«Grundsätzlichere Fragen gewinnen an Bedeutung»
Interview mit Jochen Kreusel
Der Umbau der Energiesysteme ist ein dynamischer Prozess, bei dem Begriffe wie Smart Grid und Smart Energy auftauchen, um später neuen, der Situation angemesseneren Begriffen Platz zu machen. Das Interview vermittelt Einblicke in diesen Transformationsprozess.
Bulletin: Vor Jahren hat man den Ausdruck Smart Grids oft gehört, heutzutage scheint er seltener zu werden. Stimmt dieser Eindruck?
Jochen Kreusel: Ich denke schon. Ich nehme zwei Entwicklungen wahr, die dazu beitragen, den Begriff zu verdrängen. Die eine ist mit dem Begriff Smart Energy verbunden. Dieser steht für die Erkenntnis, dass Energiepolitikziele und Nachhaltigkeitsziele nicht zu erreichen sind, wenn man sich nur auf die elektrische Energieversorgung beschränkt. Man muss stattdessen alle Sektoren der Energienutzung und die Wechselwirkungen untereinander betrachten. Die zweite Entwicklung ist die Digitalisierung der Energieversorgung. Sie stellt eine sehr grundlegende technische Entwicklung dar, die uns helfen wird, die zunehmende Komplexität in der Energieversorgung zu beherrschen. Allerdings sollte man daraus nicht schlussfolgern, dass vor uns liegende Herausforderungen alleine mit Digitaltechnik zu bewältigen sind. Man wird weitere Säulen wie zum Beispiel Leistungselektronik oder Speicherlösungen benötigen.
Ist Smart Energy eine deutsche Sache? Im angelsächsischen Raum trifft man kaum auf diesen Ausdruck, oder?
Es kann sein, dass der Begriff vor allem in Zentraleuropa verwendet wird und somit ein lokales Phänomen ist. Das Thema, das damit verbunden ist, betrifft aber die ganze Welt. In Grossbritannien spricht man beispielsweise zunehmend häufig von Multi Vector Energy Systems – dabei geht es um genau dasselbe.
Hat man beim Smart Grid die grössten Herausforderungen bereits gemeistert?
Wir haben schon viel erreicht, aber wir sind noch nicht am Ziel. Die elektrische Energieversorgung befindet sich in einer technisch-wirtschaftlichen Umbruchphase, die wesentliche Lösungskonzepte der Vergangenheit in Frage stellt.
Die wesentlichen Treiber der Veränderung sind die Dezentralität, die durch die hochgradig skalierbaren Technologien Photovoltaik und Batterien eingebracht wird, und die Variabilität der Einspeisung der neuen erneuerbaren Energiequellen Sonne und Wind. Dieser Veränderungsprozess hat zur Folge, dass wir weite Teile der Systembetriebsführung neu erfinden müssen. Selbstverständlich wird Automatisierungstechnik dabei eine zentrale Rolle spielen. Aber der Baukasten an Lösungen wird grösser sein: Lastflusssteuernde Lösungen werden genauso dazugehören wie Spannungsregelung in den Niederspannungsnetzen oder eben Speicher, um nur die offensichtlichsten Beispiele zu nennen. Vor diesem Hintergrund nennen wir unsere Konzerninitiative zu diesen Themen Marktinnovation für elektrische Netze.
Die grössten Herausforderungen beim Umbau der Stromversorgung sind sicher noch nicht gemeistert. Selbst in den Ländern, die frühzeitig und mit hohem Einsatz begonnen haben, die neuen erneuerbaren Energien zu entwickeln, liegt der Anteil an der Deckung der elektrischen Jahreslast bei maximal 50%. Mit solchen Anteilen dezentraler Einspeisung aus den neuen Quellen liegen wir in einem Bereich, in dem die Veränderung systemrelevant ist. Das hat auch schon zu vielen Innovationen geführt. Aber wir wissen auch, dass aus Sicht des Systembetriebs jede weitere Erhöhung dieses Anteils zu weiteren, grösseren Herausforderungen führen wird. Bei ABB befassen wir uns daher schon seit vielen Jahren mit den innovativen Ansätzen, die zur Weiterentwicklung der elektrischen Energieversorgung beitragen.
Woran wird da zurzeit gearbeitet?
Der Schwerpunkt der Arbeiten hat sich entsprechend dem erläuterten Fortschritt verlagert. Standen in der Vergangenheit eher lokale Problemlösungen oder solche für spezielle Aufgaben im Vordergrund – beispielsweise Spannungsregelung in Verteilnetzen, Verteilnetzautomatisierung oder auch virtuelle Kraftwerke –, gewinnen inzwischen grundsätzlichere Fragestellungen an Bedeutung. Wir untersuchen zum Beispiel, zusammen mit rund 20 Partnern aus Industrie, Netzbetrieb und Forschung im deutschen Projekt Ensure, wie sich Netzstrukturen und der Betrieb der Netze mittel- und langfristig entwickeln werden. Dabei geht es etwa darum, wie Leistungselektronik auf allen Netzebenen die Effizienz und die betriebliche Flexibilität erhöhen kann oder bis zu welchem Grad der Fortschritt in den Informations- und Kommunikationstechnologien Autonomie in den Netzen ermöglicht.
