Fachartikel Installationstechnik , Mobilität , Smart Grid

Elektro­mobilität für die Energie­wende nutzen

Mit Elektroautos die Stromversorgung revolutionieren

28.02.2022

Erneuerbare Energien können die Folgen des Klimawandels reduzieren. Sie sind aber volatil und nicht immer verfügbar, weshalb es – nebst einer flexiblen Produktion und einer Steuerung der Verbraucher – Speicher braucht. Da bieten sich auch die Elektrofahrzeuge an, die meist stehen und ihren Speicher zur Verfügung stellen könnten.

Die Energiewende hin zu erneuerbarer Stromversorgung ist ein zentrales Werkzeug, um die Folgen der Klimakrise abzumildern. Schliesslich stammen weltweit gut 40% der energie­bedingten CO2-Emissionen aus der Elektrizitäts- und Wärme­erzeugung. Die Energiewende erfordert allerdings einen radikalen Umbau des Energiesystems: von einer zentralen und verbrauchs­orientierten Stromproduktion hin zu einer dezen­tralen und deutlich kleinteiligeren Produktion, die ausserdem starken Schwankungen unterliegt – je nach Verfügbarkeit der erneuerbaren Energien.

Diese unvermeidbare Volatilität im Stromnetz muss entsprechend abgefedert werden. Dafür gibt es mehrere Optionen: Erstens eine flexible Produktion, zweitens eine Steuerung der Nachfrage und drittens eine Zwischenspeicherung von Energie. Vor allem der Bedarf an Speichermöglichkeiten zur Stabilisierung des Netzes und zur Deckung des Bedarfs wird in Zukunft massiv steigen.

Ein zentraler Baustein, der diese kurzfristigen Flexibilitäten ermöglichen kann, erlebt aktuell einen Boom: das Elektroauto. Dessen Akkus – digital und intelligent vernetzt zu einem riesigen Schwarmspeicher – bieten alle drei Optionen, um Schwankungen im Stromnetz auszugleichen: Elektroautos können bei Engpässen Energie einspeisen, bei einer Überproduktion von Wind und Sonne Energie aufnehmen und diesen Grünstrom so lange zwischenspeichern, bis er wieder gebraucht wird – etwa zu den Hochlastzeiten am Morgen und am Abend. Da die Standzeit eines Pkw mit im Schnitt gut 23 Stunden am Tag meistens deutlich grösser als die benötigte Ladezeit ist, bleibt viel Luft für flexible Netz- und Energieanwendungen. Positive Nebeneffekte: Die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen in der Stromproduktion wird verringert, Emissionen sinken und die Elektromobilität wird günstiger durch zusätzliche Erlöse aus dem Energiesystem.

Vor allem beim kurzfristigen Bedarf zur Netzstabilisierung bieten Batterien mehrere Vorteile gegenüber anderen Technologien: Sie können schnell und präzise angesteuert werden und sind dabei deutlich günstiger als andere Flexibilitätsarten. Unter anderem, da die enorme Speicherkapazität, die in den Batterien der Elektroautos schlummert, von den Fahrzeughaltern bereits bezahlt wurde. Diese wiederum können, indem sie einen kleinen Teil ihrer Batteriekapazität als Stromreserve anbieten – etwa acht Kilowattstunden reichen vollkommen –, mit ihren Elek­troautos Geld verdienen: Laut einigen Pilotprojekten in Deutschland und Grossbritannien zwischen etwa 500 und 1000 Euro pro Jahr.

Batterien von Elektroautos können zudem für netzdienliche Aufgaben genutzt werden: Im First-Life, also solange sie im Auto fest verbaut sind, immer dann, wenn sie per Stecker mit einer intelligenten und im Idealfall bidirektionalen Wallbox verbunden sind; im Second-Life, wenn ihre Kapazität für den anspruchsvollen Einsatz in einem Pkw nicht mehr ausreicht, in stationären Anwendungen. Am Ende ihrer Lebensdauer im Fahrzeug haben die Batterien noch eine Restkapazität von etwa 70 bis 80% ihrer ursprünglichen Kapazität, genug für eine zweite Einsatzschicht im Stromnetz. Dafür werden die Akkus ausgebaut und an einem Standort zu Hunderten zu einem grossen Stationärspeichersystem im Megawatt-Bereich gebündelt. Speicher dieser Art gibt es bereits seit mehreren Jahren, weltweit.

