Fachartikel Erneuerbare Energien , Integration ins Netz

Energiesystem im Wandel

Potenziale und Herausforderungen

28.03.2022

Heute besteht breiter Konsens darüber, dass die Zukunft der hiesigen Energie­versorgung sicher sein muss und der Umwelt in der Schweiz und global möglichst wenig schadet. Die Techno­logie­wahl hat dies prioritär zu beachten. Wo stehen wir da, wo gibt es Hürden?

Anfang 2022 wurde der Gesellschaft in Mitteleuropa drastisch vor Augen geführt, dass die Techno­logie­wahl «Erdgas» dem wichtigsten Erdgas­anbieter Tür und Tor für politische Erpres­sungen und militärische Bedrohungen öffnet. Auch an der Preisfront hat dies zu massiven Erhöh­ungen geführt, die die Erin­nerun­gen an die Ölkrise der 1970er-Jahre wach werden lassen. Die noch vor zwei Jahr­zehnten allseits umge­setzte Liberali­sierung aller Energie­märkte hilft da aktuell wenig – die Politik ist wieder gefragt zu handeln, wie es in Energiefragen so oft nötig und sinnvoll war. Dies sind ideale Voraus­setzungen, um die Investi­tionen in nicht fossile Energie­technik zu beschleunigen.

Auch wenn der Austausch von Elektrizität an der Schweizer Grenze mit anderen politischen Fragen verknüpft ist und dadurch behindert wird, muss die stabile Strom­versorgung gewährleistet sein. Energie­systeme haben bekanntlich für die Balance von Verbrauch und Erzeugung über die verschie­denen Zeitskalen zu sorgen, bei Strom auch im Sub-Sekunden­intervall. Im Winter wird die Schweiz zukünftig nicht einfach Strom aus Europa importieren können, zumal er ja immer stärker in diesen Ländern selbst gebraucht wird.

Als Ausweg bleibt da die massive Stärkung der heimischen Erzeu­gungs­techno­logien. Die Wasserkraft, die schon über die Hälfte des Stroms in der Schweiz liefert, kann nur noch gering­fügig ausgebaut werden. Dies reicht aber nicht. Wenn dann im nächsten Jahrzehnt die nuklearen Kraftwerke ausser Betrieb gehen, verschärft sich die Lage. Bei unerwarteten Sicherheits­problemen der alten Meiler schon früher, was der Blick nach Frankreich nahelegt. Der Zubau von erneuer­barem Strom aus Solar­zellen und Wind­kraft drängt also massiv, hat aber auch das Potenzial dazu!

Wandel im Verbrauch

Der Wandel in den Energie­systemen erfolgt dabei auch beim Verbrauch. Es gilt in den nächsten Jahrzehnten, nochmals ein Fünftel des heutigen Strom­bedarfs zusätzlich für die E-Mobilität zu stemmen. Die E-Autos werden auch im Winter fahren!

Im Jahr 2035 könnten in der Schweiz drei Millionen Elektro-PWs 7 TWh laden, also etwa einen Zehntel des heutigen Strom­verbrauchs. Dabei ist der Bedarf des elektrisch betriebenen öffentlichen Verkehrs und der elektri­schen Last­kraft­wagen in etwa der gleichen Grössen­ordnung noch zu addieren. Beispiels­weise wird aktuell 6 TWh Elektrizität fürs Heizen von Oktober bis April verwendet, mit einem Effizienz­steigerungs­potenzial von rund 55%.[1] Gelingt es, diese Verschwendung zu beseitigen, steht dem der wachsende Strombedarf durch die Substitution der fossilen Heizungen, beispiels­weise mit Wärme­pumpen, entgegen. Dies zeigt erneut, wie wichtig der erwähnte Zubau der erneuerbaren Strom­erzeuger in den nächsten Jahrzehnten ist.

Lösungen für die Winterlücke

Ein «weiter wie bisher» kann nicht funktionieren. Wir müssen neue Wege, neue Koopera­tionen finden, um das gemeinschaftliche Ganze zielführend umzubauen. Die zuständige Bundesrätin und der Direktor der ElCom haben dazu im Februar 2022 über die geplanten Investitionen in Reserve­kraftwerke orientiert, die schon 2025 aktiv sein sollen, um die Winter­strom­erzeugung komplett abzusichern und die erwähnte Strombalance zu wahren. Die zwei geplanten Gaskraftwerke mit einer Generator­leistung von insge­samt 1 GW sollen dabei nur zur kurzfristigen Netz­stabili­sierung im Winter eingesetzt werden, nur im Notfall, und nicht für die klassischen Energie­märkte. Somit sind auch diese CO2-Emissionen zu vernach­lässigen und das vom Bundesrat angepeilte Netto-Null-Emissions­ziel 2050 ist nicht gefährdet. Die Kosten mit 0,1 Rp. Zuschlag pro kWh bleiben überschaubar.

