Flexibilitäts-Potenzial von «Vehicle to Grid»
E-Mobilität
Die stetig steigende Anzahl Steckerfahrzeuge auf den Schweizer Strassen ist sowohl Herausforderung als auch Chance für die Mobilität und das Stromsystem. Dank dynamischem Lade-Management und Rückspeisung aus den Batterien ins Netz erbringen diese Fahrzeuge netzdienliche Dienstleistungen.
Prognosen von Bloomberg New Energy Finance gehen davon aus, dass die Zahl der Elektrofahrzeuge bis 2030 125 Millionen erreichen wird. Ab zirka 2028 wird in der Schweiz damit gerechnet, dass 80% der Neuwagen elektrisch fahren werden. Somit werden 2028 zirka 1 Million Elektrofahrzeuge immatrikuliert sein. 2025/26 werden es schätzungsweise rund 500'000 sein. Diese Entwicklung legen nicht nur Branchenschätzungen [1, 2] nahe. Auch die historische Entwicklung in Norwegen, dem europäischen Vorreiter punkto Elektromobilität, untermauert entsprechende Prognosen.
Die stetig steigende Anzahl Steckerfahrzeuge verändert das Verkehrssystem. Und diese Veränderung hat sowohl Herausforderungen als auch Chancen für die Mobilität und das Stromsystem zur Folge. Ein Hauptproblem besteht darin, dass das monodirektionale Aufladen von Fahrzeugen die elektrische Spitzenlast erheblich erhöhen könnte. Es wird jedoch erwartet, dass durch die Verlagerung des Aufladevorgangs auf Zeiten ausserhalb der Spitzenlast durch «intelligente Ladetechnologien» wie Lade-Management-Systeme solche negativen Folgen stark abgemildert werden können. Neben der Abschwächung negativer Auswirkungen können Elektrofahrzeuge auch Vorteile für das Stromsystem bringen.
Vorteile dank intelligenter Nutzung von Elektrofahrzeugen
Das Konzept Vehicle to Grid (V2G) nutzt Elektrofahrzeuge als Energiespeicher für das Netz: Die Batterien von bidirektional ladenden Elektroautos können – im Unterschied zu den heute gebräuchlichen monodirektional ladenden Elektrofahrzeugen – sowohl vom Netz geladen als auch in das Netz entladen werden. Sie werden somit Teil eines intelligenten Energiesystems.
Steckerfahrzeuge können nicht nur elektrische Energie aus dem Netz oder von der eigenen PV-Anlage aufnehmen. In Zeiten grosser Netzlast können sie auch in umgekehrter Richtung über spezielle bidirektionale Ladestationen ins Netz (V2G) oder ins Haus (Vehicle to Building {V2B}) einspeisen. V2G und V2B ermöglichen somit eine intelligente Sektorkopplung.
Durch die dynamische Steuerung von Batterieladung und Rückspeisung von Strom aus den Batterien in das Haus-, das Quartier- oder das Verteil- und Übertragungsnetz könnten Elektrofahrzeuge die flexible elektrische Leistung am Markt anbieten: als Frequenzregulierungsdienste, Lastspitzenkappung, Engpass-Management und Spannungsregelung. Voraussetzung dafür ist, dass genügend bidirektional ladende Elektroautos auf den Schweizer Strassen fahren. Aufgrund der eingangs erwähnten Prognosen dürfte das aber nur eine Frage der Zeit sein.
Der Bedarf nach solcher Flexibilität im Stromsystem wird in Zukunft steigen, wenn der Ausbau von dezentralen und fluktuierenden erneuerbaren Energiequellen wie Sonne sowie teilweise auch Wind voranschreitet. Elektrofahrzeuge könnten dazu beitragen, die künftige Lastkurve so zu gestalten, dass sie mit dem Angebot an erneuerbaren Energien übereinstimmt. Zudem könnten die Fahrzeuge energie- und netzdienliche Flexibilitäten zur Verbesserung der Netzsicherheit und -stabilität bereitstellen.
Wenn ab 2028 annähernd 1 Million Elektrofahrzeuge in der Schweiz immatrikuliert sind und mit je etwa 10 kW ans Netz angeschlossen sind, so entspricht dies einer dezentralen Regelleistung von ungefähr 10 GW, was dem 3,9-fachen der Pumpleistung aller Schweizer Pumpspeicherkraftwerke entspricht, vorausgesetzt sie sind alle mit einem bidirektionalen Ladesystem ausgestattet. Dieses riesige Flexibilitätspotenzial muss nicht nur zur Optimierung des Eigenverbrauchs, sondern auch als Flexibilität für Verteilnetz- und Übertragungsnetzbetreiber genutzt werden.
Möglichkeiten zur Wertschöpfung aus Flexibilität
Einrichtung und Betrieb eines V2G sind mit Kosten verbunden, etwa für bidirektionale Wandler in Fahrzeug und/oder Ladestation, für den Kommunikationskanal mit dem Verteilnetzbetreiber oder dem Aggregator, für Energiezähler usw. Damit sich diese Investitionen lohnen, müssen Möglichkeiten zur Wertschöpfung aus der Flexibilität durch V2G geschaffen werden. Es gibt mehrere mögliche Geschäftsmodelle:
Nutzen für ein Quartier: Durch V2B kann der Eigenverbrauch in einem Quartier erhöht werden. Das System senkt damit die Netzkosten für den Verteilernetzbetreiber und letztlich auch für den Endkunden, indem die Leistungsspitzen gekappt werden.
