Energiesystem im Wandel
Potenziale und Herausforderungen
Heute besteht breiter Konsens darüber, dass die Zukunft der hiesigen Energieversorgung sicher sein muss und der Umwelt in der Schweiz und global möglichst wenig schadet. Die Technologiewahl hat dies prioritär zu beachten. Wo stehen wir da, wo gibt es Hürden?
Anfang 2022 wurde der Gesellschaft in Mitteleuropa drastisch vor Augen geführt, dass die Technologiewahl «Erdgas» dem wichtigsten Erdgasanbieter Tür und Tor für politische Erpressungen und militärische Bedrohungen öffnet. Auch an der Preisfront hat dies zu massiven Erhöhungen geführt, die die Erinnerungen an die Ölkrise der 1970er-Jahre wach werden lassen. Die noch vor zwei Jahrzehnten allseits umgesetzte Liberalisierung aller Energiemärkte hilft da aktuell wenig – die Politik ist wieder gefragt zu handeln, wie es in Energiefragen so oft nötig und sinnvoll war. Dies sind ideale Voraussetzungen, um die Investitionen in nicht fossile Energietechnik zu beschleunigen.
Auch wenn der Austausch von Elektrizität an der Schweizer Grenze mit anderen politischen Fragen verknüpft ist und dadurch behindert wird, muss die stabile Stromversorgung gewährleistet sein. Energiesysteme haben bekanntlich für die Balance von Verbrauch und Erzeugung über die verschiedenen Zeitskalen zu sorgen, bei Strom auch im Sub-Sekundenintervall. Im Winter wird die Schweiz zukünftig nicht einfach Strom aus Europa importieren können, zumal er ja immer stärker in diesen Ländern selbst gebraucht wird.
Als Ausweg bleibt da die massive Stärkung der heimischen Erzeugungstechnologien. Die Wasserkraft, die schon über die Hälfte des Stroms in der Schweiz liefert, kann nur noch geringfügig ausgebaut werden. Dies reicht aber nicht. Wenn dann im nächsten Jahrzehnt die nuklearen Kraftwerke ausser Betrieb gehen, verschärft sich die Lage. Bei unerwarteten Sicherheitsproblemen der alten Meiler schon früher, was der Blick nach Frankreich nahelegt. Der Zubau von erneuerbarem Strom aus Solarzellen und Windkraft drängt also massiv, hat aber auch das Potenzial dazu!
Wandel im Verbrauch
Der Wandel in den Energiesystemen erfolgt dabei auch beim Verbrauch. Es gilt in den nächsten Jahrzehnten, nochmals ein Fünftel des heutigen Strombedarfs zusätzlich für die E-Mobilität zu stemmen. Die E-Autos werden auch im Winter fahren!
Im Jahr 2035 könnten in der Schweiz drei Millionen Elektro-PWs 7 TWh laden, also etwa einen Zehntel des heutigen Stromverbrauchs. Dabei ist der Bedarf des elektrisch betriebenen öffentlichen Verkehrs und der elektrischen Lastkraftwagen in etwa der gleichen Grössenordnung noch zu addieren. Beispielsweise wird aktuell 6 TWh Elektrizität fürs Heizen von Oktober bis April verwendet, mit einem Effizienzsteigerungspotenzial von rund 55%.[1] Gelingt es, diese Verschwendung zu beseitigen, steht dem der wachsende Strombedarf durch die Substitution der fossilen Heizungen, beispielsweise mit Wärmepumpen, entgegen. Dies zeigt erneut, wie wichtig der erwähnte Zubau der erneuerbaren Stromerzeuger in den nächsten Jahrzehnten ist.
Lösungen für die Winterlücke
Ein «weiter wie bisher» kann nicht funktionieren. Wir müssen neue Wege, neue Kooperationen finden, um das gemeinschaftliche Ganze zielführend umzubauen. Die zuständige Bundesrätin und der Direktor der ElCom haben dazu im Februar 2022 über die geplanten Investitionen in Reservekraftwerke orientiert, die schon 2025 aktiv sein sollen, um die Winterstromerzeugung komplett abzusichern und die erwähnte Strombalance zu wahren. Die zwei geplanten Gaskraftwerke mit einer Generatorleistung von insgesamt 1 GW sollen dabei nur zur kurzfristigen Netzstabilisierung im Winter eingesetzt werden, nur im Notfall, und nicht für die klassischen Energiemärkte. Somit sind auch diese CO2-Emissionen zu vernachlässigen und das vom Bundesrat angepeilte Netto-Null-Emissionsziel 2050 ist nicht gefährdet. Die Kosten mit 0,1 Rp. Zuschlag pro kWh bleiben überschaubar.
