Erdung mit Tulpenkontakten
Leistungsschalter für Kraftwerke
Ingenieure der ABB nutzen Multiphysik-Simulationen, um die Zuverlässigkeit und Lebensdauer von Leistungsschaltern zu optimieren, die Kraftwerke auf der ganzen Welt schützen und so eine zuverlässige Stromversorgung garantieren.
Elektrizität und damit Kraftwerke sind gewissermassen das Rückgrat der modernen Gesellschaft. Bei Systemen, die von so zentraler Bedeutung sind, ist der Schutz vor Ausfallzeiten entscheidend. Ob Atom-, Kohle- oder Wasserkraftwerke – alle haben eine Schlüsselkomponente gemeinsam, die ihren Betrieb sichern hilft: Generatorleistungsschalter (GLS).
In einer Welt, in der schon kurze Ausfallzeiten Millionen kosten können, schützen GLS (Bild 1) Kraftwerke durch das Abschalten potenziell schädlicher Kurzschlussfehlerströme. Innerhalb von einigen Millisekunden können sie verhindern, dass wichtige Anlagen durch fehlerhafte Verkabelung oder Netzprobleme schwer beschädigt werden. In der Schweiz produziert ABB solche Schalter mit einer Lebensdauer von mindestens 30 Jahren zur Absicherung von Kraftwerken auf der ganzen Welt.
Die Herausforderung beim Umgang mit Kurzschlüssen besteht darin, dass sie sowohl auf Netzseite als auch auf Generatorseite vorkommen können. Deshalb müssen Generatorleistungsschalter zuverlässig genug sein, um nach einer langen Ruhepause im entscheidenden Moment einwandfrei zu funktionieren. Gewöhnlich ist der Leistungsschalter geschlossen und ein niederohmiger Teil des Stromkreises, der den Generator mit dem Transformator verbindet und die elektrische Energie in das Netz einspeist. Im Ernstfall muss der Schalter jedoch in der Lage sein, Ströme zu unterbrechen, die um ein Vielfaches grösser sind als die normalen Betriebsströme, ohne dabei andere Komponenten zu beschädigen.
Erdung durch Tulpenkontakte
Francesco Agostini, Alberto Zanetti und Jean-Claude Mauroux, Ingenieure bei ABB, entwickeln die Generatorschalter kontinuierlich weiter. Bei der Weiter- oder Neuentwicklung von GLS müssen umfangreiche Normen eingehalten werden. Solche Normen gelten auch für die Erdungsschalter (Bild 2), einer wichtigen Sicherheitskomponente im Leistungsschaltersystem. «Die Aufgabe eines Erdungsschalters besteht darin, unter Spannung stehende Teile eines Systems elektrisch mit dem Erdpotenzial zu verbinden», erklärt Mauroux. «Sie werden zum Schutz des Personals bei der Arbeit an Betriebsmitteln eingesetzt und müssen daher auch unter widrigen klimatischen Bedingungen sehr zuverlässig und sicher sein.»
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Ein bewährtes Design, das ABB für seine Erdungsschalter verwendet, ist die sogenannte Tulpenkonfiguration. Diese Konstruktion verwendet versilberte Kontaktfinger, die jeweils oben und unten kreisförmig um einen beweglichen Kontaktstift angeordnet und durch Federn angedrückt sind (Bild 3). Der geschlossene Erdungsschalter muss zum einen die unter Umständen sehr grossen Kurzschlussströme tragen und zum anderen den grossen elektrodynamischen Kräften, die diese Ströme verursachen, widerstehen können.
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Das Hauptaugenmerk bei einem Erdungsschalter liegt somit auf der Strombelastbarkeit. Um die komplexen Auswirkungen der Kräfte auf das Kontaktsystem zu verstehen, benötigten die Entwicklungsingenieure die Unterstützung von Multiphysik-Simulationen. Damit können die Kräfte berechnet werden, die sich aus der Federkraft und den elektromagnetischen Lorentzkräften ergeben. Mit der Software Comsol Multiphysics konstruierten sie ein Modell des Tulpenkontakts eines Erdungsschalters, um das gekoppelte elektromechanische Verhalten zu simulieren.
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Kontaktfinger, Federn und Feldkräfte
Es gibt zwei Wirkungen der elektromagnetischen Kräfte auf die Finger eines Tulpenkontakts: Einerseits wirken sogenannte Holm-Kräfte, die von den elektrischen Kontaktpunkten herrühren, abstossend. Andererseits wirkt die Lorentzkraft auf stromführende Leiter in Magnetfeldern anziehend. Durch das Design muss nun sichergestellt werden, dass die resultierende Kraft anziehend auf die Finger wirkt, sie also an den Kontaktstift gedrückt werden.
