Eine Chance an der Grimsel ergreifen
Eisenbahn und 380-kV-Kabel in multifunktionalem Tunnel
Die Kombination von Bahn und einer Höchstspannungs-Übertragungsleitung in einer gemeinsamen Tunnelanlage ist eine Zukunftsvision. Die Grimsel bietet dafür günstige Voraussetzungen. Eine Studie zeigt, dass das Vorhaben sowohl technisch machbar als auch wirtschaftlich interessant ist.
Die multifunktionale Nutzung von linearen Infrastrukturen ist ein raumplanerisches Zukunftsgebot. Im Fokus einer Bündelung stehen Autobahnen, Eisenbahnlinien und Übertragungsleitungen. Der Grimseltunnel ist die bisher am weitesten gediehene Idee für eine ausgedehnte multifunktionale Infrastruktur. In einem Projekt wurden technisch machbare und wirtschaftlich vorteilhafte Lösungskonzepte für die Parallelführung der beiden Infrastrukturen entwickelt.
Das Projekt
Die Schmalspur-Bahnnetze nördlich und zentral des Alpenbogens nähern sich im Raume Grimsel auf 22 km, zwischen Innertkirchen und Oberwald (Bild 1). Seit mehr als 50 Jahren besteht der Wunsch, diese Netze zu einem Gesamtsystem von 850 km Länge zusammenzuschliessen.
Die alpenquerende 220-kV-Leitung via Grimsel (Bild 2) ist Teil des Ausbauprogramms «Strategisches Netz 2025» der Schweiz. Die ältere und den Naturgefahren ausgesetzte Leitung soll auf eine sichere Trasse verlegt, verstärkt und für 380 kV isoliert werden. Die hochalpine Grimsel ist dabei eine Herausforderung, aufgrund der engen und steilen Topografie, der Lawinen und Murgänge, sowie der Anforderungen der geschützten Landschaft. Die Verkabelung ist eine zu prüfende Projektvariante.
Diese Ausgangslage bietet die Chance, Bahn und Strom in einer Tunnelanlage zu kombinieren, mit Vorteilen bezüglich Landschaftsschutz, betriebssicherer Leitung, wintersicherer Verkehrsverbindungen sowie gesellschaftlicher Akzeptanz. Für eine Bahnverbindung an der Grimsel ist eine Tunnellösung ohnehin günstiger als eine Zahnradstrecke.
Eine Studie bestätigte die technische und raumplanerische Machbarkeit. Die Linienführung folgt unterirdisch dem Talverlauf und ist bautechnisch in drei Abschnitte aufgeteilt: Innertkirchen–Guttannen–Handeck–Oberwald (www.grimseltunnel.ch).
Herausforderungen
Die Parallelführung von Bahn und Kabel oberster Spannungsebene in einer Tunnelanlage ist eine Novität, akzentuiert durch die Länge von 22 km. Es bedarf innovativer Lösungen, um die wechselseitige Anlagensicherheit, den Personenschutz, die Immissionsgrenzwerte sowie die Verlegung und die Reparierbarkeit der Kabelanlage zu gewährleisten – bei gleichzeitig günstigen Kosten. Aus Sicht der Zuverlässigkeit besteht die Forderung nach langen Kabel-Liefereinheiten, um die Anzahl Verbindungsmuffen zu senken.
Da die Bahnanlage bekannter Technik entspricht, die im einschlägigen Normenwerk geregelt ist, wird hier nicht auf sie eingegangen.
Design-Kriterien
Bei der Bahn handelt es sich um eine Meterspur-Adhäsionsbahn mit einer Steigung unter 6%. Es verkehren Kompositionen mit drei Wagen und 60 m Länge, einspurig mit Kreuzungsstelle, 15 kV/16,7 Hz Bahnstrom.
Die geplanten Kabel sollen zwei Stränge zu je 380 kV, 1,9 kA / 1200 MVA aufweisen und sollen einen Kurzschlussstrom von 40 kA aushalten. Zudem soll es Platz für zwei zusätzliche Stränge in 220 kV zum Anschluss der Kraftwerke Handeck und Grimsel haben. Der maximal mögliche Leiterquerschnitt soll 2500 mm2 Kupfer oder 3200 mm2 Aluminium betragen.
