Folgen von Netto-Null-Zielen für Stromnetze
Studie für die Stadt Thun
Immer mehr Städte möchten ihre CO2-Emissionen in 20 bis 30 Jahren auf Netto Null reduzieren. Was bedeutet die damit verbundene Elektrifizierung für die Verteilnetze? Eine Studie von EBP hat detailliert analysiert, wie sich der Ausbau von Wärmepumpen, Photovoltaik und Elektromobilität auf die Netze auswirkt und wie der nötige Netzausbau reduziert werden kann
Der Gemeinderat der Stadt Thun beschloss im Jahr 2019, eine Strategie mit dem Ziel Netto- Null bis 2050 in Angriff zu nehmen. Die Stadt beauftragte EBP in einer Grundlagenstudie mit der Modellierung eines Netto-Null-Szenarios [1]. Hauptziel der Studie war es, die Auswirkungen eines solchen Szenarios auf die Infrastruktur räumlich detailliert aufzuzeigen. Die Elektrifizierung der Nachfrageseite, insbesondere durch die Elektromobilität und elektrische Wärmepumpen, sowie der massive Ausbau des Stromangebots mittels Photovoltaik auf Gebäuden finden dezentral im Verteilnetz statt. Um die Auswirkungen dieser dezentralen Entwicklungen auf das Verteilnetz zu analysieren, wurden die relevanten Einflussfaktoren (Photovoltaik, Elektromobilität und Wärmepumpen) räumlich detailliert modelliert (Bild 1) und auf Ebene der Trafostationen (Netzebene 6) aggregiert.
Methodisches Vorgehen
Ziel der Analysen ist es, Netto-Null-Szenarien räumlich zu beschreiben und die Auswirkungen direkt in Zielnetzplanungen einfliessen zu lassen. Die festgelegten Szenarien können sich dabei an bestehende Grundlagen wie die Energieperspektiven 2050+ [2] ausrichten oder eigene Annahmen abbilden. Drei Vertiefungen sind für die Netzplanung zentral: Die Elektrifizierung der Wärmeversorgung, die Elektromobilität sowie der Zubau der Photovoltaik. Diese wurden für die Stadt Thun gebäudescharf respektive im Hektarraster bis ins Jahr 2050 detailliert modelliert.
Um die Elektrifizierung der Wärmeversorgung zu modellieren, standen die Wärmeversorgung der bestehenden Gebäude, die Abbildung zusätzlicher Neubauten und die Bestimmung der eingesetzten Wärmetechnologien im Zentrum. Die Entwicklung der Wärmepumpen basiert einerseits auf der räumlich unterschiedlichen Eignung für Wärmepumpen, beeinflusst durch vorhandene lokale Potenziale und durch die Siedlungs- und Gebäudestruktur. Andererseits ist der Wärmepumpenzubau räumlich mit anderen Entwicklungen abzugleichen, zum Beispiel mit geplanten Fernwärmenetzen.
Um die Elektromobilität abzubilden, wurde der Modalsplit und die Entwicklung der Neuzulassungen und des Fahrzeugbestands modelliert. Die Marktdiffusion der Elektromobilität verläuft nicht überall gleich schnell. Soziodemografische Faktoren bestimmen deren Geschwindigkeit deutlich. Diese Faktoren wurden in der Modellierung für Thun räumlich abgebildet. Jedem Elektrofahrzeug wurde ein spezifisches Ladeverhalten zugewiesen. Dies erlaubt eine konsistente Modellierung von Ladewelten [4]. Auf Basis typischer Ankunftszeiten und der technischen Spezifikationen an den Ladestationen wurden Ladeprofile je Ladestationstyp modelliert, um Gleichzeitigkeitsfaktoren zu ermitteln (Bild 2). Die Modellierung erfolgte dabei agentenbasiert auf Ebene einzelner Ladevorgänge.
Um den Zubau von PV-Anlagen abzubilden, wurden die Daten zu schweizweiten Produktionspotenzialen von Dachflächen und Fassaden des Bundesamts für Energie (sonnendach.ch und sonnenfassade.ch) regionalisiert [5]. Für die räumliche Entwicklung der Anlagen wurden weitere Kriterien wie Ortsbildschutz und bauliche Einschränkungen berücksichtigt.
