Europas Netz ist unter Druck
Herausforderungen
Schleppender Netzausbau, Gaskrise, Angst vor russischen Cyberangriffen – die Netzbetreiber in Europa haben es derzeit nicht einfach. Wie sicher ist die Stromversorgung und wie lässt sie sich verbessern?
Europa liegt im Dunkeln, alles steht still. Bislang ist dieses Szenario nur ein rein hypothetisches – beziehungsweise ein fiktionales wie im Roman «Blackout» von Marc Elsberg. In dem Thriller legt ein Hackerangriff die Stromversorgung lahm und stürzt Europa ins völlige Chaos. Tatsächlich sind die von Elsberg skizzierten Folgen eines Blackouts, darunter erheblicher Nahrungsmittel- und Medikamentenmangel, nicht weit von der Wirklichkeit entfernt: «Ein unkontrollierter Stromausfall von zwei Wochen hätte vermutlich verheerende Konsequenzen», bestätigt Professor Dirk Witthaut vom Institut für Energie und Klimaforschung am Forschungszentrum Jülich, Deutschland.
Die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem Blackout kommt, stuft der Fachmann für Versorgungsnetze jedoch als «vernachlässigbar gering» ein. Das europäische Stromnetz sei sehr robust und für Notfälle gebe es etliche Gegenmassnahmen, beruhigt er. Gleichwohl sind die Zeiten für die Stromversorger in Europa aus verschiedenen Gründen ungemütlicher geworden. So wurde etwa das ukrainische Stromnetz im März 2022, keine drei Wochen nach Kriegsbeginn, mit dem kontinentaleuropäischen verbunden. Das bedeutet: Störungen im ukrainischen Netz könnten sich nun auch auf den gesamten Netzverbund auswirken. Manche Fachleute fürchten hier – ähnlich wie im Roman von Elsberg – Hackerangriffe.
Zudem ist aufgrund des Kriegs die Versorgung mit russischem Gas nicht mehr sicher. In Deutschland zum Beispiel tragen die Gaskraftwerke einen nicht unerheblichen Anteil von rund einem Zehntel zum Strommix bei [1]. Viele Betreiber kämpfen darüber hinaus mit einem Netzausbau und -umbau, da der Strom vermehrt aus erneuerbaren Energien kommt. An vielen Stellen fehlt es an leistungsstarken Leitungen, die den Strom vom Erzeuger zum Verbraucher bringen. In Deutschland muss etwa die Energie der Offshore-Windkraftanlagen der Nordsee in den industriestarken Süden gelangen. Frankreich wiederum ist in erster Linie auf die Kernkraft als Stromversorger angewiesen. Etliche Werke stehen aber wegen Reparatur oder Überprüfungen momentan still. In den ungewöhnlich heissen Sommermonaten im Jahr 2022 mussten ausserdem einige Werke gedrosselt werden, weil die Flüsse, deren Wasser zur Kühlung dient, zu warm und zu trocken waren [2]. Der Klimawandel könnte dieses Problem verschärfen.
Die Schweiz als vergleichsweise kleines Land, in dem jetzt schon rund drei Viertel des Strommixes aus erneuerbaren Energien stammt [3], plagen weder die französischen noch die deutschen Energieversorgungsprobleme. Zwei Drittel der Gesamtmenge liefern hierzulande Wasserkraftwerke. «Das ist ein grosser Vorteil. Der Strom ist nachhaltig und durch die Stauseen flexibel», sagt Dr. Alexander Fuchs, Experte für Stromnetzsimulation und Beratungsingenieur an der Forschungsstelle Energienetze (FEN) der ETH Zürich. Allerdings könne diese Versorgung auch bei maximalem Ausbau die «Winterlücke» nicht komplett decken, so dass man in den Wintermonaten auf Importe angewiesen sei, so Fuchs. Obwohl die Wasserkraft weniger vom Wetter abhängig ist als etwa die Solar- und Windenergie.
