Interview Energiemarkt , Produktion

Gibt es schon bald Energie im Überfluss?

«Vom Mangel zum Überfluss»

04.12.2020

Eine Studie des Gottlieb-Duttweiler-Instituts polarisiert: Wird Energie das Überfluss-Gut der Zukunft – obwohl doch vielerorts Mangelszenarien diskutiert werden? Researcher und Studien-Co-Autor Stefan Breit vom GDI gibt Auskunft.

«Vom Mangel zum Überfluss» heisst die Studie, die das Gottlieb-Duttweiler-Institut in Rüschlikon im Auftrag des Bundesamtes für Energie verfasst hat. Sie geht von einer sprunghaften Weiterentwicklung des Energiesystems im 21. Jahrhundert aus – und analysiert 30 mögliche Veränderungen. Eine Trendlandschaft bietet einen Überblick über die wichtigsten Einflussfaktoren auf das Schweizer Energiesystem. Doch ist die Überflussthese realistisch, während Stakeholder aus Politik und Wirtschaft eindringlich vor drohenden Winterengpässen und unsicheren Importen warnen?

Bulletin: Stefan Breit, wie lautet die zentrale Aussage Ihrer Studie zur Energiezukunft?

Stefan Breit: Im 21. Jahrhundert wird sich das globale Energiesystem von einem System der Knappheit in ein System des Überflusses transformieren: Energie wird erstens immer und überall in der benötigten Menge zur Verfügung stehen. Zweitens wird sie auch zu 100 Prozent aus nicht fossilen Quellen gewonnen. Die alte industrielle Welt des Öls wird von der neuen digitalen Welt der Elektrizität abgelöst.

Das klingt sehr nach rosaroter Utopie. Wie soll diese Realität werden?

Die Kräfte, die dazu führen, entspringen nicht nur dem technologischen Fortschritt, sondern auch der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, ökologischen und politischen Veränderung. Mit dem grundlegenden Wandel des Energiesystems geht auch ein grundlegender Wandel der globalen Gesellschaft einher. Dieser Übergang geschieht nicht auf einen Schlag – aber auch nicht gleitend, stufenlos und unmerklich. Er wird in Schritten, Sprüngen, Brüchen vor sich gehen, die für alle Beteiligten spürbar sind. Diese Entwicklungen sind als «Shifts» zu verstehen: Wenn sie eintreten, verändert sich die Art und Weise, wie wir Energie produzieren oder konsumieren.

Können Sie einige der zentralen und wahrscheinlichen «Shifts» erläutern?

In der Dimension «Technologie» ist das beispielsweise die «Autonome Schwarmenergie». Immer mehr dezentrale Energie-Ressourcen finden Anschluss ans Netz. Die Komplexität des Systems nimmt dadurch zu. Doch die Problemlösung dafür wird zunehmend an Softwareprogramme ausgelagert. Einer dieser neuen Ansätze sind auf Machine Learning basierende Vorhersagemodelle. Sie können mit beinahe absoluter Gewissheit die Wetterbedingungen in einer bestimmten Region vorhersagen. Wird voraussichtlich eher wenig Energie produziert, kann die automatische Abschaltung von gewissen Geräten programmiert werden, die zu diesem Zeitpunkt nicht unbedingt nötig sind. Es folgt eine Priorisierung von Nutzungen, wobei vitale Anwendungen natürlich ganz oben stehen.

Nicht alle Energie kann dezentral produziert werden...

Nein. Zentrale und dezentrale Produktion müssen sich aber nicht mehr, wie bislang, auf dem Markt als Konkurrenten gegenüberstehen, vielmehr ist es denkbar, dass beide Ansätze miteinander verschmelzen. Dies kann durch den Einsatz einer künstlichen Intelligenz (KI) erreicht werden – oder besser gesagt: eines Netzes von künstlichen Intelligenzen, die Produktion, Verbrauch und Netzsteuerung koordinieren. Dieses Netz aus verteilten Intelligenzen breitet sich über alle Schichten der Energielandschaft aus: von den smarten Geräten in den Wohnungen bis hin zu kontinentalen Hochspannungsleitungen. Zentral ist dabei die Frage, wie diese algorithmischen Systeme miteinander kommunizieren.

