Fachartikel Energiemarkt , Märkte und Regulierung

Ein Denkmodell zur Energiezukunft

Verbesserte Nachvollziehbarkeit

27.05.2018

Die Energiebranche ist investitionsintensiv. Der Entscheid, finanzielle Mittel gebunden einzusetzen, ist daher von grosser Tragweite für ein Unternehmen und muss gut abgesichert sein. Ein Denkmodell auf Basis der VSE-Energiewelten soll nun ermöglichen, solche Entscheide transparent und dynamisch anpassbar zu treffen.

Prognosen zur Entwicklung der Energiebranche und den damit verbundenen Investitionsentscheiden zu machen, ist in den letzten Jahren immer schwieriger geworden. Neue Technologien, neue Märkte und Änderungen der gesetzlichen Rahmenbedingungen stellen Zukunftsszenarien immer wieder in Frage und führen zu Revidierungen. Gleichzeitig bringt jede dieser Änderungen wieder neue, detaillierte Einschätzungen der Zukunft aus ganz verschiedenen Quellen hervor. Auch in sich schlüssige, gut recherchierte und wissenschaftlich korrekte Studien unterschiedlichen Ursprungs können zu grundverschiedenen Zukunftsszenarien führen. Müssen nun Investitionsentscheide aufgrund dieser Szenarien gefällt werden, sind Diskussionen unvermeidlich. Argumente unterschiedlichster Studien werden angeführt, die gänzlich verschiedene Ansätze verfolgt haben. Die Nachvollziehbarkeit zwischen Diskussionspartnern ist nicht mehr gegeben und damit auch die Nachvollziehbarkeit der danach getroffenen Entscheidung.

Anhand des Beispiels Smart Metering soll gezeigt werden, wie Denkmodelle erstellt werden können, die zu einer besseren Diskussion über die Zukunft führen können. Hierfür wird ein Zukunftsmodell für Smart Metering nachvollziehbar erstellt und dann diskutiert. Die Methodik basiert dabei auf den Ansätzen der «Energiewelten» des Verbandes Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen VSE.

Aufgrund regulatorischer Vorgaben stehen für viele Energieversorgungsunternehmen (EVU) Investitionen in Smart-Metering-Technologie an. Die Technologiewahl hängt stark mit dem späteren Nutzen, den man von der neuen Infrastruktur erwartet, zusammen. Doch bei vielen möglichen Nutzen ist fraglich, ob diese überhaupt relevant werden, denn sie hängen von Zukunftsszenarien ab.

Betrachten wir zwei Nutzen, deren Relevanz unklar erscheinen mag: die Erhöhung des Energiebewusstseins beziehungsweise der Energieeffizienz des Stromkunden durch Lastgangvisualisierung sowie die Nutzung von Smart-Meter-Daten zur Verbesserung von Netzanalysen (im Folgenden jeweils «Erhöhung der Energieeffizienz» und «Netzanalysen» genannt). Man kann nun Studien zu genau diesen Punkten zitieren, um eine Einschätzung zu erhalten. Aber diese Studien basieren ihrerseits auf Details, über die eine Übersicht zu behalten schwierig ist, und die ihrerseits ebenfalls durch neue Informationen (zum Beispiel neue Technologien oder politische Entwicklungen) revidiert werden könnten. Als Denkmodell für Energieszenarien bietet sich deshalb ein holistischer Ansatz an. Anstatt Entscheidungen aufgrund einer detaillierten Mikroebene zu treffen, muss es eine Makroebene geben, die einfach anwendbar, nachvollziehbar und bestenfalls auch grafisch darzustellen ist. Konkret bedeutet das, die möglichen Zukunftsszenarien auf eine kleine Menge an Variablen zu reduzieren und somit Szenarienräume zu erstellen. Dann kann überlegt werden, unter welchen Bedingungen einer der behaupteten Nutzen überhaupt relevant ist und ob ein mögliches Zukunftsszenario in diese Bedingungen fällt.

