareentwicklung der Auffassung, dass sich «das Ganze ja einfach noch anpassen lässt». Diese Wahrnehmung ist bei einem Bauprojekt anders: Wenn eine tragende Säule fertig betoniert wurde, kommt niemand auf die Idee, diese Säule nochmals abzureissen und an einem anderen Ort abgeändert neu aufzubauen. Der Aufwand wäre zu gross. Auch IT-Projekte beinhalten solche Säulen, nur sind sie leider von aussen nicht so einfach zu erkennen.
Die zweite Herausforderung ist der Faktor Mensch. Wenn eine neue IT-Lösung implementiert wird, werden oft mit ihrer Einführung auch Prozesse verändert. Es liegt in unserer Natur, Neuem gegenüber skeptisch gegenüberzustehen. Dies erfordert besonders in grösseren Firmen, die früher vor allem auf Stabilität fokussiert waren, viel Überzeugungsarbeit und eine gute Kommunikation. Als Beispiel seien hier Schweizer EVUs genannt, die seit 100 Jahren für eine stabile und kostengünstige Energieversorgung sorgen. Das rasche Anpassen an sich ändernde Bedingungen gehörte bisher nicht zur Kernkompetenz dieser Unternehmen.
Und welche Herausforderungen stellen sich einem IT-KMU, das solche Lösungen auf den Markt bringen will?
Die Entwicklung eines Softwareprodukts erfordert zu Beginn hohe Investitionen. Dies ist für KMUs oft eine hohe Hürde. Diese Startphase konnten wir nur dank dem ausserordentlichen Einsatz unseres Teams sowie einigen Startup-Förderprogrammen überleben. Gerade im EVU-Bereich braucht man einen langen Atem: Mit unserem ersten EVU-Kunden haben wir Anfang 2014 Kontakt aufgenommen; zum Abschluss kam es Ende 2015. Aber die Geduld hat sich gelohnt.
Zur Person
Matthias Wiget ist seit 2012 Mitgründer und Geschäftsführer der Firma Eturnity AG. Seit 2008 arbeitete er für Firmen wie die ABB Schweiz AG, als Projektleiter für Wasserkraftwerke und als Dozent an der ZHAW in Wädenswil.
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Eturnity AG, 7000 Chur
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