Ergebnis der Studie
Die räumlich detaillierte Betrachtung zeigte für die Stadt Thun, dass die Umsetzung des Netto-Null-Ziels und der damit verbundenen starken Elektrifizierung im Wärme- und Verkehrssektor ohne Gegenmassnahmen schon im Jahr 2035 zu einer sehr hohen durchschnittlichen Auslastung der Transformatoren (Netzebene 6) führt. Die Resultate zeigen die Notwendigkeit, mit gezielten Massnahmen die Auswirkungen der Elektrifizierung auf das Verteilnetz abzufedern.
Winteroptimierter PV-Zubau entlastet die Verteilnetze
Die Schweiz soll gemäss Energieperspektiven 2050+ die Stromerzeugung aus Photovoltaik bis zum Jahr 2050 auf jährlich 34 TWh (Szenario Zero Basis) ausbauen [2]. Dazu ist ein massiver Ausbau der Photovoltaik notwendig. Bisher fallen 70% des Solarstroms im Sommer an. Aufgrund der grösser werdenden Stromengpässe im Winter sollte die Stromproduktion im Winterhalbjahr (Oktober bis März) maximiert werden. Im Basisszenario für die Stadt Thun wurden die Dach- und Fassadenflächen mit maximalem Jahresertrag genutzt. In einem zusätzlichen Szenario wurde die Photovoltaik auf den Winter optimiert. Dabei wurden jene Flächen genutzt, welche den besten Winterstromertrag liefern – insbesondere Fassadenanlagen. Die Analyse zeigte, dass die Winterstromproduktion bei gleichbleibender Jahresproduktion in der Stadt Thun im Jahr 2050 um knapp einen Drittel erhöht werden kann und dazu lediglich 4% mehr Anlagenleistung installiert werden muss. In diesem winteroptimierten Szenario kann der Winterstromanteil der Photovoltaik in der Stadt Thun von 30% im Basisszenario auf 40% erhöht werden. Da die Fassadenanlagen häufig kleiner sind als Dachanlagen, mussten im winteroptimierten Szenario 17% mehr Gebäude mit einer Dach- oder Fassadenanlage ausgerüstet werden als im Basisszenario. Im winteroptimierten Szenario wurden in der gebäudescharfen Simulation bis im Jahr 2050 drei Viertel der Gebäude in der Stadt Thun mit mindestens einer PV-Dach- oder Fassadenanlage bestückt. Bereits im Basisszenario sind allerdings zwei Drittel der Gebäude mit einer PV-Anlage ausgestattet.
Mit dem massiven Zubau der Photovoltaik für Netto-Null wird für das Basisszenario im Verteilnetz der Stadt Thun bereits im Jahr 2035 an zahlreichen Transformatoren während rund 1000 Stunden im Jahr mit einer Rückspeisung aus der Netzebene 7 gerechnet, welche ohne Gegenmassnahmen die aktuellen Transformationskapazitäten in Wohnquartieren übersteigt. Ein winteroptimierter Zubau der Photovoltaik ist dabei eine geeignete Massnahme zur Entlastung der Verteilnetze – insbesondere in Wohnquartieren, da dadurch ein erheblicher Teil der Produktion in das Winterhalbjahr verschoben wird und auch die maximale Einspeisungsleistung im Sommer durch die winteroptimierte Ausrichtung der Anlagen deutlich reduziert werden kann (Bilder 3 und 4).
