100% erneuerbar – und zwar mit Köpfchen
Dank genetischer Algorithmen zum Optimum?
Hört man den Ausdruck Evolution, denkt man an Darwin und das Überleben der Stärksten. Dass sich diese Strategie auch auf erneuerbare Energie anwenden lässt, mag überraschen. Doch was Fauna und Flora geholfen hat, sich an die Umwelt anzupassen, ist auch geeignet, um unsere eigene Zukunft zu optimieren.
In einer kürzlich veröffentlichten Studie hat sich ein Forscherteam der EPFL nun diese Technik zu Nutzen gemacht, um ein optimales Szenario für die Installation erneuerbarer Energieträger in der Schweiz zu entwickeln.[1] Die besondere Stärke dieser Technik ist es, dass mehrere Kriterien gleichzeitig optimiert werden können und dass die schier unendliche Anzahl aller theoretisch möglichen Lösungen auf intelligente Weise getestet wird.
Die Schweiz will sich von der Atomenergie und den fossilen Brennstoffen verabschieden. Bis 2050 soll eine Netto-Null erreicht werden. Aber wie? Ohne die Bandenergie der Atomkraftwerke wird gerade im Winter eine Versorgungslücke entstehen, die nur schwerlich mit vernebelten PV-Modulen in den Niederungen gestopft werden kann. Können wir uns auf Stromimporte aus dem Ausland verlassen, wenn unsere Nachbarländer selbst den Übergang zu erneuerbaren Energien anstreben? Zusätzlich erfordert das gescheiterte Rahmenabkommen mit der EU eine stärkere Energieautonomie. Wir benötigen also ein Produktionsportfolio, das den Strombedarf so zeitnah und so komplett wie möglich deckt – auch im Winter. Obwohl kleine Beiträge diverser Energiequellen denkbar sind, so wird der Grossteil dieses Portfolios aus Sonnen- und Windkraftanlagen bestehen, die sich mit der existierenden Wasserkraft zusammentun. Gleichzeitig sollte der dabei nötige Stromtransport auch noch mit dem aktuellen Stromnetz zu schaffen sein. Das sind also viele Bedingungen, die gleichzeitig erfüllt werden müssen.
Gleichzeitige Optimierung mehrerer Parameter
Wie machen wir das am besten? In ihrem Projekt drehen die Forscher an mehreren Schrauben gleichzeitig, um unter Berücksichtigung der genannten Rahmenbedingungen durch ein Labyrinth von Möglichkeiten zu manövrieren und eine gute Lösung zu finden. Diese Schrauben sind:
- Standortwahl für PV und Windkraft
- Mischungsverhältnis der beiden
- Installationsgeometrie der PV-Module (Anstellwinkel, Ausrichtung)
Der Ergebnisraum aller möglichen Kombinationen lässt sich etwa mit der Anzahl der Atome in unserem Universum vergleichen. Es ist also unmöglich, alle Lösungen konkret auszuprobieren. Daher der Trick des oben erwähnten evolutionären Algorithmus. Diese Optimierungsmethode wurde von der Evolution natürlicher Lebewesen inspiriert und verwendet Prozesse wie Selektion, Rekombination und Mutation. Sie zeichnet sich durch eine besonders zielstrebige und erfolgreiche Suche nach einer guten Lösung aus und erlaubt gleichzeitig einen grossen Spielraum bei der Definition der Zielfunktion und der Randbedingungen.
