Fachartikel Energienetze , Infrastruktur , Mobilität

Folgen von Netto-Null-Zielen für Stromnetze

Studie für die Stadt Thun

27.04.2022

Immer mehr Städte möchten ihre CO2-Emissionen in 20 bis 30 Jahren auf Netto Null reduzieren. Was bedeutet die damit verbundene Elektrifizierung für die Verteilnetze? Eine Studie von EBP hat detailliert analysiert, wie sich der Ausbau von Wärme­pumpen, Photo­voltaik und Elektro­mobilität auf die Netze auswirkt und wie der nötige Netzausbau reduziert werden kann

Der Gemeinderat der Stadt Thun beschloss im Jahr 2019, eine Strategie mit dem Ziel Netto- Null bis 2050 in Angriff zu nehmen. Die Stadt beauftragte EBP in einer Grund­lagen­studie mit der Modellierung eines Netto-Null-Szenarios [1]. Hauptziel der Studie war es, die Auswirkungen eines solchen Szenarios auf die Infrastruktur räumlich detailliert aufzuzeigen. Die Elektrifizierung der Nachfrageseite, insbesondere durch die Elektromobilität und elektrische Wärmepumpen, sowie der massive Ausbau des Stromangebots mittels Photovoltaik auf Gebäuden finden dezentral im Verteilnetz statt. Um die Auswirkungen dieser dezentralen Entwicklungen auf das Verteilnetz zu analysieren, wurden die relevanten Einflussfaktoren (Photovoltaik, Elektromobilität und Wärmepumpen) räumlich detailliert modelliert (Bild 1) und auf Ebene der Trafostationen (Netzebene 6) aggregiert.

 

Methodisches Vorgehen

Ziel der Analysen ist es, Netto-Null-Szenarien räumlich zu beschreiben und die Auswirkungen direkt in Zielnetz­planungen einfliessen zu lassen. Die festgelegten Szenarien können sich dabei an bestehende Grundlagen wie die Energie­perspek­tiven 2050+ [2] ausrichten oder eigene Annahmen abbilden. Drei Vertiefungen sind für die Netzplanung zentral: Die Elektrifizierung der Wärmeversorgung, die Elektro­mobilität sowie der Zubau der Photovoltaik. Diese wurden für die Stadt Thun gebäudescharf respektive im Hektarraster bis ins Jahr 2050 detailliert modelliert.

Um die Elektrifizierung der Wärme­versorgung zu modellieren, standen die Wärme­versorgung der bestehenden Gebäude, die Abbildung zusätzlicher Neubauten und die Bestimmung der eingesetzten Wärmetechnologien im Zentrum. Die Entwicklung der Wärmepumpen basiert einerseits auf der räumlich unterschiedlichen Eignung für Wärmepumpen, beeinflusst durch vorhandene lokale Potenziale und durch die Siedlungs- und Gebäude­struktur. Andererseits ist der Wärme­pumpen­zubau räumlich mit anderen Entwicklungen abzugleichen, zum Beispiel mit geplanten Fern­wärme­netzen.

Um die Elektromobilität abzubilden, wurde der Modalsplit und die Entwicklung der Neuzulassungen und des Fahrzeugbestands modelliert. Die Marktdiffusion der Elektromobilität verläuft nicht überall gleich schnell. Sozio­demo­grafische Faktoren bestimmen deren Geschwindigkeit deutlich. Diese Faktoren wurden in der Modellierung für Thun räumlich abgebildet. Jedem Elektrofahrzeug wurde ein spezifisches Ladeverhalten zugewiesen. Dies erlaubt eine konsistente Modellierung von Ladewelten [4]. Auf Basis typischer Ankunftszeiten und der technischen Spezifikationen an den Ladestationen wurden Ladeprofile je Ladestationstyp modelliert, um Gleich­zeitigkeits­faktoren zu ermitteln (Bild 2). Die Modellierung erfolgte dabei agentenbasiert auf Ebene einzelner Ladevorgänge.

Um den Zubau von PV-Anlagen abzubilden, wurden die Daten zu schweizweiten Produktions­potenzialen von Dachflächen und Fassaden des Bundesamts für Energie (sonnendach.ch und sonnenfassade.ch) regionalisiert [5]. Für die räumliche Entwicklung der Anlagen wurden weitere Kriterien wie Ortsbild­schutz und bauliche Einschrän­kungen berücksichtigt.