Mittelfristig striktes Einspeisemanagement nötig
Eine andere Option zur Entlastung der Verteilnetze ist ein Einspeisemanagement der PV-Anlagen durch Spitzenkappung – also eine Beschränkung der maximal möglichen Einspeiseleistung. Zur Entlastung der unteren Netzebenen muss die Kappung allerdings sehr strikt ausgelegt werden, wie die Analyse in der Stadt Thun gezeigt hat. Eine Kappung auf 70% der installierten Leistung reduzierte die maximale Rückspeisung aus der Netzebene 7 lediglich um 5%. Allerdings reduziert sich dadurch die Jahresstromproduktion aus Photovoltaik auch nur unwesentlich um wenige Prozentpunkte. Um den Netzausbaubedarf durch Rückspeisung der Photovoltaik in den unteren Netzebenen deutlich zu reduzieren, braucht es eine striktere Leistungsbeschränkung auf rund 50% der Nominalleistung. In der Stadt Thun könnte die maximale Rückspeisung aus der Netzebene 7 dadurch im Jahr 2050 um rund 25% reduziert werden, dabei würden allerdings auch über 10% der Jahresproduktion abgeregelt werden. Swissolar empfiehlt eine Abregelung der PV-Anlagen auf 35% ihrer Nominalleistung [3]. Eine solch strikte Kappung würde entsprechend zu einer weiteren Reduktion der maximalen Photovoltaikeinspeisung führen. Allerdings ist zu beachten, dass bei den meisten Transformatoren in den städtischen Gebieten auch künftig die Last und nicht die Photovoltaik auslegungsrelevant ist. Die netzentlastende Wirkung der Spitzenkappung ist also besonders in Verteilnetzgebieten relevant, die von der PV-Rückspeisung und nicht von der Last dominiert werden.
Nutzung der Flexibilitätspotenziale
Die Gleichzeitigkeit der zusätzlichen Lasten der Elektromobilität und der Wärmepumpen löst im Thuner Verteilnetz ohne geeignete Massnahmen hohe Netzausbaubedarfe aus. Dabei sind die Elektrofahrzeuge massgebend bei der künftigen Dimensionierung des Verteilnetzes, da sie zwar kürzer, aber mit höherer Leistung Strom beziehen als die Wärmepumpen. Entsprechend gilt es, die Flexibilitätspotenziale bei Wärmepumpen und insbesondere bei den Ladevorgängen der Elektromobilität an privaten Ladestationen voll auszuschöpfen. Eine Umsetzung könnte so aussehen, dass Wärmepumpen und Ladeeinrichtungen für Elektrofahrzeuge an einem Hausanschluss in bestimmten Zeitfenstern nicht gleichzeitig eingesetzt werden. Die Wärmepumpe würde dann entsprechend abgeschaltet, wenn das Fahrzeug geladen wird und anschliessend wieder eingeschaltet, ohne beim Nutzer deutliche Komforteinbussen hervorzurufen.
Robuste Netzplanung dank detaillierten Szenarien
Die Studie in der Stadt Thun hat gezeigt, dass die Umsetzung des Netto-Null-Ziels eine starke Flexibilisierung der Last sowie eine Verstärkung der Verteilnetze verlangt. Für Energieversorger gilt es, das Stromnetz im Rahmen der Zielnetzplanung auf das Netto-Null-Ziel auszurichten.
Da sich die Ausgangslage und Struktur der Verteilnetze stark voneinander unterscheiden, sind für eine robuste Netzplanung räumlich detaillierte Leistungsszenarien nötig. Dadurch werden auch räumliche Unterschiede innerhalb eines Verteilnetzes ersichtlich. So hat die Studie in Thun gezeigt, in welchen Gebieten des Verteilnetzes die zukünftige Netzauslegung aufgrund der PV-Einspeisung und wo aufgrund des Leistungszuwachses erfolgen sollte.
Für die Mobilität zeigen die räumlich detaillierten Szenarien, welchen Stresstest eine Vollelektrifizierung des Strassenverkehrs auf die Verteilnetze bedeutet und wo im Netz die Engpässe erwartet werden. Dank der räumlichen Differenzierungen können geeignete Massnahmen zur Reduktion des Netzausbaubedarfs spezifisch für das Verteilnetzgebiet abgeleitet und geplant werden. Im Bereich Wärme ermöglichen die räumlich detaillierten Szenarien eine abgestimmte und gegenseitig optimierte Entwicklung der Wärme-, Strom- und Gasnetze.
Referenzen
[1] Grundlagen für die Klima- und Energiestrategie der Stadt Thun, Stadt Thun, 2021.
[2] Energieperspektiven 2050+, Szenarienergebnisse, BFE, 2022.
[3] «Vom Peak-Shaving auf 35% vom Nominalwert zu ungedeckten Unternehmensrisiken bis hin zu den 3 D», Nationale PV-Tagung, ee news, 2019.
[4] Szenarien der Elektromobilität in der Schweiz – Update 2021, EBP, 2021.
[5] Solarenergie: Eignung Dächer; Solarenergie: Eignung Fassaden, BFE, 2016.
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