Produktionspotenzial der Standorte
Wie die Optimierung ausfällt, hängt von der Produktivität der jeweiligen Standorte ab. Nicht nur von der jährlichen Summe, sondern auch von der zeitlichen Verteilung über das Jahr hinweg. Das lässt sich zwar schwer in zwei Dimensionen repräsentieren, der Kapazitätsfaktor (Bild 1) ist aber eine sinnvolle Annäherung. Er gibt an, wie viel der möglichen Leistung einer Solar- bzw. Windkraftanlage tatsächlich erbracht wird. Die Werte zur Solarenergie wurden mit dem Sunwell-Modell berechnet und sind Ergebnis einer mehrjährigen Forschungsarbeit zur Frage des Produktionspotenzials von PV in der Schweiz.[2] Das Modell berechnet nicht nur die Transposition der verschiedenen Strahlungskomponenten (direkt und diffus) auf die Moduloberfläche, sondern auch die Verschattung durch umgebende Berge sowie die vom Boden reflektierte Rückstrahlung. Letztere ist besonders in Bergregionen wichtig, wo der hochreflektive Schnee den Ertrag zeitweise um bis zu 30% steigern kann. Bei vertikal installierten Modulen können im Jahresmittel durch die Schneerückstrahlung etwa 10% mehr Energie produziert werden. Die Windenergie an den verschiedenen Standorten wurde basierend auf dem von Meteoswiss entwickelten Wettermodel Cosmo-1 für eine typische 3-MW-Turbine berechnet. Die verfügbare Schweizer Wasserkraft wird ebenfalls modelliert und so eingesetzt, dass temporäre Produktionsdefizite, Überproduktionen und mögliche Engpässe im Netz so weit wie möglich gemildert werden. Ein optimales Leistungsflussmodell berechnet dann die Übereinstimmung von Produktion und Nachfrage: Wie viel Strom muss importiert oder exportiert werden und wie stark ist das Schweizer Stromnetz dadurch belastet?
GIS ermöglicht die Suche
Nun kann man allerdings nicht überall dort eine Solar- oder Windkraftanlage bauen, wo es in Bild 1 gelb-grün ist, denn es gibt diverse Gründe, die lokal dagegensprechen. In einer sogenannten Geographic Information System (GIS) Analyse wurden mit Hilfe räumlich spezifischer Datensätze diejenigen Gebiete ausgeschlossen, die nicht für die Installation von PV und Windkraftanlagen geeignet sind. Und zwar nach den folgenden Kriterien:
- Hänge steiler als 30° (inkl. 150 m Pufferzone)
- Höhenlagen über 2700 m
- Gebiete weiter als 500 m von einer für geländegängige Fahrzeuge zugänglichen Strasse entfernt
- Schweizer Nationalpark
- Gletscher und permanente Schneefelder
Für Solaranlagen wurden ausserdem nordwärts orientierte Hänge, Moore und einige andere ungeeignete Flächen ausgeschlossen. Die verbleibenden Gebiete dürfen maximal zu 5% mit PV-Anlagen bedeckt werden. In bebauten Gebieten summiert sich dies auf etwa 150 km2 und entspricht der sonnenbeschienenen Schweizer Dachfläche, wie sie auch in früheren Studien abgeschätzt wurde.[3] Für Windkraftanlagen wurde ein Mindestabstand von 500 m zu jeglichen Gebäuden sowie zwischen einzelnen Windrädern berücksichtigt.
Diese Kriterien wurden mit einer Auflösung von 50 m auf die ganze Schweiz angewandt und ergaben eine mögliche Installationsfläche für PV-Anlagen von 606 km2 sowie ausreichend Platz für 50'400 Windräder (Bild 2). Diese Karte an sich hat bereits einen grossen Wert für die Planung der Energiestrategie 2050. Aber es geht noch besser. Mit der Evolutionsstrategie wird aus dem Pool des Möglichen die Auswahl des Besten getroffen. Dabei ergab sich eine ganze Reihe neuer Erkenntnisse, die unsere – möglicherweise etwas vorbelasteten – Gehirnwindungen so weder erdacht noch erwartet hätten.
