Elektromagnetische Kräfte an Leitern bei Kurzschluss
Gefahren nicht befestigter Einzelleiter
Zwischen parallelen Leitern wirken elektromagnetische Kräfte. Werden diese Leiter von Strömen unterschiedlicher Richtung durchflossen, stossen sie einander ab. Physikalisch ist dieser Effekt durch die Lorentzkraft begründet. Entdeckt wurde er vom niederländischen Physiker Hendrik Antoon Lorentz.
Stromdurchflossene Leiter sind Lorenzkräften ausgesetzt – unabhängig davon, ob es sich um Kabel-, Einzelleiter- oder Stromschienensysteme handelt. Das Ausmass dieses physikalischen Effekts hängt direkt mit der Stromstärke in den Leitern zusammen: Die Kräfte zwischen den Leitern sind am grössten, wenn der Leiterstrom seinen Maximalwert erreicht. Die maximale Stromstärke, die ein Leiter führen kann, ist der sogenannte Stosskurzschlussstrom. Er ist der grösstmögliche Momentanwert eines Kurzschlussstromes.
Dabei gilt: Die grösste, sofort wirkende Kraft ist proportional zum Quadrat des Stosskurzschlussstroms. Um die Kraft zu berechnen, wird der Stosskurzschlussstrom verwendet. Es handelt sich bei den Kräften um physikalische Effekte, die eine mechanische Beanspruchung zur Folge haben.
Erfahrungsberichte und Videomaterial zu Versuchen zeigen, dass diese Kräfte sehr gross werden und mehrere Kilonewton (kN) erreichen können. Ein Kilonewton entspricht etwa der Gewichtskraft einer Masse von 100 kg. Ein marktüblicher Polyamid-Kabelbinder von 7,6 mm Breite weist hingegen nur eine maximale Haltekraft von 0,53 kN auf.
Sind die Leiter als kompaktes System gebaut, wie Mehrleiterkabel oder Stromschienensysteme, muss der Produktehersteller dafür sorgen, dass diese Kräfte zu keinen Problemen führen.
Anders sieht es bei Einzelleiterkabelsystemen aus, die durch einen Elektroinstallateur verlegt werden. Der Installateur ist verantwortlich, dass die Kabel so verlegt bzw. fixiert werden, dass durch auftretende Kräfte keine Gefahren entstehen können. Die Niederspannungs-Installationsnorm (SN 411000:2020 1.2.1.1) verlangt die Gewährleistung der Sicherheit von Personen, Nutztieren und Sachwerten bei sinnvollem Gebrauch elektrischer Anlagen. Bei elektrischen Anlagen können u. a. Risiken durch hohen Druck oder mechanische Bewegung auftreten. Es wird gefährlich, wenn Einzelleiter aufgrund dieser Kräfte Kabelbinder und Schellen zerreissen und dann aus Kabelpritschen oder anderen Verlegesystemen herausfallen. Zudem kann es passieren, dass die Kräfte die Einzelleiter aus ihren Kabelschuhen reissen und grosse Schäden in und an Schaltgerätekombinationen verursachen.
Eindrückliche Kraftentwicklung im Versuchsaufbau
Die Kaspar Belser Elektroplanung hat im August 2021 an einem Kurzschlussversuch mitgewirkt, bei dem die Kräfte von Kurzschlüssen an einem Anlagetyp eines Kunden erforscht wurden. Die Kraftwirkungen wurden mit einer High-Speed-Kamera aufgezeichnet. Die in der Bildreihe sichtbaren Auswirkungen sind bei 13,8 kA Stosskurzschlussstrom und ohne Vorsicherung entstanden. Die Bildreihe zeigt, welche Auswirkungen die Kräfte auf gebündelte Einzelleitersysteme haben können. Zudem sieht man, wie gewisse Kabelbinder zerreissen und weggeschleudert werden.
Diese Kräfte sind systemabhängig. Sie müssen bereits in der Planung einer elektrischen Anlage, aber auch bei der Installation sowie Kontrolle berücksichtigt werden. Die Verantwortung dafür liegt also nicht nur beim Installateur, sondern auch bei den Planern und den Kontrollorganen. Kommen beispielsweise statt Kabelbindern Kabelgurten in grösserer Menge zum Einsatz, muss dies so ausgeschrieben werden. Die Materialkosten für Gurten sind deutlich höher als die von Kabelbindern.
