Energiewende-Check für Verteilnetze
Analyse
Damit sich Verteilnetzbetreiber rechtzeitig auf die Energiewende vorbereiten können, muss überprüft werden, welche Auswirkungen die Veränderungen auf ihr Netz haben. In einem Forschungsprojekt wurde ein Analyse-Ansatz entwickelt, mit dem die technischen Konsequenzen der Energiewende für Verteilnetze effizient und aussagekräftig ermittelt werden können.
Für viele Verteilnetzbetreiber ist die Frage noch nicht beantwortet, wie sich die Verhältnisse in ihrem Netz durch die Umsetzung der Energiestrategie ändern werden. Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellen, sind beispielsweise:
- Wie stark ist ein bestimmtes Verteilnetzgebiet von den Entwicklungen betroffen? Wie viel zusätzliche PV-Anlagen, Wärmepumpen und Elektrofahrzeuge sind zu erwarten?
- Welche davon unabhängigen Entwicklungen sind im Netzgebiet zu erwarten, beispielsweise Zuwachs an Anschlussnehmern?
- Wie wirken sich diese Entwicklungen auf die Netzinfrastruktur aus? Welche Ströme, Spannungen und Leistungen werden im Netz auftreten und wie stark werden die Betriebsmittel dadurch belastet?
Diese Fragen lassen sich beantworten, indem für verschiedene Szenarien Lastflussanalysen durchgeführt werden. In einem Forschungsprojekt hat deshalb das Institut für Elektrische Energietechnik der FHNW gemeinsam mit Siemens Schweiz AG und der Arbon Energie AG einen Analyse-Ansatz entwickelt, mit dem die technischen Konsequenzen der Energiewende für ein Verteilnetz effizient und aussagekräftig aufgezeigt werden können.
Doch viele Verteilnetze stehen damit vor folgenden Herausforderungen:
- Die technischen Parameter der Verteilnetze (z.B. genaue Leitungsdaten) und der Netzzustand (Spannungen und Ströme) sind in den meisten Fällen nur teilweise bzw. punktuell bekannt.
- Aufgrund des oft noch nicht fertig umgesetzten Smart-Meter-Rollouts fehlen gemessene Lastprofile. Das genaue zeitliche Verbrauchsverhalten der Endkunden ist nicht bekannt.
- Es ist auch nicht bekannt, wie sich die Veränderungen im Rahmen der Energiewende konkret auf ein bestimmtes Verteilnetzgebiet auswirken werden, wo und wann wie viel Leistung hinzukommt oder wegfällt.
Zur ersten Herausforderung: Es führt kein Weg daran vorbei, aus den Unterlagen ein Netzmodell für Lastflussrechnungen zu erstellen. Mit geeigneter Software kann dies heute effizienter als bisher erledigt werden. Ein digitales Netzmodell ist nicht nur für die Analyse von Szenarien nötig, es ist auch eine Investition in die Zukunft. Auf Basis eines solchen Modells können beispielsweise Anschlussgesuche professionell bearbeitet werden, und die Netzplanung kann von genauen Analysen profitieren.
Zur zweiten Herausforderung: Hier haben jene Verteilnetzbetreiber einen grossen Vorteil, die bereits über ein flächendeckendes Smart Metering verfügen. Mittlerweile gibt es auch die Möglichkeit, mit synthetisch generierten Lastprofilen zu arbeiten, falls keine Smart-Meter-Daten vorliegen. Die Ergebnisse sind aber weniger belastbar, wenn mit solchen Ersatzdaten gearbeitet wird. Zudem bedeutet die Erstellung der synthetischen Lastgänge einen gewissen Zusatzaufwand, und es sind Daten zum Gebäudepark und weitere Angaben zu den Endkunden nötig.
