Fachartikel Erneuerbare Energien , Infrastruktur

Ein Energiemodell für das lokale Verteilnetz

Flexibilitäten steuern auf Gemeindeebene

03.05.2021

Die Gemeinde Fehraltorf bereitet sich auf den Netzbetrieb vor, wenn in Zukunft PV-Anlagen, Wärmepumpen und Elek­troautos den Lastgang dominieren.

Das elektrische Netz wandelt sich: Hausbesitzer installieren Photovoltaik-Anlagen (PV), ersetzen alte Ölheizungen durch Wärmepumpen und kaufen Elektroautos. Die Energieflüsse im Verteilnetz einer Gemeinde ändern sich.

Ein Elektroauto lädt die Batterie normalerweise mit 7 bis 22 kW. Ein typischer Hausanschluss beträgt bei einem Mehrfamilienhaus 100 kW. Sobald mehrere Ladestationen in einer Tiefgarage installiert sind, muss der Hausanschluss beachtet werden. Auch auf Quartierebene muss das Gemeindewerk darauf achten, dass nicht zu hohe Ströme fliessen. Sonst werden Spannungsgrenzen unterschritten, wenn am Feierabend mehrere Elektroautos gleichzeitig laden und Wärmepumpen die Leistung erhöhen, weil es kühler wird.

Hinzu kommt, dass Leistungsspitzen kosten: Das Gemeindewerk muss sie teuer beim übergeordneten Werk einkaufen.

Zehnmal mehr Photovoltaik

Gemäss Energiestrategie 2050 des Bundes soll die Photovoltaik bis 2035 von heute 2,5 TWh (2019) auf 26 TWh ausgebaut werden. Der eingespeiste Strom aus PV-Anlagen verzehnfacht sich in den kommenden 10 bis 15 Jahren. An einem schönen Sonntagmittag, wenn die Sonne scheint, aber wenig Strom verbraucht wird, besteht die Gefahr, dass in einem Quartier die Spannung über die Grenzwerte steigt.

Messdaten fehlen

Heute misst kaum ein Gemeindewerk die Ströme und Spannungen im Verteilnetz. Die Anlagen sind so ausgelegt, dass im Normalbetrieb alle Grenzen eingehalten werden. Bei Häusern rechnet das Werk mit einem Gleichzeitigkeitsfaktor von 0,3. Das bedeutet, dass die Leistungen der Hausanschlüsse mit dem 0,3-Fachen addiert werden. Man geht davon aus, dass nicht alle Kunden gleichzeitig ihren Anschluss voll ausnutzen. In Zukunft könnte jedoch genau dies geschehen, wenn PV-Anlagen, Elektroautos und Wärmepumpen die Netzströme dominieren.

Verteilnetz unter Kontrolle halten

Das Gemeindewerk Fehraltorf überlegte sich, was es tun muss, um auch in Zukunft das Netz unter Kontrolle zu halten. In einem ersten Schritt wollte es das eigene Netz besser kennenlernen. Die Standardlastprofile, welche der VDE (Verband der Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik e. V.) vor 20 Jahren publiziert hat, charakterisieren den Stromverbrauch heute nur noch bedingt. Welche Geräte im Netz dominieren den Verbrauch? Welche Charakteristik haben sie? Dazu wurde in einer Semesterarbeit der ZHAW [1] untersucht, wie viele PV-Anlagen, Ladestationen für Elektroautos, Wärmepumpen und Elektroboiler im Netz von Fehraltorf installiert sind, und wie deren Charakteristik für den Netzbetrieb modelliert werden kann.

Netzbetrieb optimieren

In einem nächsten Schritt sollen die Flexibilitäten im Netz genutzt werden, um den Betrieb zu optimieren: Elektroautos müssen selten zu einer bestimmten Zeit geladen werden – es reicht, wenn die Batterie am nächsten Tag voll ist. Sie kann dann geladen werden, wenn es für den Netzbetrieb günstig ist. In der Praxis wird die Leistung der Ladestationen beispielsweise am frühen Abend limitiert.

PV-Anlagen können abgeregelt werden. Auch wenn die Eigentümer entschädigt werden müssen, kann dies günstiger sein, als das Netz teuer auszubauen. Wärmepumpen sind etwas komplizierter. Theoretisch können sie zeitweise abgeschaltet werden. Das Haus speichert die Wärme – thermisch ist es ein träges System. Moderne Wärmepumpen modulieren aber die Leistung kontinuierlich und laufen den ganzen Tag über. Sie dürfen deshalb nur kurz ausgeschaltet werden. Die Heizungen können aber mit Wasserspeichern erweitert werden. Bereits einige 100 l reichen für mehrere Stunden Flexibilität.

Die Lasten im Netz können zeitlich oder örtlich verschoben werden. Letzteres wird genutzt, wenn in einem Ast des Verteilnetzes die Ströme zu hoch werden. So kann die eingespeiste Leistung einer PV-Anlage im selben Quartier verbraucht werden, um Leistungsspitzen zu brechen.