Eine interessante Erkenntnis aus der Praxis: Batterien verschleissen kaum, wenn sie für netzdienliche Anwendungen genutzt werden, denn die Belastungen sind deutlich geringer als etwa bei einem Ampelstart mit einem E-Auto oder beim Schnellladen. Forscher gehen davon aus, dass die Nutzungsdauer eines gängigen Lithium-­Ionen-Akkus deutlich mehr als 20 Jahre beträgt. Tesla zeigt dies etwa mit Lebensdauern von über einer Million Kilometern.

Und auch im Zero-Life, also noch bevor ein fabrikneuer Akku zum Beispiel als Ersatzteil in einem Elektro­auto verbaut wird, bringt die Integration in einem Stationärspeicher Vorteile mit sich: Dank der vergleichsweise behutsamen Be- und Entladevorgänge bleibt der Akku länger «frisch». Derartige Speicher, auch als «lebendiges Ersatzteillager» bekannt, gibt es schon häufig.

Wie E-Auto-Batterien integriert werden können

Die Integration der Fahrzeugbatterien in die Stromwelt erfolgt in drei Stufen, die schrittweise aufeinander aufbauen, allesamt bereits technisch erprobt und zum Teil auch schon in ausgereiften Alltagsanwendungen umgesetzt sind.

Stufe eins ist das «Smart Charging», ein unidirektionales und gesteuertes Laden. Dabei wird der Ladestrom nicht nur ein- und ausgeschaltet, sondern wird bei Bedarf auch in der Leistung angepasst. Zu Zeiten hoher Stromnachfrage kann das E-Auto trotzdem laden, aber mit gedrosselter Geschwindigkeit. Der Vorgang passiert dabei «hinter dem Stromzähler», berücksichtigt in dieser ersten Stufe nur die lokalen Gegebenheiten vor Ort und reagiert nicht auf Signale aus dem Netz oder der Stromwelt. Bei aktuellen intelligenten Lade- und Energiemanagementsystemen mit Lastmanagement-Funktion, die dynamisch die aktuelle Gebäudelast an einem Netz­anschluss ebenfalls berücksichtigen, ist dies fester Bestandteil des Funktionsumfangs. Vor allem in Fahrzeugflotten ab etwa drei Elek­troautos gilt ein solches System als unabdingbar, da ansonsten womöglich der Netzanschluss kostspielig erweitert werden müsste.

Bei Stufe zwei, genannt «V1G», wird das Smart Charging um eine Komponente erweitert. Hier wird zudem auf Signale «vor dem Stromzähler» reagiert. Dies können z. B. Preissignale oder dynamische Netzengpasssignale der Netzbetreiber sein. Bei einem Projekt von Renault wurden schon im Jahr 2015 über eine spezielle Software von The Mobility House Preisschwankungen am Strommarkt automatisiert berücksichtigt und die Ladevorgänge entsprechend optimiert – zum finanziellen Vorteil von Elektroauto-Fahrern. Luden sie immer zu Zeiten möglichst niedriger Strompreise, etwa nachts oder wenn an besonders windigen bzw. sonnigen Tagen ein Überschuss an erneuerbarer Energie vorhanden war, konnten sie die Stromkosten des Elek­troautos praktisch halbieren. Zudem fordern in der Schweiz bei mehreren Ladepunkten hinter einem Netzanschlusspunkt immer mehr Verteilnetzbetreiber die Steuermöglichkeit von Ladeinfrastruktur mittels Steuerapparaten wie einem Rundsteuerempfänger. Auch hier sind Kosteneinsparungen möglich.