Eine Abstossung der Finger würde zu einer geringeren Kontaktkraft und damit zu einem erheblich höheren Kontaktwiderstand oder möglicherweise gar zu einer Kontakttrennung führen. Ein erhöhter Kontaktwiderstand ergibt höhere Verluste, die zu einer Temperaturerhöhung führen, die unter Umständen zur Beschädigung oder gar Zerstörung der Kontakte durch Verschweissen führen kann. Deshalb muss die Kontaktkraft ausreichend gross sein. Der Tulpenkontakt ist eine intrinsische Lösung, bei der die Kontaktkraft durch die Lorentzkräfte bei höheren Strömen automatisch erhöht wird. Das spezielle Tulpendesign stellt also sicher, dass abstossende elektromagnetische Kräfte überkompensiert werden und ein Verschweissen der Kontakte erst bei hinreichend grossen Strömen auftritt.
«Ein Merkmal des Tulpendesigns ist es, dass die Kontaktfinger zusätzlich mit flachen Federn versehen sind, die zusätzlichen Druck auf die Finger ausüben», sagt Mauroux. «Das erhöht die Kontaktkräfte und trägt dazu bei, dass noch höheren Strömen ohne Verschweissung standgehalten werden kann.»
Um die Gesamtkraft auf die Kontakte zu bewerten, müssen mehrere physikalische Effekte gekoppelt berechnet werden: Der durch jeden Finger fliessende elektrische Strom erzeugt ein Magnetfeld und jedes Magnetfeld erzeugt wiederum Kräfte auf jeden anderen stromdurchflossenen Kontaktfinger.
Das Team nutzte Multiphysik-Simulationen, um die Kräfte auf verschiedene Arten zu berechnen. Dies verlieh den Berechnungen, die anhand von Experimenten validiert wurden, zusätzliche Robustheit und Glaubwürdigkeit. Um ihr Modell zu vereinfachen und den Rechenaufwand zu verringern, konnten dabei Symmetrien des Systems ausgenutzt werden. Durch die Modellierung eines einzelnen Fingers (Bilder 5 und 6) konnte das Verhalten der gesamten Tulpe mit nur ⅛ des Berechnungsaufwandes vorhergesagt werden. Berechnungen mit dem Maxwell-Spannungstensor bestätigten die Ergebnisse der Lorentz-Kraftberechnungen: Die Anziehungskräfte dominieren die abstossenden Holm-Kräfte und die Tulpenkonfiguration verhindert eine Kontakttrennung. Aus der berechneten Gesamtkraft konnte dann ein theoretischer Schweissstromwert berechnet werden, der die grössere Stromtragfähigkeit ohne Verschweissungsgefahr bestätigte.
Simulation und Experiment in Übereinstimmung
Nach Abschluss der Simulationen musste das resultierende Design zahlreichen Tests unterzogen werden, darunter dielektrischen Tests zum Schutz vor elektrischen Überschlägen, mechanischen Dauertests und Betriebstemperaturtests. Schliesslich und vielleicht am wichtigsten war der Stoss- und Kurzzeitstromtest in den Kema-Labors im niederländischen Arnhem, bei dem die theoretischen Stromwerte experimentell überprüft werden mussten, um die Einhaltung der einschlägigen IEC-Normen zu zeigen. In einer empirischen Untersuchung wurde ein theoretischer Stromwert ermittelt, dem der Erdungsschalter unter kraftwerksähnlichen Bedingungen ausgesetzt sein könnte. Für die Zertifizierung muss der Schalter Spitzenströmen von mehr als 500 kA widerstehen können. «Wir haben die Typprüfungen mit ausreichender Sicherheit bestanden und konnten ausserdem demonstrieren, wie gut Simulation und Experiment übereinstimmen. Comsol ist ein gutes Werkzeug, um Simulationen und empirische Tests zu kombinieren», sagt Agostini. «Die intuitive Benutzeroberfläche half uns, viele verschiedene physikalische Effekte auf strukturierte und kontrollierte Weise in die Simulation einzubeziehen.»
Ein komplettes elektrothermisch-mechanisches Modell
Ziel des Teams war es letztlich, ein vollständiges elektrothermisch-mechanisches Modell zu erstellen, um komplexere Konstruktionen zu simulieren und ein umfassendes Verständnis der gesamten in den Erdungsschaltern ablaufenden Physik zu erlangen. Darüber hinaus ist eine sorgfältige Analyse der physikalischen und chemischen Prozesse hinter dem Kontaktschweissmechanismus geplant, an der sie in Zukunft arbeiten werden. «Die ständige Weiterentwicklung der Materialauswahl und -modifikation ist von grundlegender Bedeutung für die Verbesserung der Zuverlässigkeit und Leistung unserer Produkte», sagt Mauroux.
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