Dereinst. Irgendwann. Wenn die Zukunftsmusik spielt...

Es existieren bereits Projekte, die in diese Richtung deuten. In Deutschland betreibt der norwegische Energiekonzern Statkraft ein virtuelles Kraftwerk mit über 10'000 MW Kapazität – grös­ser als die grössten Kern- und Kohlekraftwerke in Deutschland. Es bündelt und vermarktet den Strom vieler kleiner Produzenten von erneuerbarer Energie und kann damit Energie effi­zienter verteilen und speichern. In der Endstufe können sogar alle Produzenten eines Kontinents ein grosses virtuelles Kraftwerk bilden, dem dann auch alle Konsumenten des Kontinents als grosser virtueller Nutzer gebündelt gegenüberstehen.

Was geschieht mit den Energieversorgern, wenn die Grenzkosten erneuerbarer Energie gegen null tendieren, wie Sie vorwegnehmen?

Eine Antwort dafür sucht das deutsche Unternehmen FreshEnergy. Es strebt an, den Strompreis in Zukunft auf 0 Cent pro kWh zu senken. Den Kunden schenkt es einen Smart Meter, einen intelligenten Stromzähler, der Daten wie Tarifänderungen oder Stromverbrauch empfangen und senden kann. Dann wird der Verbrauch gezielt optimiert. Vorbild für den Wechsel weg von einem früheren Kernprodukt ist ja die Telekombranche: Den langjährigen  Hauptumsatzträger Festnetztelefonat gibt sie inzwischen fast  kostenlos ab – und verzeichnet dennoch, oder gerade deswegen, robuste Umsätze und Gewinne mit anderen Produkten, insbesondere im Mobilfunk. Und dass Daten pures Gold sein können, beweisen Firmen wie Google oder Facebook schon seit Jahren.

Trotz aller eindrücklichen Beispiele liefert Ihre Studie aber Ideen und Ausblicke, keine konkreten Lösungen.

Ja, es ist eine qualitative Studie, die ihre Fühler in alle möglichen Richtungen ausstreckt und viele Trends sowie Gefahren erwähnt. Zukunft entsteht nun mal nicht auf geraden Wegen. Ökonomische und ökologische Interessen treten miteinander in Konflikt, technische Neuerungen können den politischen Akteuren die Arbeit erleichtern oder erschweren – und was in bester Absicht neugestaltet wurde, kann komplett nach hinten losgehen. Wichtig ist, dass wir uns endlich vom alten Knappheitsnarrativ lösen und die Gegenwart nicht länger in die Zukunft strapazieren. Können wir uns das Energiesystem vom Zielzustand her denken, vom sauberen Überfluss? Wie könnten dann Produkte und Services aussehen? Denn die Entwicklung ist unausweichlich.

Sie nennen das Kind beim Namen. Welche Rolle werden die politischen Akteure mit ihren Energiestrategien spielen?

Eine zentrale Rolle. Erstens, weil in einer elektrifizierten Welt die Wichtigkeit der Staaten zunimmt, da sie fast überall in der Welt über die Stromnetze gebieten. Zweitens, weil bei Investitionen für eine Überflussgesellschaft der volkswirtschaftliche Nutzen wichtiger ist als der betriebswirtschaftliche Gewinn. Und drittens, weil die Weiterentwicklung hin zur Überflussgesellschaft vor allem über Krisen- oder Umbruchsituationen geschieht. In solchen Situationen wird meist nach dem Staat als Helfer gerufen. Jeder Shift in der Branche – ob vom Menschen oder der Natur verursacht, ob technische Disruption, soziale Revolution oder ökologische Katastrophe – eröffnet indes einen Gestaltungsraum für alle zentralen Akteure. Alle, inklusive die Energiekunden, haben die Chance, das Energiesystem insgesamt zukunftsfähiger zu machen.

Autor
Sandro Pfammatter

war von September 2015 bis Oktober 2021 Mediensprecher des VSE.

  • VSE, 5000 Aarau
Zur Person

Stefan Breit ist Researcher am Gottlieb-Duttweiler-Institut in Rüschlikon und Co-Autor der vom BFE initiierten Studie «Vom Mangel zum Überfluss».

E-Mail

Gottlieb-Duttweiler-Institut

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