Stufe drei, das «Vehicle-to-Grid» oder «V2G» genannte bidirektionale Laden, stellt die Königsdisziplin dar. Die vormals passiven Akkus werden mit dieser Technologie zu aktiven, flexiblen Akteuren in der Stromerzeugung: Bei hoher Nachfrage springen Elektroautos als Kraftwerk ein, geben einen kleinen Teil der Energie aus ihren Akkus an das Netz ab und holen ihn sich zurück, wenn der Strompreis niedrig, die Erzeugung erneuerbarer Energien besonders hoch ist, oder das Netz gerade keinen Engpass erfährt.

Die Erlöspotenziale für die Endkunden unterscheiden sich je nach Stufe. Sie reichen von wenigen Hundert Euro bei V1G bis hin zu den bereits erwähnten niedrigen vierstelligen Beträgen bei V2G. Insbesondere für Betreiber von Flotten ist die V2G-Technologie interessant. Mehr Autos bedeuten mehr Speicherleistung und somit höhere Erlösmöglichkeiten. Zudem sind Standzeiten bei Firmenfahrzeugen am Wochenende oder zu Urlaubszeiten gut planbar.

Wie hoch das Potenzial der durch Elektrofahrzeuge bereitgestellten Flexibilität in der Schweiz in Summe sein wird, zeigt das folgende Beispiel. In der Schweiz gibt es aktuell rund 6,2 Millionen Motorfahrzeuge – leichte und schwere Nutzfahrzeuge sowie landwirtschaftliche Fahrzeuge eingeschlossen. Unter der Annahme, dass eine Million elektrische Fahrzeuge gleichzeitig mit 10 kW Ladeleistung am Stromnetz angeschlossen sind, kommt dies einer flexiblen Leistung von 10 GW gleich. Dies entspricht ungefähr der Hälfte der installierten Kraftwerksleistung in der Schweiz. Wird z. B. durch Einsatz eines intelligenten Lade- und Energiemanagementsystems die Ladeleistung nur um 1 kW pro Fahrzeug erhöht oder reduziert, entspricht dies ungefähr der Leistung des Kernkraftwerks Gösgen.

Der Durchbruch von V2G ist nur noch eine Frage der Zeit

Ein internationaler Vergleich zeigt, dass die Technologien für V2G bereits marktreif sind: Japan gilt als Vorreiter. Als Reaktion auf die Atom-Katastrophe von Fukushima im Jahr 2011, wegen der das Land fast einen Drittel seiner üblichen Stromerzeugung verlor, hat Japan stark in die V2G-Technologie für den Netzausgleich investiert. Darum war der japanische Ladestandard Chademo lange Zeit der einzige weltweit, der bidirektionale Ladefunktionen erlaubte. Das hatte auch Einfluss auf andere V2G-Pilotprojekte weltweit: Zum Einsatz kamen bislang meist Elektroautos japanischer Hersteller und auf Chademo basierende Ladegeräte.

So etwa in Deutschland, wo The Mobility House gemeinsam mit Nissan, dem Energieversorger Enervie sowie dem Übertragungsnetzbetreiber Amprion im Jahr 2018 erstmals ein Elektroauto gemäss allen regulatorischen Anforderungen eines Übertragungs­netzbetreibers für die Primärregelleistung (PRL) qualifiziert hatte. Ein Nissan Leaf «verdiente» dabei gut 20 Euro pro Woche, indem er mit lediglich maximal 8 kW Leistung am PRL-Markt teilnahm.

