Fachartikel Erneuerbare Energien , Smart Grid

Ein stabiles Netz dank «smarter» Teilnehmer

Gezielte Steuerung der Blindleistung

31.08.2018

Die durch die Klimaziele geforderte Einspeisung von mehr erneuerbaren Energien und die Substitution fossiler Brennstoffe durch Energie in Form von Elektrizität stellen neue Ansprüche an das elektrische Verteilnetz. Eine Anpassung oder ein Ausbau des Netzes ist teuer und nicht wirtschaftlich. Eine Alternative ist, die Teilnehmer «smart zu machen».

Mit der Ratifizierung des Pariser Klimaabkommens und der Entwicklung der Energiestrategie 2050 hat sich die Schweiz für eine tiefgreifende Umgestaltung der heutigen Energielandschaft entschieden. Im Kern geht es um die Reduktion der CO2-Emissionen – und damit auch um die Reduktion fossiler Brennstoffe und deren Substitution durch Energie in Form von Elektrizität. Dabei sollen die vorhandenen Energieeffizienzpotenziale konsequent erschlossen und die Potenziale der Wasserkraft und der neuen erneuerbaren Energien (Sonne, Wind, Geothermie, Biomasse) ausgeschöpft werden. Da die meisten dieser erneuerbaren Energien jedoch volatil und dezentral sind, sind eine Überarbeitung des bestehenden Verteilnetzes sowie die Einführung intelligenter Teilnehmer notwendig.

Netzqualität sicherstellen

Durch die Substitution der bestehenden CO2-behafteten Energien und Kernkraftwerke durch volatile, dezen­trale Wind- und Solarkraftwerke und die Einführung von Elektrofahrzeugladestationen wird die Spannungsqualität des Netzes gefährdet. Die unkoordinierte übermässige Energieeinspeisung von Solar- und Windanlagen sowie der Energiebezug von Elektrofahrzeugladestationen führen zu lokalen Über- oder Unterspannungen im Verteilnetz. Eine Überspannung ist eine Mehrbelastung des Netzes und kann bis hin zur Beschädigung kritischer Komponenten führen. Ausserdem limitiert sie die Einspeisung von Wirkleistung der Solaranlagen und den Bezug von Wirkleistung der Elektrofahrzeugladestationen.

Diese Probleme können mit der Auslegung der Verteilnetze auf Leistungsspitzen vermieden werden. Dies ist jedoch nicht wirtschaftlich, da die Netze grösstenteils nicht vollständig ausgelastet sind. Ein anderer Ansatz ist, die Netzstabilität durch intelligente Regelung zu gewährleisten.

Entwicklung von Algorithmen zur Netzstabilisierung

Eine intelligente Regelung unterschiedlicher Teilnehmer – sogenannter Prosumer (Konsumenten und Produzenten) – innerhalb des Energiesystems kann zur Netzstabilisierung beitragen. Ein Prosumer ist ein Teilnehmer, der an das Verteilnetz angeschlossen ist und Logik ausführen oder Sollwerten folgen kann. Jeder Teilnehmer kann als Prosumer agieren. Dabei stellt sich jedoch die Frage der Wirtschaftlichkeit. Solaranlagen bieten sich an, da sie meistens bereits eine Intelligenz besitzen. Ein moderner Solarwechselrichter kann Wirk- und Blindleistung zur Verfügung stellen. Um eine Solaranlage wirtschaftlich betreiben zu können, ist es wichtig, möglichst viel Wirkleistung zu produzieren, welche stark von der Sonneneinstrahlung abhängig ist. Die Blindleistung hingegen kann aktiv durch die im Wechselrichter eingebaute Elektronik erzeugt werden. Nun kann durch gezieltes Produzieren von Blindleistung die Spannung so beeinflusst werden, dass die Spannungserhöhung durch die Einspeisung von Wirkleistung kompensiert wird.