Dabei betonte die Bundesrätin erneut, prioritär die Erzeugung mit Strom aus Sonne und Wind auszubauen und zusätzlich bis 2040 zwei TWh Wasserkrafterzeugung im Winter verfügbar zu machen.
Beschleunigter Zubau von Wind und Solar
Da rächt sich das fast völlige Versagen der Schweiz beim Zubau von Windkraftwerken doppelt. Österreich erzeugt aktuell 12% oder ca. 8 TWh des Stroms mit Windkraft. Die Schweiz hingegen kann nur 0,2% Windstromanteil vorweisen! An der Fachtagung «Energie der Zukunft» am 22. Juni 2022 wird es unter anderem darum gehen, warum dies in der Schweiz nicht klappt, und wie diese Verhinderungskultur gebrochen werden kann.
Aber die Tagung will auch über die Erfolge, z. B. bei der Nutzung von Holz und Nahwärmelösungen, in der Schweiz berichten, denn diese würden den Bedarf an Winterstrom für die Wärmepumpen reduzieren. Die Energiezukunft wird diverse Elemente beinhalten, mit wenigen, die dominieren werden.
Die breite Mehrheit befürwortet den erneuerbaren Stromzubau als Kernaufgabe in der Schweiz. Aber wo funktioniert der Zubau tatsächlich? An der erwähnten Tagung werden auch erfolgreiche Initiativen auf Gemeindeebene bzw. kantonale Beschleunigungsprojekte vorgestellt, aber auch kreative Bürgerprojekte. Kreativität und gemeinsames Anpacken funktioniert! Viele dieser Projekte haben das Ziel, den aktuellen, bei 5% liegenden Anteil von Strom aus Solarzellen in der Schweiz massiv zu steigern. Potenzial ist da, wenn man betrachtet, dass Deutschland aktuell beim doppelten Prozentwert steht und Kantone wie der Thurgau dies auch erreichen.
Der Schweizer Branchenverband Swissolar hat zu Jahresbeginn 2022 dazu ein 11-Punkte-Programm vorgestellt. Damit soll die Photovoltaik zur tragenden Säule der Schweizer Energieversorgung werden und 2050 mit 45 TWh Solarstrom ebenbürtig zur Wasserkraft aufgeschlossen haben.
Fachkräftemangel
Bei dieser solaren «Beschleunigung» gilt es aber noch eine drohende Hürde zu meistern. Keine finanzielle oder technologische, sondern eine personelle: den Fachkräftemangel.
Der PV-Ausbau entspricht einer Verdreifachung der installierten jährlichen Solarzellenleistung, aber auch der aktuellen Fachkräfte im PV-Bereich. Schon in fünf Jahren soll eine Verdopplung geschafft werden, und 2050 dann 20’000 Solarjobs entstehen. Es ist absehbar, dass die Verfügbarkeit bzw. die Schulung und Ausbildung von Fachpersonen mittelfristig der Flaschenhals sein könnte – sowohl bei den Fachberufen als auch bei den Hochschulabsolventen wie Ingenieuren der Energie- und Umwelttechnik.
Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass die Fachfirmen in den nächsten Jahren nicht nur PV-Anlagen installieren werden, sondern gleichzeitig auch die Ladestationen der 3 Mio. E-Autos, die 2035 dann ca. 7 TWh Strom beziehen werden. Schon heute zeichnen einzelne Solarfirmen auch verantwortlich für die Wärmepumpenlösungen inklusive kombinierter Steuerung. Künftig könnte auch eine Flotte von 100’000 E-Autos gemeinschaftlich die oben erwähnte Leistung von 1 GW aufbringen, über bidirektionale 11-kW-AC-Wallboxes am Netz. Es ist gut, wenn die Arbeit auch künftig spannend, anspruchsvoll und vielfältig bleibt.
Referenz
[1] Kap. 3.1 in Potential Stromeffizienz vom 8. Feb. 2022; Aktenzeichen: BFE-441.5-4/25, www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/70290.pdf
Jahrestagung
Die von Electrosuisse organisierte Tagung «Energie der Zukunft» wird am 22. Juni 2022 in den Themenblöcken Energietechnologie, Marktbeschleunigung und Fachkräftemangel einen lösungsorientierten Gedankenaustausch bieten – damit nicht die Hürden, sondern die Erfolge wachsen, hin zur praktischen Nullemission der Schweiz in 2050.
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