Ergebnis der Studie

Die räumlich detaillierte Betrachtung zeigte für die Stadt Thun, dass die Umsetzung des Netto-Null-Ziels und der damit verbundenen starken Elek­trifizierung im Wärme- und Verkehrssektor ohne Gegen­mass­nahmen schon im Jahr 2035 zu einer sehr hohen durch­schnitt­lichen Auslastung der Trans­formatoren (Netzebene 6) führt. Die Resultate zeigen die Notwendigkeit, mit gezielten Massnahmen die Auswirkungen der Elektrifizierung auf das Verteilnetz abzufedern.

Winteroptimierter PV-Zubau entlastet die Verteilnetze

Die Schweiz soll gemäss Energie­per­spektiven 2050+ die Stromerzeugung aus Photovoltaik bis zum Jahr 2050 auf jährlich 34 TWh (Szenario Zero Basis) ausbauen [2]. Dazu ist ein massiver Ausbau der Photovoltaik notwendig. Bisher fallen 70% des Solarstroms im Sommer an. Aufgrund der grösser werdenden Stromengpässe im Winter sollte die Stromproduktion im Winterhalbjahr (Oktober bis März) maximiert werden. Im Basisszenario für die Stadt Thun wurden die Dach- und Fassaden­flächen mit maximalem Jahresertrag genutzt. In einem zusätzlichen Szenario wurde die Photovoltaik auf den Winter optimiert. Dabei wurden jene Flächen genutzt, welche den besten Winterstrom­ertrag liefern – insbesondere Fassaden­anlagen. Die Analyse zeigte, dass die Winterstrom­produktion bei gleich­bleibender Jahres­produktion in der Stadt Thun im Jahr 2050 um knapp einen Drittel erhöht werden kann und dazu lediglich 4% mehr Anlagenleistung installiert werden muss. In diesem winter­optimierten Szenario kann der Winterstromanteil der Photovoltaik in der Stadt Thun von 30% im Basisszenario auf 40% erhöht werden. Da die Fassaden­anlagen häufig kleiner sind als Dachanlagen, mussten im winter­optimierten Szenario 17% mehr Gebäude mit einer Dach- oder Fassadenanlage ausgerüstet werden als im Basisszenario. Im winter­optimierten Szenario wurden in der gebäudescharfen Simulation bis im Jahr 2050 drei Viertel der Gebäude in der Stadt Thun mit mindestens einer PV-Dach- oder Fassadenanlage be­stückt. Bereits im Basisszenario sind allerdings zwei Drittel der Gebäude mit einer PV-Anlage ausgestattet.

Mit dem massiven Zubau der Photovoltaik für Netto-Null wird für das Basisszenario im Verteilnetz der Stadt Thun bereits im Jahr 2035 an zahlreichen Trans­formatoren während rund 1000 Stunden im Jahr mit einer Rückspeisung aus der Netzebene 7 gerechnet, welche ohne Gegenmass­nahmen die aktuellen Transfor­mations­kapazitäten in Wohnquartieren übersteigt. Ein winter­optimierter Zubau der Photovoltaik ist dabei eine geeignete Massnahme zur Entlastung der Verteilnetze – insbesondere in Wohnquartieren, da dadurch ein erheblicher Teil der Produktion in das Winterhalbjahr verschoben wird und auch die maximale Einspeisungsleistung im Sommer durch die winteroptimierte Ausrichtung der Anlagen deutlich reduziert werden kann (Bilder 3 und 4).

Mittelfristig striktes Einspeise­mana­gement nötig

Eine andere Option zur Entlastung der Verteilnetze ist ein Einspeise­mana­gement der PV-Anlagen durch Spitzenkappung – also eine Beschränkung der maximal möglichen Einspeiseleistung. Zur Entlastung der unteren Netz­ebenen muss die Kappung allerdings sehr strikt ausgelegt werden, wie die Analyse in der Stadt Thun gezeigt hat. Eine Kappung auf 70% der installierten Leistung reduzierte die maximale Rückspeisung aus der Netzebene 7 lediglich um 5%. Allerdings reduziert sich dadurch die Jahres­strom­produktion aus Photovoltaik auch nur unwesentlich um wenige Prozentpunkte. Um den Netzausbau­bedarf durch Rückspeisung der Photovoltaik in den unteren Netzebenen deutlich zu reduzieren, braucht es eine striktere Leistungs­beschränkung auf rund 50% der Nominal­leistung. In der Stadt Thun könnte die maximale Rückspeisung aus der Netzebene 7 dadurch im Jahr 2050 um rund 25% reduziert werden, dabei würden allerdings auch über 10% der Jahresproduktion abgeregelt werden. Swissolar empfiehlt eine Abregelung der PV-Anlagen auf 35% ihrer Nominalleistung [3]. Eine solch strikte Kappung würde entsprechend zu einer weiteren Reduktion der maximalen Photovoltaik­einspeisung führen. Allerdings ist zu beachten, dass bei den meisten Trans­formatoren in den städtischen Gebieten auch künftig die Last und nicht die Photovoltaik auslegungsrelevant ist. Die netzent­lastende Wirkung der Spitzenkappung ist also besonders in Verteil­netz­gebieten relevant, die von der PV-Rückspeisung und nicht von der Last dominiert werden. 