Zur dritten Herausforderung müssen Szenarien der Ebene Bund auf das konkrete Netzgebiet heruntergebrochen werden. Grundsätzlich verfügen die Verteilnetzbetreiber über Informationen über den bisherigen Zubau von Wärmepumpen, PV-Anlagen und Elektroladestationen, denn die Installation solcher Anlagen muss dem Netzbetreiber gemeldet bzw. vom Netzbetreiber genehmigt werden. Angaben zur Immatrikulation von Elektrofahrzeugen sind bei den lokalen Behörden vorhanden. Darauf basierend können die nationalen Zahlen auf eine Netzregion übertragen werden. Dies erfolgt mit Algorithmen, die neue Wärmepumpen, PV-Anlagen und Ladestationen auf realistische Weise örtlich und in dem zu erwartenden Tempo im Netzmodell verteilen.
Der Einsatz von Last-Management- Systemen bei der Installation von Photovoltaik, Wärmepumpen und Ladestationen ist heute typisch bei der Umsetzung von Ausbauprojekten, um die Anschlussleistungen weiterhin einhalten zu können und zusätzliche Kosten für die Hausbesitzer zu vermeiden. Die Begrenzung auf definierte Anschlussleistungen ist ein Parameter, der in der Simulation vorgegeben wird.
Modell und Szenarien
Basis des Analysetools ist das bestehende Netz mit aktuellen Lastdaten. Das Netz wird als Lastflussmodell abgebildet. Dafür sind neben der Netztopologie auch Leitungsdaten nötig. Um eine aussagekräftige Analyse zu ermöglichen, müssen den Netzanschlüssen Lastgänge zugeordnet werden. Wenn keine Daten aus Lastgangmessungen vorliegen, können realitätsnahe, synthetisch generierte Lastgänge verwendet werden. Falls bereits eine Zielnetzplanung existiert, kann diese Datengrundlage für die Zukunftsszenarien verwendet werden.
Zusätzlich zum Netzmodell, das den aktuellen Zustand abbildet, müssen die Szenarien der Energiewende in konkrete Lastgänge übersetzt werden, die dann im Netzmodell zu den bestehenden Lasten hinzugefügt werden.
Photovoltaik – Gemäss der Sonnenenergie-Statistik des BFE [1] wurden in den letzten Jahren jeweils mehrere 100 MW PV-Leistung zugebaut. Während 2020 noch knapp 500 MW neu gebaut wurden, kamen 2021 über 700 MW PV-Leistung ans Netz. 2021 wurde mit den installierten 3,7 GW eine Energie von 2,8 TWh erzeugt, was 4,9% des gesamten Stromverbrauchs entspricht. Das bisherige Wachstum reicht aber nicht aus, um die Kernenergie und die fossilen Brennstoffe zu ersetzen. Dafür wäre eine etwa 15-mal höhere PV-Kapazität als heute nötig, was einer Gesamtkapazität von 50 GW und einem jährlichen Zubau von 1,6 GW entspricht [2]. Gemäss Energieperspektive sollte die gesamte jährliche Stromerzeugung aus PV-Anlagen bis zum Jahr 2050 bis zu 45 TWh erreichen.
Wärmepumpen – Für die Raumheizung werden fossil gefeuerte Systeme u.a. durch elektrisch betriebene Wärmepumpen ersetzt. Die Verkaufszahlen von Wärmepumpen stiegen deutlich an: von 18’300 Anlagen im Jahr 2015 auf 33’700 Anlagen in 2021 [3]. 85% der verkauften Anlagen haben eine thermische Nennleistung zwischen 5 und 20 kW, was rund 1,5 bis 7 kW elektrischer Nennleistung entspricht. Jährlich kommt eine zusätzliche elektrische Wärmepumpenleistung in der Grössenordnung von 150 MW ans Netz. Mit einer für Wärmepumpen typischen Betriebsdauer von 2000 h/Jahr entspricht das einer Energie von 300 GWh/Jahr.