Energiemodell für Fehraltorf

Zurück zur Modellierung des Energieverbrauchs von Fehraltorf: In der Semesterarbeit wurden die PV-Anlagen, Wärmepumpen, Boiler und Ladestationen für Elektroautos separat modelliert, um die Standardlastprofile zu verbessern. Daneben wurden die Wetterdaten berücksichtigt: Temperaturen, Sonnenschein (Dauer und Intensität der Einstrahlung je nach Saison sowie die Bewölkung), Niederschlag und Schneehöhe.

PV-Anlagen

Um die PV-Anlagen auf dem Gemeindegebiet zu modellieren, wurden die Daten aus dem Solarkataster des GIS-Browsers des Kantons Zürichs genutzt und mit den Informationen der Gemeinde sowie mit Google Earth abgeglichen. So wurden die installierte Fläche, die Neigung und die Ausrichtung der Module erfasst. Daraus lässt sich mit den Wetterdaten die eingespeiste Leistung berechnen. Dabei wird berücksichtigt, dass bei einer privaten PV-Anlage rund 30 % als Eigenverbrauch genutzt werden; bei industriellen PV-Anlagen liegt dieser Wert bei 50 %.

Das Energiemodell berechnet den Vektor der Sonneneinstrahlung und daraus die Leistung der PV-Module anhand deren Ausrichtung. Die Einspeiseprofile zeigen bei schönem Wetter eine typische Gausskurve mit einem Maximum von rund 1,1 MW für die Gemeinde Fehraltorf. Sobald Wolken die PV-Module abdecken, reduziert sich die Leistung wie in obenstehendem Bild zu sehen. Für Tage mit komplett bedecktem Himmel wird die Leistung bei diffusem Licht berechnet.

Einen wesentlichen Einfluss hat die Temperatur der Module: Bei kühlem Wetter sind die Photovoltaik-Zellen effizienter. Im Mai wird besonders viel Strom erzeugt, wenn die Sonne steil am Himmel steht, die Temperaturen aber noch niedrig sind.

Wärmepumpen

Für die Wärmepumpen war es schwieriger herauszufinden, wie viele Geräte mit welchen Leistungen auf dem Gemeindegebiet installiert sind. Ein entsprechendes Register ist in Bearbeitung. Der Kanton stellt aber die Daten aller Erdsonden zur Verfügung. Aus der Länge der Erdsonden lässt sich abschätzen, wie gross die Leistung der Wärmepumpen ist.

Natürlich sind damit nur Wärmepumpen mit Erdsonden berücksichtigt. Zu den Luftwärmepumpen gibt es keine Daten. Ausser dem generellen Verhältnis von in der Schweiz installierten Erdwärmepumpen (28 %) zu Luftwärmepumpen (71 %). Das restliche Prozent sind Wasserwärmepumpen (Grundwasser, Seen).

Um den Stromverbrauch der Wärmepumpen zu berechnen, wurde bei den Erdwärmepumpen ein Leistungsfaktor (COP) von 4,3 und bei Luftwärmepumpen ein COP von 3,1 angenommen. Das sind die minimalen Werte, welche die Fachvereinigung Wärmepumpen Schweiz (FWS) verlangt.

Nun fehlt noch die Information, zu welcher Tageszeit die Wärmepumpen eingeschaltet sind. Für die Schweiz gibt es keine öffentlich publizierten Lastprofile dazu. In Deutschland hingegen ist es gängige Praxis, diese Daten herauszugeben. Für das Energiemodell der Wärmepumpen auf dem Gemeindegebiet von Fehraltorf wurde deshalb ein Profil für unterbrechbare Lasten von den Stadtwerken München eingesetzt. Nun kann aus den Wetterdaten, der Anzahl und der Leistung der installierten Wärmepumpen sowie dem typischen Lastprofil die Leistungskurve über den Tag berechnet werden.

Boiler

Bei den Boilern wurde auf das Know-how der in Fehraltorf ansässigen Firma Swistec Systems AG zurückgegriffen, die mit ihren Rundsteuersendern und -empfängern in vielen Gemeinden Boiler schaltet. Eine Gruppe von Boilern beschreibt eine typische S-Kurve als Last. Wird die Gruppe eingeschaltet, heizen zuerst alle Boiler. Je nach vorgängiger Temperatur dauert die Ladung unterschiedlich lange.

Um die installierte Leistung der Boiler zu bestätigen, wurden über die Rundsteuersignale zusammengeschaltete Gruppen einzeln eingeschaltet und der Leistungssprung im Gesamtverbrauch der Gemeinde wurde kontrolliert. Um die Boiler ins Energiemodell der Gemeinde einzubinden, müssen schliesslich die Zeiten ins Modell einfliessen, wann die Boiler von den Rundsteuersignalen freigegeben werden.