Die wichtigsten Designkriterien sind die NISV-Grenzwerte in der Bahn, die EMV Kabel–Bahn, die Beherrschung von Störfall-Auswirkungen sowie die Abfuhr der Kabel-Verlustwärme. Bei der Verlegung der Kabel sollen EMV-Kriterien, der Einzug langer Liefereinheiten, die thermische Belastbarkeit sowie die Reparaturfähigkeit berücksichtigt werden.
Bei der Erdung und dem Erdleiter sollen die Kabelschirm-Behandlung, die Begrenzung der Schirmspannung, die Bahnstrom-Rückführung, Berührungsspannungen und die Magnetfeldkompensation berücksichtigt werden.
Drei Systemvarianten
Für die Parallelführung kommen folgende Systeme in Betracht: Eine einzelne Tunnelröhre mit Kabellegung in geschütztem Kanal (System 1, Bild 3) oder im Rohrblock (System 2, Bild 4), oder eine Tunnelanlage bestehend aus Haupt- und kleiner Nebenröhre mit den Kabeln in Letzterer (System 3, Bild 5). Als Basis-Variante wird die Kabelführung in einem eigenständigen Tunnel betrachtet.
Die Systeme wurden detailliert ausgearbeitet mit Fokus auf technische, sicherheitsrelevante und betriebliche Machbarkeit sowie kostengünstige Realisierung.
Kabelanlage
Die Fertigung und der Transport langer Liefereinheiten ist ein aktuelles Entwicklungsthema der Kabelindustrie. Bei den hier spezifizierten Kabeln kann mit Lieferlängen von 1,5 bis 2,5 km geplant werden (Spule 6 m lang, ca. 120 t). Ab Tunnelportal müssen die Kabel ausgelegt eingeführt werden. Für den Einzug ist ein am Parament befestigtes Einzugsrohr vorgesehen.
Das Netz an der Grimsel dient dem Transit in 380 kV sowie der Ableitung der dortigen unterirdischen Kraftwerksproduktion in 220 kV. Die tatsächliche Umstellung auf 380 kV hat einen langen Zeithorizont. Deshalb kann der Anschluss der Kraftwerke zunächst mittels einem der Transit-Stränge erfolgen. Im Hinblick auf eine spätere Spannungsumstellung muss Platz für zwei 220-kV-Stränge vorhanden sein.
Beschreibung der Systemvarianten
Die Systemvarianten wurden bezüglich folgender Kriterien gestaltet:
- Elektromagnetische Verträglichkeit
- Erdung und Personensicherheit
- Brandfall Bahn
- Kabel-Isolationsversagen, Lichtbogen
- Kabel-Verlustwärme, Abfuhr
Die elektromagnetische Verträglichkeit, d. h. der Einfluss der Leitung auf die Bahn, wurde mit einem Simulationsmodell untersucht. Die Ergebnisse zeigen, dass bei Crossbonding und exakter Drittelung die von der Leitung hervorgerufenen Beeinflussungen nicht höher liegen als diejenigen, welche durch die Fahrstromversorgung auf das Bahnsystem selbst einwirken. Die entsprechenden Bahnkomponenten sind bereits heute für solche Belastungen ausgelegt.
Die Erdungen von Bahn und Leitung müssen so ausgelegt werden, dass bei einem Erdschluss keine personengefährdende Berührungsspannungen entstehen können. Dazu werden sämtliche Erdungen sowie alle longitudinalen metallischen Strukturen regelmässig verbunden (Bild 6). Erdungsspannungen im Fehlerfall können somit einzig bei den Tunnelportalen auftreten.
Für einen Brandfall bei der Bahn ist eine Ereignislüftung vorgesehen. Separat belüftete Personenschutzräume und ein Rettungskonzept sind gemäss einschlägiger Normen und Praktiken geplant.