Dabei können den Solarwechselrichtern sogenannte Kompensationskurven hinterlegt werden, die das Ziel haben, die Wechselrichter im Optimum zu betreiben. Momentan sind entweder keine oder nach deutschem Standard ausgelegte Kompensationskurven implementiert. Diese werden mit der entwickelten Lösung verglichen.

Kompensationskurve

Die Kompensationskurve definiert die Blindleistung in Abhängigkeit von der Spannung, welche am jeweiligen Solarwechselrichter anliegt (Bild  2). Liegt die Spannung unter dem vorgegebenen Sollwert, wird nach Möglichkeit kapazitive Blindleistung eingespeist, aus der eine Erhöhung der Spannung resultiert. Liegt die Spannung über dem vorgegebenen Sollwert, wird nach Möglichkeit induktive Blindleistung eingespeist, aus der eine Senkung der Spannung resultiert. Falls die Spannung trotz maximaler Blindleistungseinspeisung über der vorgegebenen Spannung liegt, wird die einzuspeisende Wirkleistung limitiert (Bild  3).

Variante 1: Keine Kompensationskurve

Ein Solarwechselrichter ohne aktive Kontrolle produziert Wirkleistung unabhängig von der lokalen Spannung und kommuniziert nicht mit anderen Teilnehmern. Diese Variante benötigt keine Kommunikation zwischen den einzelnen Prosumern. Die unkontrollierbare Produktion kann jedoch zu Überspannung führen.

Variante 2: Deutscher Standard

Ein Solarwechselrichter, in welchem die in Deutschland standardisierte Kompensationskurve implementiert ist, definiert den Anteil der Blindleistung in Abhängigkeit zur eingespeisten Wirkleistung (Bild  1). Die eingespeiste induktive Blindleistung reduziert die Spannung und erhöht so die höchstmögliche einzuspeisende Wirkleistung. Diese Variante benötigt keine Kommunikation zwischen den einzelnen Prosumern, kompensiert jedoch die durch die Einspeisung entstehende Überspannung unabhängig von anderen Teilnehmern und vom Netz, was nicht zu einer individualisierten, optimalen Lösung führt.

Variante 3: Hybrid-Ansatz

Der an der ETH in Zusammenarbeit mit der Empa entwickelte Algorithmus definiert dezentral und offline mit Hilfe von «Machine Learning» saisonal für jeden Solarwechselrichter eine individuelle Kompensationskurve. Dazu werden die Spannungsmessungen aller im definierten Verteilnetz beteiligten Solarwechselrichter im Netz erfasst und als Trainings-Set dem Algorithmus übergeben. Dieser eruiert mit Hilfe von «Support Vector Regression» (SVR) die optimale Konstellation der jeweiligen Kompensationskurven (Bild unten). Der Vorgang wird jede Saison wiederholt, um die optimale Performance zu erreichen.

Der Demonstratorenpark auf dem Empa-Campus

Um den Innovationsprozess im Gebäude-, Energie- und Mobilitätsbereich zu beschleunigen, hat das Forschungsinstitut Empa in den letzten Jahren am Standort Dübendorf verschiedene Demonstratoren, sogenannte Research and Technology Transfer Platforms, aufgebaut. Dabei handelt es sich um die Grossprojekte Nest, Move, Ehub und Dhub, die in enger Zusammenarbeit mit Forschungspartnern und mit der Industrie marktfähige Lösungen im Gebäude-, Mobilitäts- und Energiebereich hervorbringen sollen. [1]

Validierung im realen Quartier

Der Demonstratorenpark der Empa (Bild unten) bietet die Gelegenheit, die oben genannten Algorithmen in der Realität zu validieren: Teil der Untersuchung sind die Units «Vision Wood», «Meet2Create» und «Solare Fitness & Wellness». Letzteres ist eine Fitness- und Wellnessanlage, die mit Solar­energie betrieben und regelmässig genutzt wird. Bei «Vision Wood» handelt es sich um eine Wohngemeinschaft, in der zwei Studierende wohnen, und «Meet2Create» ist eine Büroumgebung, in der in verschiedenen Zonen gearbeitet wird. Der Ehub verbindet alle diese Units. Sämtliche installierten Komponenten lassen sich über ein standardisiertes Interface übersteuern und auslesen. Bei der Störung einer übersteuerten Komponente wechselt diese automatisch in den «Fall Back»-Modus und wird konventionell geregelt.