Ladestationen für Elektroautos – Der Absatz von Fahrzeugen mit alternativen Antrieben ist seit 2015 stark gestiegen. Anfang 2022 wurden bereits doppelt so viele rein elektrisch betriebene Autos immatrikuliert als im Vergleichszeitraum 2021, bei den Plug-in- Hybridfahrzeugen war der Zuwachs etwa ein Drittel [4]. Insgesamt sind mittlerweile etwa ein Drittel der neu angemeldeten Fahrzeuge mit einer Lademöglichkeit aus dem Stromnetz ausgestattet und im Rahmen der Bundesinitiative Roadmap 2025 wird davon ausgegangen, dass diese Zahl bis 2025 auf 50% steigt.
Diese Zahlen zeigen deutlich auf, wie stark alle drei Bereiche wachsen – Photovoltaik, Wärmepumpen und Elektrofahrzeuge.
Systemmodell
Im Systemmodell verteilt ein Algorithmus je nach Szenario PV-Anlagen, Wärmepumpen und Elektroladestationen im Netz.
Für die PV-Anlagen werden typische Systemdaten wie Nennleistung und Ausrichtung der Anlagen gemäss den aktuellen Statistiken gewählt und Anschlüssen von passenden Privat- und Gewerbekunden zugeordnet. Die Erzeugung dieser Anlagen wird als Jahresprofil anhand von Solarstrahlungsdaten berechnet.
Für die Bestimmung des Ladebedarfs von Elektrofahrzeugen werden Verbrauchsdaten der zehn meistverkauften Fahrzeugmodelle herangezogen. Um das zeitliche und örtliche Ladeverhalten der Fahrzeuge abzubilden, wurden auf Basis von Daten aus den Niederlanden Wahrscheinlichkeitsverteilungen bestimmt [5]. In einem sechsstufigen Algorithmus wird für jedes einzelne Fahrzeug bestimmt, wann und wo es wie viel Energie aus dem Netz bezieht (Bild 1).
Zur Bestimmung des Stromverbrauchs der Wärmepumpen verfügt das Systemmodell über ein Modul, welches ein Wärmemodell von Gebäuden mit einem Modell für Wärmepumpen und Warmwasserspeicher kombiniert. Dabei werden unterschiedliche Typen und Grössen von Anlagen und Gebäuden berücksichtigt.
Die so generierten Erzeugungs- und Lastprofile für Photovoltaik, Wärmepumpen und Elektrofahrzeuge werden im Netzmodell zusätzlich zu den bestehenden Lasten eingefügt. Dabei können Photovoltaik, Wärmepumpen und Elektroladestationen separat oder in beliebigen Kombinationen hinzugefügt werden. Dies ermöglicht es, die Auswirkungen der Entwicklungen nicht nur gesamthaft, sondern auch individuell beurteilen zu können. Grundsätzlich wird in den Simulationen die Nutzung von Lastmanagementsystemen bei Mehrfamilienhäusern berücksichtigt sowie die heutige Anschlussleistung der Gebäude, die typisch nicht überschritten werden soll.
Anwendung bei der Arbon Energie AG
In Zusammenarbeit mit Arbon Energie wurde der Energiewende-Check für zwei Teilnetze durchgeführt, wobei jedes Teilnetz einer Trafostation mit dem darunterliegenden 400-V-Verteilnetz entspricht. Ein Lastflussmodell dieser Teilnetze war bei Arbon Energie dank eines Vorgängerprojektes bereits zu einem grossen Teil vorhanden, es mussten lediglich ein paar Details überprüft und ergänzt werden.
Dank eines komplett umgesetzten Smart-Meter-Rollouts verfügt die Arbon Energie AG über Lastgangmessungen aller Netzanschlussnehmer seit 2015. Somit konnte das Grundmodell für die Analysen mit geringem Aufwand erstellt werden.
Zusätzlich zum Grundmodell wurden die Szenarien für den PV-Ausbau, neue Wärmepumpen und Elektroladestationen für das Netzgebiet quantifiziert und wie beschrieben in konkrete Lastgänge transformiert.
Bild 2 zeigt als Beispiel, wie ein Algorithmus neue PV-Anlagen im Netz verteilt. Im dargestellten Szenario wurden zusätzlich zu den heute bestehenden PV-Anlagen 27 weitere Anlagen in den Grössen 10 kW (typisch für Einfamilienhäuser) und 24 kW (typisch für grössere Gebäude) hinzugefügt.