Nutzung der Flexibilitätspotenziale

Die Gleichzeitigkeit der zusätzlichen Lasten der Elektro­mobilität und der Wärme­pumpen löst im Thuner Verteilnetz ohne geeignete Massnahmen hohe Netzausbau­bedarfe aus. Dabei sind die Elektrofahrzeuge massgebend bei der künftigen Dimen­sionierung des Verteilnetzes, da sie zwar kürzer, aber mit höherer Leistung Strom beziehen als die Wärmepumpen. Entsprechend gilt es, die Flexibilitäts­potenziale bei Wärmepumpen und insbesondere bei den Ladevorgängen der Elektromobilität an privaten Ladestationen voll auszuschöpfen. Eine Umsetzung könnte so aussehen, dass Wärmepumpen und Lade­einrichtungen für Elektro­fahrzeuge an einem Hausanschluss in bestimmten Zeitfenstern nicht gleichzeitig eingesetzt werden. Die Wärmepumpe würde dann entsprechend abgeschaltet, wenn das Fahrzeug geladen wird und anschliessend wieder eingeschaltet, ohne beim Nutzer deutliche Komforteinbussen hervorzurufen.

Robuste Netzplanung dank detaillierten Szenarien

Die Studie in der Stadt Thun hat gezeigt, dass die Umsetzung des ­Netto-Null-Ziels eine starke Flexibili­sierung der Last sowie eine Verstärkung der Verteilnetze verlangt. Für Energieversorger gilt es, das Stromnetz im Rahmen der Zielnetzplanung auf das Netto-Null-Ziel auszurichten.

Da sich die Ausgangslage und Struktur der Verteilnetze stark voneinander unterscheiden, sind für eine robuste Netzplanung räumlich detaillierte Leistungs­szenarien nötig. Dadurch werden auch räumliche Unterschiede innerhalb eines Verteilnetzes ersichtlich. So hat die Studie in Thun gezeigt, in welchen Gebieten des Verteilnetzes die zukünftige Netzauslegung aufgrund der PV-Einspeisung und wo aufgrund des Leistungs­zuwachses erfolgen sollte.

Für die Mobilität zeigen die räumlich detaillierten Szenarien, welchen Stresstest eine Vollelektri­fizierung des Strassen­verkehrs auf die Verteilnetze bedeutet und wo im Netz die Engpässe erwartet werden. Dank der räumlichen Differen­zierungen können geeignete Massnahmen zur Reduktion des Netzaus­baubedarfs spezifisch für das Verteil­netzgebiet abgeleitet und geplant werden. Im Bereich Wärme ermöglichen die räumlich detaillierten Szenarien eine abgestimmte und gegenseitig optimierte Entwicklung der Wärme-, Strom- und Gasnetze.

Referenzen

[1] Grundlagen für die Klima- und Energiestrategie der Stadt Thun, Stadt Thun, 2021.

[2] Energieperspektiven 2050+, Szenarienergebnisse, BFE, 2022.

[3] «Vom Peak-Shaving auf 35% vom Nominalwert zu ungedeckten Unternehmensrisiken bis hin zu den 3 D», Nationale PV-Tagung, ee news, 2019.

[4] Szenarien der Elektromobilität in der Schweiz – Update 2021, EBP, 2021.

[5] Solarenergie: Eignung Dächer; Solarenergie: Eignung Fassaden, BFE, 2016.

Autor
Silvan Rosser

leitet bei EBP das Markt­feld Elektromobilität.

  • EBP Schweiz AG, 8032 Zürich
Autor
Michel Müller

leitet bei EBP das Team Energiesysteme.

  • EBP Schweiz AG, 8032 Zürich

 

Autorin
Sabine Perch-Nielsen

leitet bei EBP das Team Energieeffizienz und erneuerbare Energien.

  • EBP Schweiz AG, 8032 Zürich

 

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