Fachartikel Installationstechnik

Elektro­magne­tische Kräfte an Leitern bei Kurzschluss

Gefahren nicht befestigter Einzelleiter

21.02.2022

Zwischen parallelen Leitern wirken elek­tro­magne­tische Kräfte. Werden diese Leiter von Strömen unter­schied­licher ­Richtung durch­flossen, stossen sie einander ab. Physika­lisch ist dieser Effekt durch die Lorentz­kraft begründet. Entdeckt wurde er vom nieder­ländi­schen Physiker Hendrik Antoon Lorentz.

Strom­durch­flossene Leiter sind Lorenzkräften ausgesetzt – un­abhängig davon, ob es sich um Kabel-, Einzelleiter- oder Stromschienensysteme handelt. Das Ausmass dieses physikalischen Effekts hängt direkt mit der Stromstärke in den Leitern zusammen: Die Kräfte zwischen den Leitern sind am grössten, wenn der Leiterstrom seinen Maximalwert erreicht. Die maximale Stromstärke, die ein Leiter führen kann, ist der sogenannte Stoss­kurz­schluss­strom. Er ist der grösstmögliche Momentanwert eines Kurzschluss­stromes.

Dabei gilt: Die grösste, sofort wirkende Kraft ist proportional zum Quadrat des Stoss­kurz­schluss­stroms. Um die Kraft zu berechnen, wird der Stoss­kurz­schluss­strom verwendet. Es handelt sich bei den Kräften um physikalische Effekte, die eine mechanische Beanspruchung zur Folge haben.

Erfahrungsberichte und Videomaterial zu Versuchen zeigen, dass diese Kräfte sehr gross werden und mehrere Kilonewton (kN) erreichen können. Ein Kilonewton entspricht etwa der Gewichtskraft einer Masse von 100 kg. Ein marktüblicher Polyamid-Kabelbinder von 7,6 mm Breite weist hingegen nur eine maximale Haltekraft von 0,53 kN auf.

Sind die Leiter als kompaktes System gebaut, wie Mehrleiterkabel oder Strom­schienen­systeme, muss der Produktehersteller dafür sorgen, dass diese Kräfte zu keinen Problemen führen.

Anders sieht es bei Einzelleiter­kabel­systemen aus, die durch einen Elektro­instal­lateur verlegt werden. Der In­stallateur ist verantwortlich, dass die Kabel so verlegt bzw. fixiert werden, dass durch auftretende Kräfte keine Gefahren entstehen können. Die ­Nieder­spannungs-Installations­norm (SN 411000:2020 1.2.1.1) verlangt die Gewährleistung der Sicherheit von Personen, Nutztieren und Sachwerten bei sinnvollem Gebrauch elektrischer Anlagen. Bei elektrischen Anlagen können u. a. Risiken durch hohen Druck oder mechanische Bewegung auftreten. Es wird gefährlich, wenn Einzelleiter aufgrund dieser Kräfte Kabelbinder und Schellen zerreissen und dann aus Kabelpritschen oder anderen Verlege­systemen herausfallen. Zudem kann es passieren, dass die Kräfte die Einzelleiter aus ihren Kabelschuhen reissen und grosse Schäden in und an Schaltgeräte­kombi­nationen verursachen.

Eindrückliche Kraft­entwick­lung im Versuchsaufbau

Die Kaspar Belser Elektroplanung hat im August 2021 an einem Kurzschluss­versuch mitgewirkt, bei dem die Kräfte von Kurzschlüssen an einem Anlagetyp eines Kunden erforscht wurden. Die Kraftwirkungen wurden mit einer High-Speed-Kamera aufgezeichnet. Die in der Bildreihe sichtbaren Auswirkungen sind bei 13,8 kA Stoss­kurz­schluss­strom und ohne Vorsicherung entstanden. Die Bildreihe zeigt, welche Auswirkungen die Kräfte auf gebündelte Einzel­leiter­systeme haben können. Zudem sieht man, wie gewisse Kabelbinder zerreissen und weggeschleudert werden.

Diese Kräfte sind systemabhängig. Sie müssen bereits in der Planung einer elektrischen Anlage, aber auch bei der Installation sowie Kontrolle berücksichtigt werden. Die Verantwortung dafür liegt also nicht nur beim Installateur, sondern auch bei den Planern und den Kontrollorganen. Kommen beispielsweise statt Kabelbindern Kabel­gurten in grösserer Menge zum Einsatz, muss dies so ausgeschrieben werden. Die Materialkosten für Gurten sind deutlich höher als die von Kabelbindern.