Drei Solarwechselrichter und drei normale Verbraucher

Die für den vorliegenden Fall wichtigsten Komponenten sind im obenstehenden ersichtlich. Die Regelung der Solarwechselrichter (8, 9, 10) in der Unit «Solare Fitness & Wellness» (11) wird durch die genannten Algorithmen übernommen. Die Units «Meet2Create» (13), «Vision Wood» (14) und «Solare Fitness & Wellness» (11) fungieren als normale Verbraucher. Mit Hilfe der vorhandenen Batterien (4) wird am Mittag eine zusätzliche Leistung von 21  kW eingespeist, um Überproduktion zu simulieren.

Durch die eingespeiste Wirkleistung soll eine möglichst hohe Überspannung im Netz simuliert werden und das Verhalten der im «Solare Fitness & Wellness» vorhandenen Solarwechselrichter (8, 9, 10) beobachtet werden. Die kritische Überspannung wird nicht bei 440  V, sondern bei 400,4  V gesetzt, da dies zur maximalen Spannung passt, die in diesem Fall mit dem bestehenden Batteriesystem (4) simuliert werden kann. Dieser Vorgang wird mit allen drei Varianten (Keine Kompensationskurve, Deutscher Standard, Hybrid-Ansatz) wiederholt. Die Spannung wird an den neuralgischen Punkten im Netz gemessen und die Ergebnisse werden einander danach gegenübergestellt, um die Performance der jeweiligen Algorithmen zu vergleichen.

Ergebnisse

Die Qualität der einzelnen Kompensationskurven kann quantifiziert werden, indem die resultierte Spannung im lokalen Netz bei gleichem Benutzerprofil und gleicher Hardwareinstallation gemessen wird (Bild unten).

Am ungünstigsten schneidet der Betrieb ohne Kompensationskurve ab. Dieser führt zur maximalen Überspannung von 400,93  V (blau). Der günstigste Fall ist eine optimale Kompensationskurve bei perfekter Voraussage des Benutzerprofils, was zur niedrigsten, ohne Netzausbau möglichen Spannung von 400,4  V (rot) führt. Die Deutsche Kompensationskurve ist gelb dargestellt. Sie ist mit einer resultierenden Spannung von 400,8  V (gelb) nur minimal tiefer als die Spannung bei keiner Verwendung einer Kompensationskurve. Der Bellizio-Algorithmus besticht durch die resultierende Spannung von 400,6  V (violett), was einer Verbesserung um bis zu 60 % entspricht. Diese Spannung sänke noch weiter, würde ein Wechselrichter mit einem grösseren Blindleistungsbereich verwendet.

Implementierung für weitere Prosumer

In einem nächsten Schritt wird der gleiche Ansatz bei anderen möglichen Prosumern wie Wärmepumpen, Elektrotankstellen und Energiespeichersystemen (ESS) implementiert und im Rahmen des Demonstratorenparks der Empa überprüft. Des Weiteren ist das Ziel, den entwickelten Algorithmus in der Praxis auszutesten, um die bestehende deutsche Norm langfristig durch eine optimalere Lösung zu ersetzen. Dadurch könnte noch mehr Solarstrom ins Netz eingespeist werden und damit die CO2-Emissionen bei der Produktion von Elektrizität weiter reduziert werden.

Referenz

[1]   Reto Fricker, «Flexible Forschung mit flexibler Kommunikation», Bulletin SEV/AES 7|8/2018, S. 36–40.

Autor
Ralf Knechtle

ist Control Engineer bei der Empa.

  • Empa, 8600 Dübendorf

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