Mehr Strom in den Bergen
Die Ergebnisse zeigen, dass die Optimierung eine Halbierung des Imports bei gleichzeitiger Steigerung der Produktivität erreicht; und zwar im Vergleich zu landesweit gleichmässig verteilten Installationen von PV und Windkraft. Wenn wir stattdessen mit einem «Business as usual Szenario» (BAU) vergleichen, in dem weiterhin auf Dächern in den Niederungen installiert wird und in dem Windkraft lediglich 15% der aktuellen Kernenergie ersetzt, dann kann der Import sogar um 80% gesenkt werden (Bild 3).
Dies ist von zentraler Bedeutung, weil es zeigt, dass sich hohe Produktivität und optimales Timing nicht gegenseitig ausschliessen. Es ist möglich, PV- und Windkraftanlagen an Standorten zu platzieren, die extrem profitabel sind und gleichzeitig Strom dann zu produzieren, wenn er am meisten gebraucht wird. Es ist sogar möglich, dies zu tun, ohne das Stromnetz zu überlasten. Trotz der eher restriktiven Vorgaben an die möglichen Installationsorte für PV- und Windkraftanlagen ist der Optimierungsalgorithmus in der Lage, geeignete Standorte zu finden, ohne grosse Kompromisse bei der Produktivität einzugehen. Die besten Ergebnisse werden mit einem Mix aus 75% Wind und 25% PV erzielt, und die optimalen Standorte sind der Jura für Windkraftanlagen und die Alpen für PV-Anlagen. Bild 4 zeigt die Standorte, die sich als Ergebnis der Optimierung für Solar- und Windkraftanlagen ergeben haben. Die verschiedenen Farben zeigen uns dabei, welche Beschränkungen durch das aktuelle Transportstromnetz entstehen. Die Standorte in Blau haben ein optimales Potenzial und können gleichzeitig über das bestehende Stromnetz bedient werden. In den roten Gebieten könnte zwar viel Strom produziert werden, allerdings erlaubt das Stromnetz keinen zuverlässigen Abtransport. Daher springen die grünen Gebiete dann als nächstbeste Lösung ein und ermöglichen hohe Produktivität bei gesicherter Netzanbindung. In der oberen Karte sieht man zusätzlich in Grau die PV-Standorte eines BAU-Szenarios, das Solarmodule auf Hausdächern in den Ballungszentren platziert. Dass diese nicht viel mit optimaler Produktion zu tun haben, lässt sich leicht erkennen.
Die Voraussetzungen sind da
Die wissenschaftliche Studie der EPFL zeigt das physikalisch vorhandene Potenzial auf, welches technisch für uns zugänglich ist und der Schweiz unter den Zielsetzungen der Energiestrategie 2050 ein hohes Niveau an Energieautonomie bietet. Gleichzeitig handelt es sich natürlich nur um ein theoretisch optimales Szenario. Es ist klar, dass es neben den berücksichtigten Einschränkungen noch weitere gibt, die für Installationen in Berggebieten relevant sind. Zu solchen Einschränkungen gehören die lokale Akzeptanz und wirtschaftliche Rahmenbedingungen. An beiden Punkten muss gearbeitet werden (und wird gearbeitet, z. B. im Rahmen der neuen BFE-Grossprojekte «Sweet» [4]). Die Ergebnisse zeigen aber klar auf, dass die naturräumlichen Voraussetzungen im Alpenraum eine sehr weitgehende autonome, nachhaltige und stabile Energieversorgung mit Wasserkraft, Sonne und Wind allein erlauben würde. Es ist an der Gesellschaft und ihrer politischen Repräsentation, darüber zu entscheiden, inwieweit das verwirklicht werden soll.
Referenzen
[1] Jérôme Dujardin et al., «Synergistic optimization of renewable energy installations through evolution strategy», Environmental Research Letters, 2021.
[2] Annelen Kahl et al., «The bright side of PV production in snow-covered mountains», PNAS, 2019.
[3] Alina Walch et al., «Big data mining for the estimation of hourly rooftop photovoltaic potential and its uncertainty», Applied Energy, 2020.
[4] www.bfe.admin.ch/sweet
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