Auf ähnliche Weise wurden auch zusätzliche Wärmepumpen und Elektroladestationen von typischer Grösse passenden Netzanschlüssen zugeordnet.
Das Tool für den Energiewende-Check berechnet Tausende von Netzzuständen mit verschiedenen Kombinationen aus Photovoltaik-Zubau, neuen Wärmepumpen und Ladestationen für Elektrofahrzeuge und berücksichtigt darüber hinaus die Anwendung von einfachen Laststeuer-Mechanismen, wie z.B. eine zentral definierte Einschränkung der Fahrzeugladungen. Bild 3 zeigt als Beispiel die Ergebnisse für die Belastung eines Transformators sowie die Spannungswerte an einigen Knoten für verschiedene Szenarien mit Photovoltaik (PV) und Elektrofahrzeugen (EF) im Vergleich zum Referenzfall. Während sich im Szenario mit ausschliesslichem PV-Ausbau die maximale Trafolast nicht nennenswert ändert, haben alle Szenarien mit Ausbau der Elektromobilität einen deutlichen Einfluss auf die Trafolast. Diese kommt in einzelnen Stunden nahe an die Nennscheinleistung von 630 kVA heran. Durch den Einsatz einer Laststeuerung können die höchsten Trafoleistungen auf ein unkritisches Niveau reduziert werden. In allen analysierten Fällen bleiben die höchsten und tiefsten Spannungen im Netz auf einem unbedenklichen Niveau innerhalb der geltenden Normen.
Die Ergebnisse für das hier beispielhaft dargestellte Teilnetz fallen weitgehend unproblematisch aus. Aber die gleichen Analysen zeigen für ein anderes Teilnetz von Arbon Energie AG ein weniger beruhigendes Bild. Sofern die Entwicklungen in Sachen PV, Wärmepumpen und Elektromobilität in der erwarteten Intensität und Geschwindigkeit stattfinden, wird dort in absehbarer Zeit eine Verstärkung der Trafostation notwendig. Generell hat sich gezeigt, dass von allen drei Faktoren – Photovoltaik, Wärmepumpen und Elektromobilität – die Elektromobilität mit Abstand die höchsten Ansprüche an das Netz stellt.
Fazit und Ausblick
Mit der Energiewende kommen grosse Veränderungen auf die Verteilnetze zu. Genaue Vorhersagen sind unmöglich, aber anhand von Szenarien lässt sich quantitativ abschätzen, was konkret auf ein Verteilnetz zukommen kann. Damit erhalten die Verteilnetzbetreiber eine belastbare Basis, um Entscheidungen für die Zukunft zu treffen.
Verteilnetzbetreiber, welche bereits über ein Netzmodell und flächendeckende Lastgangdaten verfügen, sind diesbezüglich im Vorteil. Dank moderner Tools, mit denen fehlende Modelle und Daten effizient generiert werden können, sind die beschriebenen Analysen aber auch bei schlechterer Datenlage möglich.
[1] Bundesamt für Energie, Statistik Sonnenenergie – Referenzjahr 2020, 2021.
[2] Swissolar, 11-Punkte-Programm der Solarwirtschaft, 2022.
[3] Statistik Fachvereinigung Wärmepumpen Schweiz FWS.
[4] Auto Schweiz, Entwicklung der Marktanteile alternativer Antriebe, Statistiken.
[5] ElaadNL, «Open Datasets for Electric Mobility Research».
Kommentare
Stefan Wilker,
Die Resultate des Artikels stammen aus dem Projekt SONDER. Das Projekt wurde im Rahmen der gemeinsamen Programmplanungsinitiative ERA-Net Smart Energy Systems mit Unterstützung durch das Forschungs- und Innovationsprogramm Horizont 2020 der Europäischen Union unter der Fördervereinbarung Nr. 775970 gefördert.