Grössere Netzverbünde sind zuverlässiger
Aber wirken sich womöglich die Probleme anderer europäischer Netzbetreiber auch auf die Schweiz aus? Derzeit ist das Land über 41 grenzüberschreitende Leitungen mit dem europäischen Verbundnetz verknüpft [4]. «Solche Zusammenschlüsse sind für alle Beteiligten sehr vorteilhaft», stellt Fuchs klar. Grosse Netzverbünde sind besser gegen Stromausfälle geschützt, weil Überlastungen einzelner Leitungen durch andere Teile im Netzwerk kompensiert werden können. Anschaulich ausgedrückt, weicht der Strom einfach auf eine Route aus, die gerade frei ist. Ausserdem lassen sich Schwankungen in Produktion und Nachfrage in grösseren Netzwerken viel eher ausgleichen, weil sich die Staaten gegenseitig Strom liefern. «Die Schweiz ist zum Beispiel für die Winterlücke auf Importe angewiesen», sagt Fuchs. Ohne die Ankopplung an das europäische Stromnetz sei ein sicherer Betrieb daher kaum möglich. Und auch die Nachbarländer würden von der Eingliederung des Schweizer Netzes profitieren, sagt der Fachmann – etwa durch Transitflüsse zwischen Deutschland und Italien oder Stromexporte nach Frankreich.
Doch auch wenn die Vorteile deutlich überwiegen, ist das Schweizer Netz von der Stabilität der umliegenden Systeme abhängig: «Kommt es an einer Stelle zu Stromausfällen, kann ein Dominoeffekt eintreten, der grosse Teile des gesamten Stromnetzes in Mitleidenschaft zieht», sagt Witthaut. 2006 ereignete sich zum Beispiel in Europa einer der grössten Stromausfälle der Geschichte, bei dem Teile Deutschlands, Belgiens, Frankreichs, Österreichs und Spaniens bis zu zwei Stunden ohne Strom waren. Ausgangspunkt war eine schlecht vorbereitete Abschaltung einer grossen Stromtrasse in Norddeutschland. Mangelnde Kommunikation führte dazu, dass die anderen Netzanbieter ihre Stromerzeugungs- und Netzkapazitäten nicht an die veränderten Bedingungen angepasst hatten. Immer mehr Stromleitungen und Netze wurden wegen Überlastung notabgeschaltet – eine automatisch ablaufende Kettenreaktion, mit der die computergesteuerten Regelsysteme die Netze wieder ins Gleichgewicht bringen wollten.
«Damit das Netz stabil ist, muss die erzeugte Strommenge immer die Nachfrage decken», erklärt Witthaut. Nur so wird garantiert, dass alle Generatoren synchron mit einer gemeinsamen Spannungsfrequenz laufen; die Frequenz ist daher ein Indikator für das Gleichgewicht des Stroms im Netz: Sie sinkt bei Knappheit und steigt bei einem Überangebot. Dieser Parameter ist damit die wichtigste Beobachtungsgrösse, um ein Stromnetz zu steuern und zu stabilisieren. «Üblicherweise wird die Erzeugung auf Grundlage von Vorhersagen zum Verbrauch an den Strommärkten koordiniert und die Mengen entsprechend zur Verfügung gestellt», erklärt Witthaut. Die Netzbetreiber nutzen dazu Simulationen, die den Bedarf bereits einige Tage im Voraus prognostizieren. Entsprechend passen sie dann die Stromerzeugung an – etwa indem sie Kraftwerke herauf- beziehungsweise herunterfahren. Dafür brauchen sie aber immer etwas Vorlaufzeit.
Wegen etwaiger Strommangellagen im Zuge der Gasknappheit macht sich Witthaut aber keine Sorgen: «Ein Blick in die Geschichte der grösseren Stromausfälle zeigt, dass die Gründe für einen Blackout nie ein absehbarer Mangel an Strom waren.» Allerdings sei die Wahrscheinlichkeit für kontrollierte und lokal beschränkte Stromabschaltungen durch die Netzbetreiber durchaus höher als noch in den letzten Jahren. Diesen Winter habe aber das bislang milde Wetter dafür gesorgt, dass solche Notfallmassnahmen nicht eingesetzt werden mussten.
Von kontrollierten Abschaltungen wären aber ohnehin zunächst nur bestimmte Industriezweige betroffen, die dafür dann finanziell entschädigt werden. Kritische Infrastrukturen wie Gesundheitsversorgung, Verkehr und Nahrungsmittelketten würden als Allerletztes vom Netz genommen werden. Gleiches gilt für Privathaushalte. Da in Frankreich immer mal wieder ein Strommangel herrscht, ist die Industrie dort routinemässig öfter von solchen kontrollierten Abschaltungen betroffen. «Auch in der Schweiz werden drohende Engpässe ernst genommen und mit einer Vielzahl an potenziellen Massnahmen adressiert», sagt Fuchs. Dazu gehören laut dem Eidgenössischen Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek) etwa die Schaffung von Reserven, der Ausbau der erneuerbaren Energien oder Stromsparmassnahmen. Eine kontrollierte Netzabschaltung für einige Stunden ist in den Plänen der Uvek nur das allerletzte Mittel [5].