Berechnung der Kräfte
Die auftretenden Kräfte lassen sich berechnen. Die Berechnung ist ziemlich kompliziert. Sie wird hier grob beschrieben. Zunächst wird der maximale Stosskurzschlussstrom ermittelt, der an parallelen Leitern auftreten kann. Er ist das Produkt aus dem Stossfaktor κ, √2 und dem maximalen Dauerkurzschlussstrom. Der Stossfaktor κ und der Dauerkurzschlussstrom sind abhängig vom induktiven Blindanteil des vorgelagerten Netzes, besonders von der Grösse der Transformatoren, Generatoren oder Batteriequellen und deren Beschaltung.
Die radiale Kraft FL', in N/m beschrieben, berechnet sich wie folgt:
μ0 steht für die magnetische Feldkonstante und a für den Achsabstand der betroffenen Leiter. Mit der Kraft FL' und einem Anordnungsfaktor (ebene Verlegung ohne Abstand oder im Dreiecksbund etc.) kann nun die Kraftwirkung für tangentiale Beanspruchung auf eine den Kabelbund umgebende Hülle FB' berechnet werden. Als eine solche Hülle können Kabelmantel, Kabelbinder, Isolierband oder Kabelbandagen respektive Gurten angesehen werden.
Durch die radiale Kraft FL' wirkt nicht nur eine tangentiale Kraft auf Kabelbinder oder ähnliche Befestigungsmittel, sondern auch auf den Leitermantel. Diese Kraft setzt dort an, wo ein Kabelbinder die Leiter umfasst. Auf der Breite des Kabelbinders entsteht auf diese Weise ein Flächendruck, der die Kabelisolation stark beschädigen kann. Als Gegenmassnahme kann der Abstand von Kabelbinder zu Kabelbinder verringert werden. Der Maximalabstand lB lässt sich berechnen. Für die Berechnung wird ein maximal zulässiger spezifischer Flächendruck berücksichtigt, den man vom Kabelhersteller erhält.
Zudem werden durch die radial wirkende Kraft FL' die Einzelleiter auch in der Länge auseinandergedrückt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die maximale Durchbiegung nicht überschritten wird. Die Stärke der Durchbiegung hängt von der Kraft FL' und vom Elastizitätsmodul E der Isolation sowie dem Kupfer-, Alu- oder Leiterseil ab. Auch wird die Durchbiegung vom äquatorialen Trägheitsmoment J0 beeinflusst. Ihre Summe ergibt die Biegesteifigkeit der Einzelleiter.
Für Kunststoffkabel kann grundsätzlich eine zulässige Durchbiegung von 5% in Bezug auf die Einspannlänge verwendet werden. Auch hier ist es jedoch sinnvoll, sich mit dem Kabelhersteller abzusprechen.
Es stellt sich nun noch die Frage, ob die vorgeschalteten Schutzorgane bei auftretenden Kurzschlussströmen so schnell auslösen, dass sich die Leiterschleifen nicht induzieren und dass sich die Kräfte nicht aufbauen können. Dazu ist die Gesamtzeit bis zur vollständigen Induktion des Impedanznetzwerks zu berechnen. Hierzu sind vorgängig die Leitungsresistanzen Rltg und Leitungsinduktivitäten Lltg zu berechnen.
Grundsätzlich lösen Schmelzeinsätze bei hohen Kurzschlussströmen enorm schnell aus. In dieser Zeit können sich die Leitungen also in der Regel nicht komplett laden, und die Kräfte können sich somit nicht vollständig entfalten. Dies gilt jedoch nur bei satten Kurzschlüssen und idealen Auslösebedingungen und führt nicht zu einem grundsätzlichen Weglassen einer kurzschlusssicheren Kabelverlegung, sondern lediglich zu einer Reduktion der Gurtenfestigkeit und Vergrösserung des Gurtenabstandes.
Zusammenfassung
Bei Leitungssystemen, deren Aussenleiter als Einzelleiter ausgeführt sind, müssen die Leiter ab wenigen kA Dauerkurzschlussstrom so verlegt bzw. befestigt werden, dass sie den berechneten Kurzschlusskräften standhalten können. Dies kann je nach Kraftgrösse durch Kabelbinder, Kabelgurten, Bandagen oder Schellen realisiert werden. Schmelzsicherungen können die Kräfte aufgrund ihrer energiebegrenzenden Wirkung reduzieren. Elektroplaner und Elektroinstallateure sind dafür verantwortlich, dass die betroffenen Anlageteile sicher gebaut werden. Die Überprüfung der richtigen Auslegung obliegt den Kontrollorganen.
Kommentare
Dr. Ilya Gutmann,
Die KS-18-Software für die Simulation der Wirkung von elektromagnetischen Kräften auf Leiter und Bemessung der Kurzschlussfestigkeit in Stromanlagen: www.kurzschlussstromberechnung.com