Berechnung der Kräfte

Die auftretenden Kräfte lassen sich berechnen. Die Berechnung ist ziemlich kompliziert. Sie wird hier grob beschrieben. Zunächst wird der maximale Stosskurzschlussstrom ermittelt, der an parallelen Leitern auftreten kann. Er ist das Produkt aus dem Stossfaktor κ, √2 und dem maximalen Dauer­kurz­schluss­strom. Der Stossfaktor κ und der Dauer­kurz­schluss­strom sind abhängig vom induktiven Blind­anteil des vorgelagerten Netzes, besonders von der Grösse der Transformatoren, Generatoren oder Batteriequellen und deren Beschaltung.

Die radiale Kraft FL', in N/m beschrieben, berechnet sich wie folgt:

μ0 steht für die magnetische Feldkon­stante und a für den Achsabstand der betroffenen Leiter. Mit der Kraft FL' und einem Anordnungsfaktor (ebene Verlegung ohne Abstand oder im Dreiecksbund etc.) kann nun die Kraftwirkung für tangentiale Beanspruchung auf eine den Kabelbund umgebende Hülle FB' berechnet werden. Als eine solche Hülle können Kabelmantel, Kabelbinder, Isolierband oder Kabelbandagen respektive Gurten angesehen werden.

Durch die radiale Kraft FL' wirkt nicht nur eine tangentiale Kraft auf Kabelbinder oder ähnliche Befestigungsmittel, sondern auch auf den Leitermantel. Diese Kraft setzt dort an, wo ein Kabel­binder die Leiter umfasst. Auf der Breite des Kabelbinders entsteht auf diese Weise ein Flächendruck, der die Kabelisolation stark beschädigen kann. Als Gegenmassnahme kann der Abstand von Kabel­binder zu Kabelbinder verringert werden. Der Maximalabstand lB lässt sich berechnen. Für die Berechnung wird ein maximal zulässiger spezifischer Flächendruck berücksichtigt, den man vom Kabelhersteller erhält.

Zudem werden durch die radial wirkende Kraft FL' die Einzelleiter auch in der Länge auseinan­der­gedrückt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die maximale Durchbiegung nicht überschritten wird. Die Stärke der Durchbiegung hängt von der Kraft FL' und vom Elastizitätsmodul E der Isolation sowie dem Kupfer-, Alu- oder Leiterseil ab. Auch wird die Durchbiegung vom äquatorialen Trägheitsmoment J0 beeinflusst. Ihre Summe ergibt die Biegesteifigkeit der Einzelleiter.

Für Kunststoffkabel kann grund­sätzlich eine zulässige Durchbiegung von 5% in Bezug auf die Einspannlänge verwendet werden. Auch hier ist es jedoch sinnvoll, sich mit dem Kabelhersteller abzusprechen.

Es stellt sich nun noch die Frage, ob die vorgeschalteten Schutzorgane bei auftretenden Kurz­schluss­strömen so schnell auslösen, dass sich die Leiter­schleifen nicht induzieren und dass sich die Kräfte nicht aufbauen können. Dazu ist die Gesamtzeit bis zur vollständigen Induktion des Impedanz­netz­werks zu berechnen. Hierzu sind vorgängig die Leitungs­resistanzen Rltg und Leitungs­induktivitäten Lltg zu berechnen.

Grundsätzlich lösen Schmelzeinsätze bei hohen Kurz­schluss­strömen enorm schnell aus. In dieser Zeit können sich die Leitungen also in der Regel nicht komplett laden, und die Kräfte können sich somit nicht vollständig entfalten. Dies gilt jedoch nur bei satten Kurzschlüssen und idealen Auslöse­bedin­gungen und führt nicht zu einem grundsätzlichen Weglassen einer kurzschluss­sicheren Kabel­verlegung, sondern lediglich zu einer Reduktion der Gurten­festigkeit und Vergrösserung des Gurten­abstandes.

Zusammenfassung

Bei Leitungssystemen, deren Aussenleiter als Einzelleiter ausgeführt sind, müssen die Leiter ab wenigen kA ­Dauerkurz­schluss­strom so verlegt bzw. befestigt werden, dass sie den berechneten Kurzschluss­kräften standhalten können. Dies kann je nach Kraftgrösse durch Kabelbinder, Kabelgurten, Bandagen oder Schellen realisiert werden. Schmelz­siche­rungen können die Kräfte aufgrund ihrer energie­begren­zenden Wirkung reduzieren. Elektroplaner und Elektro­installateure sind dafür verantwortlich, dass die betroffenen Anlageteile sicher gebaut ­werden. Die Überprüfung der richtigen Auslegung obliegt den Kontroll­organen.

Autor
Roger Belser

ist Geschäftsführer.

  • Kaspar Belser Elektroplanung GmbH, 5036 Oberentfelden


Kommentare

Dr. Ilya Gutmann,

Die KS-18-Software für die Simulation der Wirkung von elektromagnetischen Kräften auf Leiter und Bemessung der Kurzschlussfestigkeit in Stromanlagen: www.kurzschlussstromberechnung.com

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