Es gibt immer weniger Elektroingenieure FH
Liegt es am Rückgang der Elektroniker-Lehrstellen?
Auf dem letztjährigen Schweizer Fachkräftemangel-Index von Adecco stehen die Ingenieure an oberster Stelle. Trotzdem beginnen an den Fachhochschulen immer weniger ein Elektrotechnik-Studium. 2016 waren es gemäss dem Dashboard von ingch.ch 413 Studieneintritte, 2020 nur noch 353. Woran liegt das?
Sebastian Gaulocher, Studiengangleiter Elektro- und Informationstechnik an der FHNW in Brugg-Windisch hat den Rückgang in den vergangenen Jahren hautnah miterlebt: «Von 2019 auf 2020 hatten wir einen Einbruch von 52 auf 38 Elektrotechnikstudenten. 2021 haben 36 angefangen.» Es gebe in der Nordwestschweiz einige grössere Firmen, die keine Elektronik-Lernende mehr ausbilden würden. Die Berufsschule in Solothurn (GIBS) hat mit der Ausbildung ganz aufgehört – die Elektroniker gehen nun nach Bern. Sie wären eine wichtige Basis fürs Elektrotechnik-Studium an den Fachhochschulen. Auch die Fachhochschule Ost in Rapperswil erlebte einen Rückgang bei der Elektrotechnik: Bis 2018 waren es rund 70 Studieneintritte, seit 2019 sind es noch rund 50.
Neue Bachelor-Studiengänge
Im Gespräch mit Sebastian Gaulocher kristallisieren sich weitere Gründe heraus, warum die Anzahl Studierender zurückgeht: Die Fachhochschulen bieten im selben Bereich spezialisierte Studiengänge an. Wer früher Elektrotechnik studiert hat, kann heute Energie- und Umwelttechnik, Data Science, Digital Engineering, Verkehrstechnik, Mobile Robotics oder Systemtechnik studieren und sich bereits im Bachelor-Studiengang in einem Bereich spezialisieren. Klassische Studiengänge wie Elektrotechnik oder Maschinenbau verzeichnen einen Rückgang.
Gaulocher vermutet zudem, dass ein Jugendlicher, der gut in der Schule ist und früher eine Elektronikerlehre gemacht hätte, heute eher ans Gymi geht und später an der ETH studiert. Die Elektroniker-Lehre gilt als eine anspruchsvolle Lehre. An den ETH bleiben die Zahlen konstant oder steigen sogar an: Bei der Elektrotechnik von 259 (2015) auf 263 (2020), im Maschinenbau von 663 (2015) auf 703 (2020) (Tabelle 1). Es gibt an den ETH aber auch keine spezialisierten Ingenieurstudiengänge.
Rückgang von 2015 auf 2016
An dieser Stelle der Blick in die MEM-Industrie: Gibt es tatsächlich weniger Elektroniker-Lernende und warum ist das so? Thomas Schumacher, Leiter Berufs bildung bei Swissmem, bestätigt den Rückgang, wobei die Zahlen in den letzten vier bis fünf Jahren relativ stabil seien, bei rund 430 Lernenden pro Jahr schweizweit. Einen starken Rückgang gab es von 2015 auf 2016: Die Eintritte in den Elektroniker-Beruf sanken in dieser Zeit von 555 auf 481 (Tabelle 2). Dies würde den Rückgang vier Jahre später an den Fachhochschulen erklären – die Zeit, die eine Elektroniker-Lehre dauert.
Schumacher sieht, dass einige Ausbildungsbetriebe die Anzahl Lernende reduzieren oder keine mehr ausbilden, weil sie über keine für Elektroniker geeignete Arbeit mehr verfügen. «Heute werden die meisten Komponenten zugekauft. Die Elektronik-Entwicklung hat sich verändert.» Es sei aber auch schwierig, geeignete Kandidaten zu finden: «Das Niveau der Elektroniker-Lehre ist hoch und das Gymnasium attraktiv. Insbesondere zugewanderte Familien, die unser Bildungssystem und den Wert der Berufslehre nicht kennen, schicken ihre Kinder eher aufs Gymnasium.»
