Interview Energiemarkt , Märkte und Regulierung , Unternehmensorganisation

«Ein Rückzug ist für uns keine Lösung»

Interview mit Swissgrid-CEO Yves Zumwald

28.08.2018

Swissgrid, die Betreiberin des nationalen Übertragungsnetzes, steht vor grossen Herausforderungen. CEO Yves Zumwald zeigt im Gespräch die Aufgaben und Prioritäten des Unternehmens auf, welche Rolle die Schweiz im europäischen Stromnetz einnimmt und warum ein Strommarktabkommen mit der Europäischen Union wichtig ist.

Bulletin: Yves Zumwald, das Verhältnis zwischen der Schweiz und Europa ist beim Strom immer noch ungeklärt. Ist die Netzstabilität in der Schweiz damit bedroht?

Yves Zumwald: Die Herausforderungen werden immer komplexer. Denn das Netz ist wegen unvorhergesehener und punktueller Stromflüsse überlastet, was die Stabilität des Systems zunehmend gefährdet. Die Einführung eines Re-Dispatch-Marktes mit der Branche in einem integrierten Markt ist für 2019 vorgesehen. Ohne Stromabkommen müssen wir in der Schweiz Lösungen finden, um Netzüberlastungen infolge ungeplanter europäischer Stromflüsse zu minimieren. Mit der Integration der Märkte steigt diese Überlastung, ebenso die Risiken für die Systemstabilität.

Was muss Swissgrid unternehmen, um die Stabilität des schweizerischen Netzes aufrechtzuerhalten?

Unser gesetzlicher Auftrag in der Schweiz lautet, die Stabilität des nationalen Netzes zu gewährleisten. Doch dieses nationale Netz gibt es nur im Gesetz. Effektiv handelt es sich um ein europaweites Netz, und alle 43 Übertragungsnetzbetreiber müssen denselben Regeln folgen, um die Stabilität sicherzustellen. Auf nationaler Ebene erarbeiten wir sowohl technische Massnahmen als auch Marktmassnahmen, um dafür zu sorgen, dass das Netz nicht überlastet ist. Bis Anfang 2019 führen wir in der Schweiz den integrierten Markt ein, also einen lokalen Markt – ebenfalls um die Netzstabilität zu gewährleisten. Und wir bauen natürlich das Netz 2025.

Wie funktioniert der Strommarkt in Europa heute, und wie hat er sich in den letzten Jahren entwickelt?

In den 1990er-Jahren setzte sich die Europäische Kommission zum Ziel, in Europa einen wettbewerbsfähigen, offenen und grenzüberschreitenden Strommarkt zu schaffen, damit die Endverbraucher von günstigen Tarifen profitieren. Momentan werden die Übertragungskapazitäten maximal hochgeschraubt, damit der europäische Binnenmarkt möglichst liquide ist. Die Schweiz muss all diese Kapazitätsaustausche hinnehmen und sich so absichern können, dass sie in Krisensituationen Strom importieren kann. Diese Situation wird sich mit der weiteren Konsolidierung und der Kopplung der europäischen Märkte weiter zuspitzen.

Welche Rolle spielt die Schweiz im europäischen Elektrizitätsnetz?

Seit der Zusammenschaltung der Stromnetze der Schweiz, Frankreichs und Deutschlands im Jahr 1958 in Laufenburg agierte die Schweiz bei der Entwicklung des europäischen Verbundnetzes als Vorreiterin. Nun stellt sich die Frage, wie unsere künftige Rolle aussieht. Ich denke, dass wir eine wichtige Rolle in der Entwicklung des europäischen Stromsystems spielen können, um die Herausforderungen der Energiewende anzugehen. Ein Rückzug ist für uns keine Lösung. Auf Ebene des Marktes und in Anbetracht der Entwicklung in Europa besteht jedoch das Risiko, dass wir die Folgen der Entwicklungen zu tragen haben, statt an diesen teilzuhaben – so ist die Schweiz momentan von der Marktkopplung oder vom XBID (europäischer Intraday-Markt) ausgeschlossen. Die Schweiz steht bei den europäischen Entwicklungen immer mehr im Abseits.