Dabei betonte die Bundesrätin erneut, prioritär die Erzeugung mit Strom aus Sonne und Wind auszubauen und zusätzlich bis 2040 zwei TWh Wasser­kraft­erzeugung im Winter verfügbar zu machen.

Beschleunigter Zubau von Wind und Solar

Da rächt sich das fast völlige Versagen der Schweiz beim Zubau von Wind­kraft­werken doppelt. Österreich erzeugt aktuell 12% oder ca. 8 TWh des Stroms mit Windkraft. Die Schweiz hingegen kann nur 0,2% Wind­strom­anteil vorweisen! An der Fachtagung «Energie der Zukunft» am 22. Juni 2022 wird es unter anderem darum gehen, warum dies in der Schweiz nicht klappt, und wie diese Verhinde­rungs­kultur gebrochen werden kann.

Aber die Tagung will auch über die Erfolge, z. B. bei der Nutzung von Holz und Nahwärme­lösungen, in der Schweiz berichten, denn diese würden den Bedarf an Winterstrom für die Wärmepumpen reduzieren. Die Energiezukunft wird diverse Elemente beinhalten, mit wenigen, die dominieren werden.

Die breite Mehrheit befürwortet den erneuer­baren Stromzubau als Kernaufgabe in der Schweiz. Aber wo funktioniert der Zubau tatsächlich? An der erwähnten Tagung werden auch erfolgreiche Initiativen auf Gemeindeebene bzw. kantonale Beschleu­nigungs­projekte vorgestellt, aber auch kreative Bürgerprojekte. Kreativität und gemeinsames Anpacken funktioniert! Viele dieser Projekte haben das Ziel, den aktuellen, bei 5% liegenden Anteil von Strom aus Solarzellen in der Schweiz massiv zu steigern. Potenzial ist da, wenn man betrachtet, dass Deutschland aktuell beim doppelten Prozentwert steht und Kantone wie der Thurgau dies auch erreichen.

Der Schweizer Branchen­verband Swissolar hat zu Jahresbeginn 2022 dazu ein 11-Punkte-Programm vorgestellt. Damit soll die Photo­voltaik zur tragenden Säule der Schweizer Energie­versorgung werden und 2050 mit 45 TWh Solarstrom ebenbürtig zur Wasserkraft aufge­schlossen haben.

Fachkräftemangel

Bei dieser solaren «Beschleunigung» gilt es aber noch eine drohende Hürde zu meistern. Keine finanzielle oder techno­logische, sondern eine personelle: den Fach­kräfte­mangel.

Der PV-Ausbau entspricht einer Verdreifachung der installierten jährlichen Solar­zellen­leistung, aber auch der aktuellen Fachkräfte im PV-Bereich. Schon in fünf Jahren soll eine Verdopplung geschafft werden, und 2050 dann 20’000 Solarjobs entstehen. Es ist absehbar, dass die Verfügbarkeit bzw. die Schulung und Ausbildung von Fachpersonen mittelfristig der Flaschenhals sein könnte – sowohl bei den Fachberufen als auch bei den Hoch­schul­absolventen wie Ingenieuren der Energie- und Umwelttechnik.

Dabei gilt es zu berück­sichtigen, dass die Fachfirmen in den nächsten Jahren nicht nur PV-Anlagen installieren werden, sondern gleichzeitig auch die Ladestationen der 3 Mio. E-Autos, die 2035 dann ca. 7 TWh Strom beziehen werden. Schon heute zeichnen einzelne Solarfirmen auch verantwortlich für die Wärme­pumpen­lösungen inklusive kombinierter Steuerung. Künftig könnte auch eine Flotte von 100’000 E-Autos gemeinschaftlich die oben erwähnte Leistung von 1 GW aufbringen, über bidirek­tionale 11-kW-AC-Wallboxes am Netz. Es ist gut, wenn die Arbeit auch künftig spannend, anspruchsvoll und vielfältig bleibt.

Referenz

[1] Kap. 3.1 in Potential Stromeffizienz vom 8. Feb. 2022; Aktenzeichen: BFE-441.5-4/25, www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/70290.pdf

Autor
Prof. Dr. Franz Baumgartner

ist Studien­gang­leiter Energie- und Umwelt­technik SoE an der ZHAW.

  • ZHAW, 8400 Winterthur

Jahrestagung

Die von Electro­suisse organisierte Tagung «Energie der Zukunft» wird am 22. Juni 2022 in den Themen­blöcken Energie­techno­logie, Markt­beschleu­nigung und Fach­kräfte­mangel einen lösungs­orien­tierten Gedan­ken­aus­tausch bieten – damit nicht die Hürden, sondern die Erfolge wachsen, hin zur praktischen Null­emission der Schweiz in 2050.

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