Wo sehen Sie die grössten Herausforderungen? Im technischen Bereich, in der Standardisierung, in der Akzeptanz bei der Bevölkerung?
Diese Frage kann man meines Erachtens nicht pauschal beantworten. Sprechen wir beispielsweise über die erforderliche Weiterentwicklung der Übertragungsnetze, kommt der Akzeptanz in der Bevölkerung sicherlich eine zentrale Rolle zu. Standardisierung ist auch ein Thema, wenn wir beispielsweise an die Interoperabilität von Hochspannungs-Gleichstrom-Anlagen denken. Dies ist allerdings wegen der vergleichsweise geringen Anzahl von Anlagen und Akteuren in der Übertragung nicht kritisch.
Gehen wir ans andere Ende des Systems, sozusagen an die Ränder der Netze, sieht das Bild anders aus. Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden wir künftig effiziente, einfache und sichere Möglichkeiten brauchen, um mit sehr dezentralen und kleinen Anlagen zu kommunizieren. Ich denke hier vor allem an Solar-Dachanlagen und Ladeeinrichtungen für Elektrofahrzeuge, die ans Niederspannungsnetz angeschlossen sind. Um hier einen wirklichen Durchbruch zu erzielen, ist eine Abstimmung von Marktrollendefinition, Standardisierung und den technischen Möglichkeiten erforderlich. Und weil die Geräte, über die wir hier sprechen, überwiegend in privaten Händen sind, können sich im Umgang mit ihnen auch Fragen der Akzeptanz stellen, beispielsweise beim Datenschutz.
Zusammenfassend kann man deshalb sagen, dass sich die Priorisierung der drei Aspekte im Lauf der Entwicklung ändern kann. Deshalb sollte man sie alle jederzeit im Blick behalten. Dabei schliesse ich in die Standardisierung auch die rechtliche Ausgestaltung des Elektrizitätsmarkts ein. Den technischen Bereich halte ich im Übrigen für am wenigsten kritisch. Er war bisher nicht der Engpass, und ich bin zuversichtlich, dass das auch in Zukunft so bleibt.
Können Sie etwas zum Unterschied zwischen der deutschen und der schweizerischen Smart-Grid-Situation sagen?
Die Anzahl von Anlagen mit fluktuierender Stromproduktion ist in der Schweiz im Vergleich zu Deutschland kleiner, da der Anteil aus neuen erneuerbaren Energien wie Photovoltaik und Windkraft geringer ist. Eine zunehmend wichtigere Rolle werden in der Schweiz künftig lokale Eigenverbrauchsgemeinschaften spielen, also beispielsweise Verbunde von Haushalten innerhalb eines Quartiers, die auf ihren Dächern mit PV-Anlagen selbst Strom erzeugen.
Generell ist das Schweizer Netz sehr gut ausgebaut, das gilt ganz besonders für das Verteilnetz. Eine Herausforderung für das Schweizer Übertragungsnetz sind die zunehmenden «Loop Flows». Dabei geht es um ungeplante Stromflüsse, die zwischen anderen europäischen Ländern durch das Schweizer Netz hindurchlaufen.
Hervorheben möchte ich auch einen grundsätzlichen Unterschied: Wie bereits erwähnt, sind dezentrale, kleine, aber in Summe systemkritische Anlagen ein wesentliches Charakteristikum der zukünftigen elektrischen Energieversorgung. Bei vollständig geöffnetem Endkundenwettbewerb bedeutet das, dass der Zugriff auf diese Anlagen sowohl für Netzbetreiber als auch für Dienstleistungsanbieter im Wettbewerbsmarkt offen sein muss. Mir ist kein Land bekannt, in dem das bereits gelöst ist – das deutsche Gesetz zur Digitalisierung der Energiewende enthält zwar wichtige Schritte in diese Richtung, adressiert aber bisher nicht den Massenmarkt. In der Schweiz mit der noch bestehenden vertikalen Integration im Haushaltskundenmarkt ist der lokale Freiheitsgrad für technische Lösungen innerhalb eines Verteilnetzgebietes grösser und weniger auf Vorleistungen in der Standardisierung angewiesen.
Zur Person
Prof. Dr.-Ing. Jochen Kreusel ist Group Senior Vice President des ABB-Konzerns und dort als Mitglied des Technologie-Kernteams weltweit verantwortlich für Marktinnovation des Geschäftsbereichs Power Grids. Jochen Kreusel gehört dem VDE-Präsidium an. Er ist Mitglied mehrerer Lenkungs- und Expertengruppen der Europäischen Kommission und Vice President und Mitglied des Executive Committees von T&D Europe. Zudem ist er Inhaber des Lehrauftrags «Energiewirtschaft in liberalisierten Elektrizitätsmärkten» an der RWTH Aachen.
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