Spontanes Versagen der Kabelisolation wird als geringes Risiko eingestuft; ein solches Versagen bei gleichzeitig vorbeifahrendem Zug als vernachlässigbares Risiko. Dem Risiko des Versagens einer Muffe wird Rechnung getragen durch Minimierung von deren Anzahl, d. h. durch möglichst lange Kabel-Lieferlängen, sowie durch räumliche Abtrennung der Muffen-Nischen gegenüber der Fahrbahn.
Der Personenverkehr in Verbindung mit dem Kabelbetrieb und dem langen Tunnel stellt besondere Anforderungen an die Lüftung. Zur Gewährleistung der Evakuation eines Zuges darf die Lufttemperatur 32°C nicht übersteigen.
Als Lastfälle der Kabel wurden definiert:
- Maximallast, kurzzeitig: Ein Strang 100% Last, der andere 50%: Verluste: 154 W/m.
- Typische Starklast: Beide Stränge 50% Last: Verluste: 71 W/m.
Bei Systemen 1 und 2 ist die Maximallast massgebend für die Lüftungsauslegung. Bei System 3 werden zwei Be-
triebszustände unterschieden: Bei der Maximallast hat das Personal keinen Zugang; die Kabel-Leitertemperatur ist auf 90 °C begrenzt. Bei der Starklast ist das Personal zugelassen, die maximale Lufttemperatur soll 32 °C betragen.
Lüftungstechnisch ist der 22 km lange Tunnel durch die seitlich offene Haltestelle in Guttannen unterbrochen. Von Guttannen bis Oberwald besteht ein Lüftungsabschnitt von 15 km Länge.
System 1
Die kompakte Anordnung der Kabellegung in geschütztem Kanal bietet die beste Synergie. Gestützt auf Richtofferten betragen die Gesamtkosten bei Ausbau mit zwei 380-kV-Strängen rund 580 Mio. CHF.
Dank der Anordnung der Kabel im geschlossenen Dreieck werden die NISV-Grenzwerte im Bahnwagen ohne Weiteres eingehalten.
Eine Leitmauer schützt die Kabel vor Einwirkungen bei Entgleisung der Bahn; der darüber liegende Gitterrost vor losgeschlagenen Felsstücken. Das entsprechende Restrisiko mit letaler Lichtbogeneinwirkung auf die Bahn liegt deutlich unterhalb der Akzeptanzwerte.
Für die Lüftung im langen Abschnitt Guttannen–Oberwald sind je zehn Strahlventilatoren in der Kalotte nahe den Portalbereichen angeordnet. An der Handeck besteht via Fensterstollen und reversiblem Achsialventilator eine Verbindung mit der Aussenluft. Dies ermöglicht verschiedene Lüftungsregime, so dass im Ereignisfall der Bahn am entsprechenden Ort die Temperatur von 32°C mit praktikablen Luftgeschwindigkeiten eingehalten werden kann. Bei normalem Zugbetrieb kann eine Durchfahrt in einer Zone mit 40°C akzeptiert werden, entsprechend der Leistungsfähigkeit der Klima-Anlagen.
Das System ist kostengünstig und die Verlegung der Kabel ist einfach. Das Kabel ist gegenüber der Bahn mechanisch geschützt; ein Brandfall der Bahn erfasst aber beide Infrastrukturen.
System 2
Zum Schutz gegen mechanische Einwirkung sind die Kabel bei diesem System in einem Rohrblock verlegt. Dieser muss aus speziell wärmeleitfähigem Beton erstellt werden. Die Einhaltung der Grenzwerte für Magnetfelder bedingt etwas grössere Abmessungen. Die Kosten liegen ca. 5% über jenen von System 1.
Kernelement ist der klassische Rohrblock als mechanische Abschottung der Kabel. Nachteile sind der Aufwand für den Rohrblock, eine reduzierte Belastbarkeit der Kabel sowie höhere Schirmspannungen. Im Brandfall der Bahn vermag der Rohrblock die Kabel nicht hinreichend gegen hohe Temperaturen zu schützen.