Was die Netzsicherheit gefährden könnte
Macht nun die Integration des ukrainischen Stromnetzes, das auch das moldauische umfasst, das europäische System anfälliger? In einer Publikation im Fachmagazin «Energy Advances» [6] skizzieren Witthaut und seine Kollegen, wie sich diese Massnahme laut ihren Analysen auf die Stabilität des kontinentaleuropäischen Netzverbunds ausgewirkt hat. Zwar stellten die Wissenschaftler fest, dass die Zusammenführung etwa zu veränderten Stromflüssen und einer Zunahme der Stromschwankungen geführt hat. Gleichwohl seien diese Veränderungen so gering, dass das erweiterte System als genauso stabil angesehen werden könne wie vor der Kopplung, schreiben sie.
Anders könnte das aber laut Witthaut aussehen, wenn grosse Teile der Stromerzeugung in der Ukraine durch einen Cyberangriff seitens Russlands lahmgelegt werden würden. «Importieren wir gleichzeitig grosse Mengen an Strom von dort, könnte das bei uns einen Blackout auslösen.» Doch bislang ist das ukrainische Netz nur durch wenige Leitungen an das europäische angekoppelt und der gegenseitige Stromaustausch fällt noch gering aus. Im Notfall würde daher das ukrainische Netz einfach wieder komplett abgetrennt werden – und die Stabilität des ursprünglichen kontinentaleuropäischen Netzes wäre voraussichtlich schnell wieder hergestellt.
Witthaut sieht hingegen ein anderes Problem für die Zuverlässigkeit und Stabilität der Stromnetze: Gesetze, Regulationen und Märkte. Auf dem europäischen Strommarkt wird die Energie in Zeitblöcken gehandelt – typischerweise in 1-Stunden sowie 15-Minuten-Blöcken. In diesem Zeitraum muss der Versorger eine bestimmte Menge an Strom liefern. Um die vereinbarte Menge zu erreichen, wird also die Leistung zu Beginn eines Blocks hochgefahren, am Ende wieder schlagartig heruntergefahren. «Wir sehen in den Frequenzdaten deutlich die Fingerabdrücke von solchen gesetzlichen Regelungen zum Stromhandel», sagt Witthaut.
Die sprunghaften Rampen im Erzeugernetz passen aber nicht zum Verbrauch der rund 300 Millionen Menschen im europäischen Stromnetz. Dieser ändert sich nämlich nur sehr langsam, weshalb es immer wieder zu einem Ungleichgewicht zwischen Erzeugung und Verbrauch kommt, das sich negativ auf die Frequenzstabilität auswirkt. Für Witthaut ist das «die treibende Kraft hinter Frequenzstabilitätsproblemen».
Abgesehen davon hält aber auch die Energiewende genügend Herausforderungen für die Stromnetze bereit. «In Deutschland brauchen wir dringend mehr Übertragungskapazitäten, um den Windstrom aus dem Norden zu den industriellen Verbrauchern im Süden zu bringen», sagt Witthaut. Auch Fuchs wirbt für einen Ausbau des Schweizer Netzes. Zudem brauche es flexiblere Produktionsanlagen sowie bessere Regel- und Steuerungstechniken, die den Verbrauch besser mit der Erzeugung abstimmen. Insgesamt sei aber das europäische Stromnetz vergleichsweise gut für die Herausforderungen der Zukunft gewappnet, so die Experten. Ein wochenlanger Blackout ist also weiterhin nur eine Fiktion.
Referenzen | Réferences
[1] destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/03/PD22_116_43312.html
[3] admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-84908.html
[4] energie-experten.ch/de/wissen/detail/stromversorgungssicherheit-in-der-schweiz-ein-ueberblick.html
[5] www.uvek.admin.ch/uvek/de/home/energie/energieversorgungssicherheit-ukraine-krieg.html
[6] pubs.rsc.org/en/content/articlelanding/2023/YA/D2YA00150K
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