Ist ein Abkommen mit der EU für die Schweiz zwingend? Welche drei Gründe machen Ihrer Meinung nach ein Abkommen mit der EU notwendig?

Für Swissgrid ist ein Abkommen wichtig und nötig, um das System stabil zu halten, damit gleiche Regeln für alle Länder gelten, und um von den Verbindungskapazitäten zu profitieren. Die Schweiz muss in den Intraday-Markt eingebunden sein, eine grössere Flexibilität bei der Wasserkraft schaffen und die Vorteile der europäischen Regelungen nutzen können. Schliesslich erlaubt ein Abkommen, die Importkapazität und die Versorgungssicherheit der Schweiz mittel- und langfristig zu gewährleisten.

Swissgrid wird vorgeworfen, in Bezug auf die Situation ohne Abkommen zu übertreiben. Was sagen Sie dazu?

Ich denke, dass es wichtig ist, das Stromversorgungsgesetz genau zu lesen und sich in Erinnerung zu rufen, wer für die Netzsicherheit verantwortlich ist. Swissgrid nimmt ihre Verantwortung wahr und informiert über die Herausforderungen für den Netzbetrieb. Unsere Rolle beinhaltet auch Kommunikation und Aufklärung. Wenn die 200 Ingenieure, die unser Netz rund um die Uhr betreiben, mir sagen, dass die Lage angespannt ist, analysieren wir die Situation – wie beispielsweise im Winter 2015. Wir holen eine Zweit- oder gar eine Drittmeinung ein und behalten die Auswirkungen auf die Netzsicherheit immer im Auge.

Wie gross ist der Handlungsspielraum von Swissgrid? Oder anders gefragt: In welchem Zeitraum muss ein Abkommen mit der EU abgeschlossen werden?

Je früher, desto besser. Denn dann können wir die Entwicklungen beeinflussen, statt nur die Auswirkungen einer Entwicklung, an der wir uns nicht beteiligen konnten, zu tragen. Ich hoffe, dass wir für das technische Problem der Kapazitäten bis Ende Jahr eine technische Lösung haben. Ich bin mir jedoch bewusst, dass die Schlussverhandlungen eines Abkommens Zeit in Anspruch nehmen.

Wie häufig kommt es zu heiklen Situationen im Netz, von denen die Stromverbraucher nichts ahnen?

Wir stellen fest, dass die Anzahl «heikler» Situationen von ein bis zwei Fällen jährlich auf drei bis vier Fälle pro Woche gestiegen ist. Pro Jahr kann dies bis zu 200 Fälle ausmachen. Mit der zunehmenden Marktkopplung wird die Zahl der «heiklen» Situationen noch steigen.

Welche Prioritäten verfolgt Swissgrid?

Nach einer Konsolidierungsphase, der Übernahme des Übertragungsnetzes und der Erneuerung unserer Informatiksysteme haben wir fünf strategische Stossrichtungen festgelegt. Sicherheit ist unsere erste Priorität – aus Sicht der Technik, aber auch punkto Sicherheit der Mitarbeitenden am Arbeitsplatz, auf den Baustellen. Es geht um die Sicherheit für Menschen, Anlagen und Umwelt. Unsere Ziele sind ein integrierter Anlagen- und Systembetrieb, um Effizienz und Sicherheit des Übertragungsnetzes zu erhöhen, sowie der intelligente Einsatz neuer Technologien, um die Versorgungssicherheit effizient aufrechtzuerhalten und aus der bestehenden Infrastruktur mehr herauszuholen. Swissgrid setzt sich zudem für eine enge Zusammenarbeit mit den Partnern in der Schweiz und in Europa ein. Ausserdem entwickeln wir unsere Unternehmenskultur weiter.