Elektroautos

Für die Lastprofile der Elektroautos wurde auf eine Arbeit von Luca Giordi [2] zurückgegriffen: Er berechnete anhand von 10'000 Ladevorgängen, deren Daten die niederländische Firma ElaadNL zur Verfügung stellte, die typischen Lastprofile für eine Gruppe von Elektroautos. Die Lastprofile unterscheiden sich je nach Auto. So lädt ein Tesla mit bis zu 17 kW (im Haushalt) und ein Renault Zoe mit bis zu 22 kW, während ein VW E-Golf oder ein Opel Ampera mit maximal 7,2 respektive 7,4 kW laden. Ein BMW i3 liegt mit 11 kW dazwischen. Für das Energiemodell wurde eine zufällige Flotte von Elektroautos zusammengestellt.

Der Gemeinde ist bewusst, dass nicht alle Ladestationen gemeldet werden, und dass viele Elektroautos auch an gewöhnlichen Steckdosen geladen werden mit entsprechend geringer Leistung.

Die gerechneten Lastprofile zeigen, dass Elektroautos an einem Wochentag typischerweise zwischen 10 und 20 Uhr geladen werden, mit einem zusätzlichen Peak nach Mitternacht. An einem Wochenende verschieben sich die Ladezeiten auf die Spanne zwischen 12 und 22 Uhr.

Modell verfeinern

Das resultierende Energiemodell für die Gemeinde Fehraltorf wurde mit den öffentlich zugänglichen Lastprofilen der deutschen Stadt Freiburg im Breisgau verfeinert und mit den effektiven Verbrauchsdaten von Fehraltorf geeicht. Anhand von Tageszeit, Monat und dem Wetter kann der Verbrauch nun auf wenige Prozent genau vorausgesagt werden (Bild unten).

Das Energiemodell zeigt auch, wie gross die Flexibilitäten sind – wie viel Leistung über eine gewisse Zeit oder örtlich verschoben werden kann. In den Wintermonaten sind dies je nach Tageszeit und Wetter zwischen 5 und 40 % des Verbrauchs, im Sommer zwischen 0 und 40 %.

Digitaler Zwilling

Parallel zum Energiemodell wurde die Simulationsplattform von Adaptricity genutzt, um Messdaten aus dem Verteilnetz auf einem Browser-basierten Dashboard darzustellen und auszuwerten (Bild unten); in einer ersten Phase in einem begrenzten Versuchsaufbau. Die Simulationsplattform kann nun auf das gesamte Netz von Fehraltorf erweitert werden.

Das Pilotprojekt hat gezeigt, dass es möglich ist, Lastprofile genau vorherzusagen. Noch läuft die Steuerung auf dem Gemeindegebiet von Fehraltorf über die klassische Rundsteuerung. In einer nächsten Phase sollen an kritischen Stellen im Netz Geräte installiert werden, die Ströme und Spannungen messen sowie Flexibilitäten steuern, um Lasten zu verschieben. Dazu werden Algorithmen entwickelt, die in den installierten Geräten zum Einsatz kommen. Innerhalb der Simulationsplattform wird zugleich der digitale Zwilling des Verteilnetzes sukzessive ausgebaut. Die Plattform liefert die Sollwerte für die Regler.

Flexibilitäten steuern

Um die flexiblen Lasten zu steuern, entwickelt Swistec zwei verschiedene Gerätelinien: Einen Smart Grid Controller, der die lokalen Spannungen, Frequenzen und Ströme misst und die Flexibilitäten über ein Bus-Protokoll oder externe Relais steuern kann. Das zweite Gerät ist ein klassisches Laststeuergerät mit Relais-Ausgängen, das die Flexibilitäten wie bisher über die Netzkommandoanlage steuert und zusätzlich über einfache Smart-Grid-Algorithmen verfügt.

Die Parameter für die Algorithmen werden offline mit Sollwerten aus dem digitalen Zwilling berechnet. Sie bestimmen, wann eine Lastgruppe örtlich oder zeitlich verschoben oder deren Leistung limitiert wird. Die Algorithmen arbeiten lokal in den Steuergeräten, ohne ständige Datenverbindung zum Netzbetreiber. Während das einfachere Laststeuergerät die Flexibilitäten nur ein- oder ausschaltet, kann der intelligentere Smart Grid Controller die Geräte zusätzlich über EEBus oder Modbus TCP steuern und beispielsweise die Flexibilitäten über die lokalen Messwerte abregeln.

Das Gemeindewerk Fehraltorf hat nun ein Konzept, wie es das Verteilnetz unter Kontrolle halten kann, wenn künftig deutlich mehr PV-Anlagen, Wärmepumpen und Ladestationen für Elektroautos installiert werden. Der digitale Zwilling wächst parallel zu den neuen Flexibilitäten im Netz.

Referenzen

[1]   Linda Rüegg, Roger Hiltebrand, «Energy Model for Municipality Flexibility Investigation», ZHAW IEFE, Winterthur, 2020.
[2]   Luca Giordi, «Investigation on a solution to mitigate the impact of EVs on the distribution grid», ZHAW IEFE, Winterthur, 2020.

Autor
Guido Santner

ist freier Wissen­schafts­journalist.

Kommentare

Bitte rechnen Sie 1 plus 6.