Elektronik wird nicht mehr repariert
Peter Dinkel, Berufsinspektor im Kanton Zürich für die MEM-Berufe, bringt einen neuen Gedanken ein: «Früher gab es in den Firmen viele Arbeitsplätze für Elektroniker, an denen Leiterplatten repariert wurden. Heute wird die Elektronik kaum mehr repariert.» Auch an den Bestückungsautomaten brauche es nicht zwingend ausgebildete Elektroniker, da arbeite oft angelerntes Personal. Wo noch etwas von Hand gelötet werde, seien es oft Asiatinnen, welche die filigrane Arbeit machen würden.
«Im Kanton Zürich hatten wir 2009 noch 80 Lernende im Beruf Elektroniker, jetzt sind es rund 60», sagt Dinkel. «Die Firmen fahren die Ausbildung runter.» Er sieht zwar immer wieder mal neue Firmen, aber diese würden kaum Ausbildungsplätze anbieten. Sie würden sich auf die Entwicklung beschränken und nur fertig ausgebildete Ingenieure anstellen. Es gebe Unternehmen, die gerne Lernende ausbilden würden, aber keine geeignete Arbeit hätten. «Im High-End-Bereich sind die Elektronik und die verwendeten Komponenten zu anspruchsvoll für eine Grundausbildung», sagt Dinkel. «Es gibt Start-up-Firmen, die machen fantastische Sachen, aber sie planen sehr kurzlebig, das ist kein Nährboden für eine Lehre. Ein Lernender braucht Sicherheit und eine gewisse Konstanz für vier Jahre.»
Lernzentren übernehmen Grundausbildung
Die schnelllebige Wirtschaft und Firmen, die in anspruchsvollen Gebieten tätig sind oder nicht über die erforderliche Ausbildungsvielfalt verfügen, passen also nicht zur Berufsbildung, die auf Tradition fusst. Trotzdem sieht Dinkel einen Ausweg: Lernzentren wie die weiter unten erwähnte Libs und Lehrbetriebsverbunde. Im ersten und zweiten Lehrjahr lernen die Jugendlichen in der Basisausbildung die Grundlagen zu den elektronischen Bauteilen, den Messgeräten und der Mikrocontroller-Programmierung. Im dritten und vierten Lehrjahr vertiefen sie dann ihr Wissen in einem Partnerbetrieb in der sogenannten Schwerpunktausbildung. Diese ergänzt das Basiswissen mit dem Spezial-Know-how der Firma. Wertvolle Praxis in unterschiedlichen Gebieten kann so bereits während der Lehre gesammelt werden.
Der Vorteil ist, dass die Betriebe nicht das ganze Spektrum der Ausbildung abdecken müssen. Der Lehrvertrag läuft über das Lernzentrum oder den Leitbetrieb. Das Set-up entlastet die Firmen und gibt den Lernenden Sicherheit, auch wenn sie in kleineren Start-ups arbeiten.
Üblich in der Westschweiz
In der Westschweiz haben sich laut Thomas Schumacher von Swissmem nebst der dualen Berufsbildung die Écoles des Métiers etabliert. In Lausanne lassen sich dort jedes Jahr rund 870 Jugendliche ausbilden als Polymechaniker, Automatiker, Informatiker oder eben auch Elektroniker. Im Anschluss gehen die fertig ausgebildeten Elektroniker meist direkt an die Fachhochschule.
Dasselbe an der MSW in Winterthur: Das Lernzentrum setzt den Schwerpunkt in den theoretischen Fächern und geht davon aus, dass die meisten der rund 180 Lernenden im Anschluss an der ZHAW ein Studium beginnen. Die MSW wurde 1889 als damalige «Metalli» gegründet, weil es in Winterthur an gut ausgebildeten Metallarbeitern fehlte. Auch die École des Métiers in Lausanne wurde bereits 1916 gegründet, seit 1957 gibt es dort die Ausbildung zum Elektroniker.
Blick in zwei konkrete Firmen
Wie unterschiedlich die Situation für Elektroniker-Lehrstellen je nach Branche ist, zeigt der Blick in die beiden Firmen Hamilton und Müller Martini. Hamilton bewegt sich in der wachsenden Life-Science-Branche, während Müller Martini als Hersteller von Maschinen für die Printbranche in einem schrumpfenden Markt steckt.