Mit welchen Herausforderungen werden Sie in Ihrer Funktion im Alltag konfrontiert?

Wir haben auf mehreren Ebenen verschiedene Herausforderungen: Erstens geht es darum, dass die Bevölkerung und die lokalen Anbieter die Tätigkeiten von Swissgrid und die Herausforderungen beim Betrieb des Höchstspannungsnetzes verstehen. Danach müssen wir uns den Herausforderungen stellen, die aus dem heutigen Ausschluss der Schweiz aus den Entwicklungen des europäischen Marktes und aus der Zunahme der erneuerbaren Energien für das Stromnetz resultieren. Und schliesslich müssen wir unsere Infrastrukturen, die aus den 60er- und 70er-Jahren stammen, erneuern und das Netz 2025 bauen. Diesbezüglich hoffen wir, dass die Strategie Stromnetze des Bundesrates eine drastische Beschleunigung der Bewilligungsverfahren zulässt.

Was erhoffen Sie sich als CEO von Swissgrid mittelfristig?

Ich habe drei Wünsche: Ich wünsche mir, dass das Netz 2025 bis 2025 gebaut wird, dass die Schweiz Teil des europäischen Marktes wird, um eine langfristige Versorgungssicherheit zu gewährleisten, und dass die Schweiz innovative, in den Markt integrierte Lösungen umsetzt, um die Herausforderungen der Energiewende zu meistern. Dazu gilt es, die Zusammenarbeit zwischen den Verteilnetzbetreibern und dem Übertragungsnetzbetreiber zu intensivieren, das «Smart Grid» in den Markt zu integrieren und neue Produkte zu entwickeln, damit die Branche wirtschaftlich von diesen Entwicklungen profitieren kann. Es wäre gut, wenn die Schweiz bei diesen Ideen zehn Jahre Vorsprung hätte, statt zehn Jahre hinterherzuhinken.

Können Sie uns das Projekt «Spannungshaltung» erklären?

Hierbei handelt es sich um ein Projekt, das die Anbieter dazu anregt, lokale Lösungen umzusetzen, die auf ihrer Spannungsebene durch die Nutzung der Blindenergie ihrer Anlagen mehr Dynamik zulassen.

Über Swissgrid

Swissgrid hat den Auftrag, das Übertragungsnetz zuverlässig, effizient und diskriminierungsfrei zu betreiben, das Netz 2025 der Zukunft zu bauen sowie ein sicheres Netz und umweltverträgliche Infrastrukturen zu gewährleisten. Swissgrid kümmert sich nicht nur um die Übertragung der elektrischen Energie, sondern stellt auch einen stabilen Betrieb des Stromsystems sicher. Sie stimmt ihre Arbeit zudem mit 43 europäischen Übertragungsnetzbetreibern ab. Mit 41 Leitungen zu ihren Nachbarländern ist die Schweiz das am besten vernetzte Land der Welt. Als Stromdrehscheibe im Herzen Europas ist sie ein Transitland, das künftig noch an Bedeutung gewinnen wird. Denn in der Energiestrategie 2050 setzt die Schweiz darauf, in gewissen Perioden im Jahr Strom importieren zu können. Zudem verlässt sich Italien auf die Transitkapazitäten der Schweiz.


www.swissgrid.ch

Autorin
Céline Reymond

war vom 1. Januar 2013 bis 31. Januar 2020 Mediensprecherin und Redaktorin VSE.

  • VSE, 5000 Aarau

Zur Person

Yves Zumwald ist Elektroingenieur und hat seine berufliche Laufbahn in der Energiewirtschaft bei Energie Ouest Suisse (EOS) begonnen. Anschliessend bekleidete er Schlüsselpositionen bei der EOS Holding und bei der Groupe Romande Energie. Seit Januar 2014 ist Yves Zumwald, zunächst als Leiter Grid, Mitglied der Geschäftsleitung von Swissgrid. Im März 2016 hat ihn der Verwaltungsrat zum CEO ernannt.

 

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