System 3
Das System gewährleistet eine Trennung der beiden Infrastrukturen und damit eine inhärente Anlagensicherheit. Die Kühlung der Kabel kann mittels eigenständiger Lüftung mit Achsialventilatoren an den Portalen erfolgen; die Belastbarkeit der Kabel liegt deshalb etwas höher. Zudem kann die Kabelanlage unabhängig von der Bahninfrastruktur erstellt und später erweitert werden.
Für den Bauprozess unter den vorteilhaften geologischen Verhältnissen des Grimsel-Granits ist der Sprengvortrieb geeignet: Bei dieser Vortriebsart eröffnet der Nebenstollen bedeutende Synergien (beide Stollen mit derselben Installation, alternierende Arbeitsschritte mit gleicher Mannschaft, rasche Abfuhr des Sprengstaubes dank Zirkulationslüftung, Entwässerung und Fluchtweg im Nebenstollen). Die bautechnisch erforderlichen Querschläge im Abstand von 500 m dienen als Personenschutzräume. Dank diesen Synergien liegen die Kosten nur ca. 7% über jenen von System 1.
Der Nebenstollen kann zwar nicht als Fluchtweg genutzt werden (wegen der Kabel), im Notfall dienen die Stollen aber wechselseitig als Interventionswege. Dem Verkehr im Nebenstollen dient ein Monorail.
System 3 zeichnet sich dadurch aus, dass die beiden Infrastrukturen vollständig voneinander getrennt sind. Die eigenständige Lüftung sorgt für bestmögliche Belastbarkeit der Kabel. Die Kosten liegen nur geringfügig über jenen von System 2.
Eigenständige Verkabelung
Die günstigste Lösung für eine eigenständige Verkabelung besteht in der Nutzung von bereits bestehenden Stollen der Kraftwerksanlagen; diese machen etwa ⅓ der Gesamtlänge aus. Die neuen Tunnelabschnitte können auf das bautechnisch minimale Profil von 16 bis 20 m2 ausgelegt werden. Die Gesamtkosten betragen dann rund 270 Mio. CHF. Abgesehen von der grossen Kabellänge wirft dieses System keine neuartigen Fragen auf.
Die eigenständige Verkabelung ist die Grundlage zur Evaluation dieser Technologie im bevorstehenden Sachplan Übertragungsleitungen (SÜL). In Begleitung zum SÜL soll der Grimseltunnel Hand in Hand mit dem System zur eigenständigen Verkabelung weiter konkretisiert werden. Sofern die Verkabelung im SÜL festgesetzt wird und der Bahnteil über eine Finanzierung verfügt, kann der multifunktionale Tunnel realisiert werden.
Fazit
Drei Systeme für die Parallelführung von Bahn und Höchstspannungsleitung wurden bezüglich der technischen Machbarkeitskriterien und der Kosten untersucht. Das System der offenen Kabellegung im geschützten Kanal (System 1) bietet die beste Synergie. Die Lösung mit Haupt- und Nebenstollen (System 3) bietet technische und betriebliche Unabhängigkeit; die Mehrkosten liegen bei 7%.
Gestützt auf diese Untersuchungen kann man festhalten, dass eine kombinierte Tunnelanlage für Bahn und Übertragungsleitung an der Grimsel technisch machbar ist. Dank Synergien und vorteilhaften lokalen Gegebenheiten ist eine solche Anlage kostengünstig. Wenn im bevorstehenden Sachplan Übertragungsleitungen die Verkabelung als Bestlösung festgesetzt und anschliessend die Finanzierung der Bahn geregelt wird, kann diese zukunftsweisende Chance ergriffen werden.
Kommentare
Reto Young,
Naja, hoffentlich sind die übrigen Ausführungen und Überlegungen sorgfältiger ausgearbeitet, als die Abbildung 1. Die Strecke Brig-Domodossola ist Normalspur, die schmalspurige SSIF/FART-Linie durchs Centovalli ist nicht bei Brig angebunden. Dafür fehlt die Strecke Vevey-Blonay-Pléiades und Blonay-Chamby, die an die MOB-Strecke Montreux-Château-d'Oex anschliesst.