Müller Martini hat bis 2020 jährlich zwei Elektroniker-Lehrlinge eingestellt, die unter anderem in der Tochterfirma Müller Martini Electronic AG gearbeitet haben. Die Tochterfirma hat für den Konzern die Elektronikkomponenten hergestellt, erklärt Christa Leuenberger, Leiterin HR bei Müller Martini. Das Volumen des Maschinengeschäfts sei in der Printindustrie aber so stark gesunken, dass es sich nicht mehr lohne, eigene Elektronik herzustellen. Heute werden die Komponenten zugekauft, und die Tochterfirma wurde in die Mutterfirma integriert.
Automatiker statt Elektroniker
Müller Martini bildet aber nach wie vor Lernende aus, beispielsweise Automatiker und Konstrukteure. «Wir stellen jedes Jahr 3 bis 4 Automatiker-Lehrlinge und 3 bis 4 Konstrukteure ein», so Leuenberger. Dass Jugendliche heute weniger mitbringen – ein oft geäusserter Vorwurf – findet sie nicht. Ob die Schüler eher in eine Stifti oder ans Gymnasium gehen, läge mehr an den Eltern und den Lehrpersonen der Schulklassen: «Die einen versuchen, die Jugendlichen Richtung Gymnasium und Studium zu schicken, andere kommen mit den Klassen bei uns vorbei und sind gegenüber der Berufslehre aufgeschlossen.»
Es sei auch nicht so, dass sie nur die besten Schüler nähmen: «Wir suchen eine gute Durchmischung. Je nachdem entwickelt sich dann ein Automatiker eher Richtung Montage oder Engineering. Wir brauchen beides in unserer Firma.» In der Entwicklung stellen sie eher Fachhochschul-Ingenieure ein, erklärt Leuenberger. «Wir arbeiten praxisorientiert und sind wenig innovationsgetrieben. Wir haben gerne Leute, die zuerst eine Stifti gemacht und nachher studiert haben. Das passt zu uns. Es darf auch gerne jemand von der Höheren Fachschule sein. Entscheidend ist der Lernwille.»
Die Bildungslandschaft inklusive neuen, spezialisierten Studiengänge an den Fachhochschulen findet Leuenberger eher unübersichtlich. «Bei uns brauchen wir keine Spezialisten, sondern vermehrt Leute, die wir polyvalent einsetzen können.» Müller Martini muss mit knappen Ressourcen auskommen, die Leute sollen breit eingesetzt werden können.
Life Science sucht Fachkräfte
In einem wirtschaftlich deutlich besseren Umfeld bewegt sich die Firma Hamilton mit Sitz in Bonaduz und Domat/Ems im Bündnerland. Sie stellt Pipettierroboter, Sensoren und Probenverwaltungsautomaten für die Life-Science-Branche her. Hamilton bewegt sich in einem innovativen Umfeld und greift gerne auf die spezialisierten Studiengänge wie Mobile Robotics oder Photonics der Fachhochschule Graubünden zurück. «Wir brauchen aber auch Generalistinnen und Generalisten, beispielsweise im Produktmanagement», sagt Nina Panzer, Berufsbildungsverantwortliche bei Hamilton Bonaduz. «Wir suchen eine gute Durchmischung. Nicht nur bei den Ingenieurinnen und Ingenieuren, sondern auch bei den Lernenden. Nicht jeder Lernende muss die BMS machen. Wir brauchen auch Elektroniker, die bei uns in der Firma bleiben.»
Natürlich freut sie sich über ehemalige Lernende, die an der Fachhochschule studieren und zurück in die Firma kommen: «Gute Ingenieurinnen und Ingenieure zu finden, ist nicht immer einfach.» Für die Entwicklung finde man recht gut neue Mitarbeitende, aber fürs Produkt-Management sei es schwieriger. «Ingenieure wollen neue Dinge entwickeln», so Panzer. Bei den Entwicklerinnen und Entwicklern würden sie eine gute Durchmischung von ETH- und FH-Ingenieuren anstreben. «Das ist das Schöne an unserem Bildungssystem, dass wir in der Schweiz Ingenieure mit verschiedenen Hintergründen haben.»
Die Elektroniker-Lehrstellen hat Hamilton Bonaduz gerade von zwei auf drei pro Jahr erhöht. «Wir brauchen die Fachkräfte», sagt Panzer. Die Elektroniker-Lehre sei anspruchsvoll, aber die Firma könne die Stellen mit geeigneten Jugendlichen besetzen. «Bei uns im Graubünden ist der Trend ins Gymi nicht so stark wie in Zürich oder Bern.» Dafür gebe es einen starken Trend Richtung Informatik bei den Jugendlichen.