Eine Nummer grösser ist ein Projekt auf der portugiesischen Madeira-Insel Porto Santo, die in Zukunft komplett CO2-frei sein möchte. Gemeinsam mit Renault und dem lokalen Energieversorger Empresa de Electricidade da Madeira EEM arbeitet The Mobility House dort daran, wie eine Kombination von Photovoltaik, Windkraft, Elektroautos und Second-Life-Batterien die Heimat von gut 6000 Menschen und das Ziel zehntausender Touristen im Jahr frei von fossilen Energieträgern machen kann. Auf Porto Santo werden die drei Flexibilitätsformen V1G, V2G und Second-Life-Batteriespeicher von einer zentralen Lade- und Energiemanagement-Technologie von The Mobility House komplett autonom gesteuert. Die Nutzung von erneuerbaren Energien im Stromnetz konnte dabei mit zunächst nur gut 20 Elektroautos bereits über 10% verbessert werden.

Auch deutsche Autohersteller haben die Relevanz von V2G erkannt. In Japan wird das neue Elektro-Flaggschiff von Mercedes, die Luxuslimousine EQS, mit Chademo-Anschluss ausgeliefert und auch bidirektionales Laden erlauben. BMW hat im vergangenen Sommer ein V2G-Projekt mit 50 umgerüsteten i3 gestartet, um die Technologie unter Realbedingungen zu erproben und die Grundlage für ihren serienmässigen und flächendeckenden Einsatz im deutschen Stromnetz zu schaffen.

Volkswagen, neben Toyota grösster Autohersteller der Welt, bereitet bereits die Grossserienproduktion von Elektro­autos mit bidirektionalem Laden vor. Vor wenigen Monaten teilten die Wolfsburger mit, dass 2022 jedes Elek­troauto des Konzerns auf Basis des Modularen E-Antriebs-Baukasten (MEB) Strom nicht nur laden, sondern auch wieder ans Netz zurückgeben kann. Den MEB nutzen neben der Kernmarke Volkswagen auch die VW-Töchter Audi, Škoda und Seat. Da somit Hunderttausende Fahrzeuge mit der Fähigkeit zum bidirektionalen Laden ausgeliefert werden, könnte die Technologie einen breiten Durchbruch erleben.

Es gibt noch zu tun

Allerdings fehlt es trotz aller Zwischen­erfolge momentan noch an zwei wesentlichen Dingen: Es gibt, erstens, zwar bereits bidirektionale Ladestationen mit dem europäischen Ladestandard CCS. Diese sind aber für Endkunden noch nicht erhältlich. Unter anderem weil zuvor noch die neue internationale Norm ISO 15118-20 verabschiedet werden muss. Brancheninsider rechnen damit, dass V2G-fähige CCS-Wallboxen für Privatkunden in den kommenden Jahren zu einem Preis um 1500 bis 2000 Euro auf den Markt kommen dürften. Dank den finanziellen Erlösmöglichkeiten durch V2G würde sich der Aufpreis im Vergleich zu einer herkömmlichen Wallbox schnell amortisieren. Um die Flexibilität via bidirektionale Ladestationen monetarisieren zu können, sind der Einsatz eines herstellerneutralen Lade- und Energiemanagementsystems sowie die Anbindung an die Energiemärkte, z. B. via einem Aggregator, jedoch Grundvoraussetzung.

Ein weiterer, wichtiger Baustein sind, zweitens, Anpassungen in der Regulatorik und der Gesetzgebung, damit Elektroautos möglichst bequem und anwenderfreundlich aktiv in die Stromerzeugung eingebunden werden können. Hier gibt es noch ein paar Stolpersteine, wie die Bezahlung sämtlicher Steuern und Abgaben auf in einer Fahrzeugbatterie zwischengespeicherten Strom, die eine breite Einführung unattraktiv machen. Das gar nicht so weit entfernte Ergebnis wäre eine Revolution: Eine Mobilität und Energieerzeugung ohne CO2-Emissionen.

Autor
Christian Müller

ist Mitglied des Mana­ge­ment Board und General Manager Schweiz.

  • The Mobility House AG
    8005 Zürich
Autor
Dr. Robert Seiler

ist Mitglied des Mana­ge­ment Board und Director Corporate Strategy.

  • The Mobility House AG
    8005 Zürich

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