Nutzen für den Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB): Elektrofahrzeuge in einem V2G-System ermöglichen ÜNB die Bereitstellung von Systemdienstleistungen. Solche Dienstleistungen, zu denen Frequenzregelung sowie das Anbieten von Reserve- und Kraftwerkskapazitäten gehören, sorgen für eine grössere Systemstabilität. Da ÜNB eine Mindestleistung und -zuverlässigkeit für Systemdienstleistungsverträge fordern, müssen viele Elektrofahrzeuge aggregiert und koordiniert werden, um diese Anforderungen zu erfüllen.
Nutzen für Verteilnetzbetreiber: Das V2G-Konzept könnte in Zukunft auch eine Reihe von Dienstleistungen für Verteilnetzbetreiber bereitstellen, beispielsweise Beiträge zu Lastspitzenkappung, Engpass-Management und Spannungsregelung. Derartige Märkte befinden sich momentan noch in den Kinderschuhen. Wie bei den Systemdienstleistungen für Übertragungsnetzbetreiber ist dafür die Aggregation mehrerer Fahrzeuge erforderlich, um eine ausreichende Grösse und Zuverlässigkeit zu erzielen. Fahrzeuge, die gerade nicht ans Netz angeschlossen oder in einem anderen Netz angeschlossen sind, können nicht genutzt werden. Durch Aggregation vieler Fahrzeuge gleicht sich dieser Effekt aus.
Nutzen für das Energie-Management von Gebäuden: Besitzer von Elektrofahrzeugen oder -flotten könnten einen finanziellen Anreiz erhalten, wenn sie den Eigenversorgungsgrad eines ZEV (Zusammenschluss zum Eigenverbrauch) erhöhen können und die Batteriekapazität ihrer Fahrzeuge für das Energie-Management eines Gebäudes zur Verfügung stellen. Auf diese Weise können die kurzzeitigen Stromverbrauchsspitzen im Gebäude mithilfe von Elektrofahrzeugen ausgeglichen werden, ohne dass zusätzliche Energie aus dem Netz verbraucht werden muss. Eine solche Nutzung direkt am Ladeort bringt die grössten Vorteile.
Nutzen für intelligentes Laden: Besonders bei grösseren Flotten bringt die Reduktion der Leistungsspitzen, die beim gleichzeitigen Laden mehrerer Fahrzeuge entstehen, einen grossen finanziellen Vorteil, da solche Leistungsspitzen teuer vergütet werden müssen. Verteilnetzbetreiber berechnen bis zu 10 CHF pro kW der Monatshöchstlast.
Nutzen der Preisspanne auf dem Grosshandelsmarkt: Ein aggregiertes V2G-System könnte auch auf Energiegrosshandelsmärkten vermarktet oder durch bilaterale Verträge mit Bilanzgruppen-Managern gehandelt werden. Derzeit ist das Interesse an diesem Einsatzbereich für V2G begrenzt, da der Wert dieser Märkte im Vergleich zu den Systemdienstleistungen geringer ist.
Herausforderungen
Es fehlt noch eine klare Definition für mobile Batteriespeicher, was zu Rechtsunsicherheiten führen kann. Anbieter von V2X-Flexibilität und Batteriespeicher sind nicht von der Netznutzungsentgeltpflicht befreit, wenn Endverbraucher, wie Ladestationen oder Elektrofahrzeuge, im Spiel sind. Ebenfalls sind Betriebs- und Kapitalkosten von Speichern keine anrechenbaren Netzkosten im Sinne von Artikel 15 StromVG. Sie dürfen also nicht in die entsprechende Kostenrechnung aufgenommen werden. Die aus dem Verteilnetz bezogene, in der Batterie zwischengespeicherte und wieder aus der Batterie ins Netz eingespeiste Energie kann messtechnisch noch nicht eindeutig nach ihrer Herkunft differenziert werden.
Es bestehen noch hohe Eintrittsbarrieren zur Teilnahme am Regelenergiemarkt. Die Märkte für Lastspitzenkappung, Engpass-Management und Spannungsregelung existieren weitgehend noch nicht. Zudem sind die Kosten für ein bidirektional ausgelegtes Ladegerät immer noch wesentlich höher als für ein unidirektionales Gerät.
Um volkswirtschaftliche Mehrwerte in Form des durch bidirektionales Laden verminderten Netzausbaus realisieren zu können, ist eine wirtschaftliche Motivation der Verteilnetzbetreiber notwendig, bidirektionales Laden als Alternative zum konventionellen Netzausbau wahrzunehmen.
Vorteile für Netzbetreiber und Besitzer von Elektromobilen
Noch kann allerdings auch die volle Flexibilität von Elektrofahrzeugen nicht genutzt werden, da die Intelligenz in der Ladeinfrastruktur nicht serienmässig vorhanden ist. Dennoch dürfte Vehicle to Grid zu einem der grossen Themen der kommenden Jahre werden, da es sowohl für Netzbetreiber als auch für Besitzer eines Steckerfahrzeugs eine Win-win-Situation darstellt.
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