Trendberuf Informatik
«Informatiker ist ein gefragter Beruf mit viel Potenzial», bestätigt Philipp Zimmermann, Ausbildungsverantwortlicher beim Ausbildungsverbund Libs in Baden. «Viele Jugendliche wollen am Computer arbeiten und sehen oft nur die guten Löhne.» Aber die Informatiker-Lehre mit objektorientierter Programmierung sei anspruchsvoll, da eigne sich nicht jeder, sagt Zimmermann.
Libs entstand aus den ABB-Lernzentren und besteht heute aus den Kernmitgliedern ABB, Hitachi Energy, General Electric und Alstom in der Region Baden und Zürich, sowie Leica Geosystems in Heerbrugg. Gesamthaft sind es inzwischen über 120 Firmen wie Zweifel Pomy-Chips, Givaudan, Electrolux und Honeywell, die mit Libs zusammenarbeiten. «Ich kenne jede Elektroniker-Lehrstelle im Aargau», sagt Zimmermann. Noch vor 5 bis 6 Jahren hätte es im Aargau 25 Elektroniker-Lehrstellen gegeben, nun seien es ungefähr 20.
Einige Firmen hätten ganz aufgehört auszubilden, weil keine Hardware mehr entwickelt oder repariert werde. Die Systeme würden eingekauft. Bei grossen Übernahmen wie der Energie-Sparte von ABB durch Hitachi werde die Lehrlingsausbildung meist übernommen und weitergeführt. Allerdings gibt es auch Firmen wie Enics in Turgi, die im März 2021 angekündigt hat, die Produktion ins Ausland zu verlagern, was 125 Arbeitsplätze und neun Lernende aus verschiedenen Berufen betrifft. «Solche Umstrukturierungen treffen alle in einer Firma», sagt Zimmermann. Die Digitalisierung und der Trend, Komponenten und ganze Systeme einzukaufen, würden aber auf der anderen Seite den Bedarf an Automatikern und Informatikern steigern, sagt Zimmermann. Es gäbe also auch Berufe, die von dieser Verlagerung profitieren.
Reform der technischen Berufe
Auf den Sommer 2024 wird die Elektroniker-Lehre zusammen mit sieben weiteren technischen Berufen reformiert. Das Projekt Futuremem (www.futuremem.swiss) von Swissmem hat für Elektroniker ein Ziel: Weg von der Produktion, näher an die Entwicklung von Hard- und Software. Schwerpunkte werden elektrische Schaltungen, die Prototypen-Fertigung, die Fehlersuche und das Programmieren von Mikrocontrollern sein. Beat Müggler, Verantwortlicher für die Berufsentwicklung Elektroniker bei Swissmem, arbeitet zurzeit mit Arbeitsgruppen die künftigen Kompetenzen und Lernziele der Elektroniker aus.
Wichtige Kompetenzen werden in Zukunft das Programmieren von Mikrocontrollern und das Vernetzen von Hardware-Komponenten sein. «Informatiker können das nicht», sagt Müggler. Der Studiengang Elektro- und Informationstechnik der FHNW bietet seit Herbst 2021 ein Vertiefungsprofil «Embedded Systems Design» an. Das Informatikstudium sei im Trend, aber dort würden Webapplikationen, Apps und User Interfaces im Vordergrund stehen, sagt Sebastian Gaulocher. «Wer nahe an der Hardware programmieren will, studiert besser Elektrotechnik.»
Thomas Schumacher von Swissmem will in Zukunft gezielt Werbung für die Elektroniker-Lehre und die Berufsbildung machen: «Die Elektrotechnik ist wenig publikumswirksam. Wir müssen uns zeigen. Und den Mehrwert der beruflichen Grundausbildung herausheben. Unser duales Berufsbildungssystem mit Lehre – und z. B. einer Berufsmatur – hat sich bewährt und gilt im Ausland als beispielhaft.» Dem Druck Richtung Gymnasium will er entgegenwirken und die Attraktivität der technischen Berufe aufzeigen: «Elektroniker werden mit Blick auf Industrie 4.0 und die Digitalisierung weiterhin benötigt. Zusammen mit den Automatikern und Informatikern stellen sie sicher, dass die Unternehmen komplexe Lösungen entwickeln und sich am Markt einen Wettbewerbsvorteil erarbeiten können.»
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