Szenarienräume für Smart Metering

Sehr anschaulich kann man das Denkmodell darstellen, wenn man jeweils zwei Variablen gleichzeitig betrachtet und somit eine 2D-Grafik erstellen kann. Für das Beispiel Smart Metering bietet sich in einem ersten Schritt das VSE-Denkmodell an. Dieses Denkmodell entspricht genau dem oben beschriebenen Prinzip: Anstatt Details, wie Technologie, politische Entwicklungen, Demografie und andere Komponenten separat zu betrachten, wird die Makroebene – der Szenarienraum – nur aus zwei passenden Variablen aufgebaut: «Vernetzung mit der EU» und «Zentralität der Versorgung». Zur Veranschaulichung hat der VSE den vier Extremen auch Namen gegeben: «Trust World», «Local World», die «Trade World» und «Smart World». Dass diese Einteilung möglich ist, zeigt auch eine wichtige Eigenschaft der beiden Variablen: Sie müssen möglichst unabhängig voneinander sein. Man muss also eine Vorstellung für jede Kombination der Variablen haben können. Mit dieser Grafik können Verantwortliche ihre Entscheidungen bereits viel einfacher begründen.

Für Smart Metering ist dieses Modell aber noch nicht genug. Aus technologischer Sicht befindet sich Smart Metering nämlich näher an der Telekommunikationsbranche als an der Energiebranche. Um die Potenziale von Smart Metering zu beurteilen, braucht es ein weiteres Modell, das den zukünftigen Umgang der Gesellschaft mit Daten wiedergibt: Das Daten-Denkmodell. Analog zum VSE-Denkmodell wurde der Szenarienraum auch hier auf zwei Variablen reduziert: die Fragen, wie liberal die Gesellschaft mit ihren persönlichen Daten umgeht und wie fragmentiert Datensysteme sind, beziehungsweise ob sich generelle Datenstandards durchsetzen. Um zu zeigen, dass auch hier beide Variablen relativ unabhängig voneinander sind, werden die vier Extreme benannt und beispielhaft beschrieben.

Bei extremer Systemfragmentierung und stark restriktivem Umgang mit persönlichen Daten wird hier von einer «Analogen Gesellschaft» gesprochen. Systeminteroperabilität ist kaum gegeben, weshalb automatische Systeme im Allgemeinen ineffizienter sind als manuelle Prozesse. Auf Smart Metering bezogen heisst das, dass Endkunden explizit ihre Erlaubnis für das Messen von 15-Minuten-Werten geben müssen und Smart Meter im Allgemeinen nur zur Reduktion von manuellen Ablesungen beitragen, aber sonst kaum Applikationen haben.

Eine fragmentierte Systemlandschaft mit einem liberalen Umgang mit Daten wird hier als «Konkurrenz-Gesellschaft» bezeichnet. Sie zeichnet sich durch eine Reihe von Systemen aus, mit ähnlichen Features, aber ohne Interoperabilität, ähnlich wie heutzutage zum Beispiel Chat-Programme immer die gleichen Funktionen haben, aber selten untereinander kommunizieren können. Bezogen auf Smart Metering bedeutet das ein allgemeines Vorhandensein von Daten. Es fehlen aber die Anreizsysteme, um die Anwendungsmöglichkeiten der Daten voll auszuschöpfen.

Ein restriktiver Umgang mit Daten bei hoher Interoperabilität, plakativ als «Blockchain-Gesellschaft» bezeichnet, zeichnet eine hoch automatisierte Industrie aus, die aber stark dezentral ausgerichtet ist. Daten sind allgemein vorhanden und interagieren auch zusammen, werden aber von automatischen Systemen verwaltet, die mit einem Minimum an manuellen Prozessen auskommen und somit auch von keiner zentralen Instanz einsehbar sind. In Bezug auf Smart Metering könnten mit den Daten automatisierte Auktionen für dezentrale Produktion und Nachfrage durchgeführt werden.

Die «Gläserne Gesellschaft» besteht, wenn Systeme konsolidiert sind und ein starker, liberaler Umgang mit persönlichen Daten besteht. Beim Geschäftsmodell von grossen Tech-Unternehmen wie Facebook oder Google geben Privatpersonen ihre Daten für einen Gegenwert ab. Dank Datenstandards sind diese Daten auch für Systeme aus anderen Industrien nutzbar. In einer gläsernen Gesellschaft könnten Smart-Meter-Daten praktisch ohne Restriktionen für Prognosen, Netzsimulationen, Dienstleistungen und auch industriefremde Zwecke verwendet werden. Selbstproduzierte Daten können verkauft und fehlende Daten eingekauft werden.

Die Einschätzung und Bewertung der Zukunft

Mit den zwei eingeführten Szenarienräumen können jetzt relativ einfach Zukunftsszenarien entworfen werden. Dabei wird wieder die Mikroebene relevant. Basierend auf den zur Verfügung stehenden Informationen, Studien und persönlichen Einschätzungen kann man für jede Ebene den aktuellen Stand bestimmen und wohin es in Zukunft geht. Die Einschätzung ist mit den gleichen Unsicherheiten behaftet, wie die Vorhersage von einer beliebigen Studie. Durch die Darstellbarkeit in zwei Ebenen ist die Einschätzung für Dritte jedoch sofort nachvollziehbar, und sie kann diskutiert werden.

Zur Veranschaulichung werden hier die momentane Situation sowie Zukunftsszenarien für das VSE-Denkmodell und das Daten-Denkmodell gesetzt. Sämtliche Einschätzungen in diesem Beispiel sind lediglich als Illustration des Prozesses und nicht als Aussagen zu verstehen.

Die grenzüberschreitenden Kapazitäten zwischen der Schweiz und der EU werden heute immer noch als Flaschenhals wahrgenommen. Auch auf politischer Ebene ist die Schweiz mangels Stromabkommen bei Weitem nicht so vernetzt mit der EU wie sie sein könnte. Gleichzeitig stammt der grösste Anteil des heute produzierten Stroms nach wie vor aus herkömmlicher Produktion, namentlich aus Grosswasser- und Kernkraftwerken. [1] Als Zukunftsszenario dient der VSE-Trend 2035.

Der Vorgang beim Daten-Denkmodell ist nun derselbe: Die Digitalisierung vollzieht sich in hohem Tempo. Noch bestehen aber nur wenige Standards, was eine entsprechend hohe Systemfragmentierung zur Folge hat. Die Entwicklung von Schnittstellen zwischen Systemen kostet heute noch viel Geld und Zeit. Vor dem Hintergrund aktueller Ereignisse, wie beispielsweise dem Facebook-Datenskandal, steht die Gesellschaft gerade vor einer Entscheidung, ob sie zu einem restriktiven oder liberalen Umgang mit Daten tendiert. Aufgrund des in den vergangenen Jahren festgestellten Trends darf allerdings davon ausgegangen werden, dass der Umgang mit Daten noch stärker liberalisiert wird. [2] Bei den meisten neuen Technologien haben sich aber irgendwann Industriestandards durchgesetzt. Es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass dies nicht auch in dieser Systemlandschaft stattfinden werde. Entsprechend werden die momentane Situation und das Zukunftsszenario im Daten-Denkmodell gesetzt.

Um damit nun potenzielle Nutzen aus dem Smart Metering zu bewerten, wird in den beiden eingeführten Szenarienräumen definiert, in welchem Bereich ein Nutzen überhaupt zum Tragen kommen kann. Anschliessend wird kontrolliert, ob sich auch die Zukunftsszenarien in diesem Bereich befinden.

Der erste Nutzen ist die «Erhöhung der Energieeffizienz». Dieser Nutzen kommt im VSE-Denkmodell nur bei dezentraler Versorgung und einer schlechten Vernetzung mit der EU zum Tragen, mit dem Argument, dass der Normalverbraucher nur in einer «Local World» so sehr für seine eigene Versorgung verantwortlich ist, dass ein breites Interesse unter Normalverbrauchern vorhanden ist. Beim digitalen Denkmodell ist der Nutzen praktisch unabhängig von der Interoperabilität von Systemen. Jedes System aber, das tiefe Einblicke in den Stromverbrauch geben will, braucht zwangsläufig eine hohe Menge an Daten und ist deshalb abhängig von einem liberalen Umgang mit Daten.

Wie in obenstehendem Bild zu sehen ist, liegt das Zukunftsszenario im Daten-Denkmodell zwar im definierten Bereich, nicht aber im VSE-Denkmodell. Eine signifikante Erhöhung der Energieeffizienz durch Smart-Meter-Daten vom Normalverbraucher ist also – dieser Argumentation folgend – nicht gegeben.

Der Nutzen von Daten für «Netzanalysen» ist im VSE-Denkmodell unabhängig von der Vernetzung mit der EU, ist aber am grössten bei einer dezentralen, schwer zu berechnenden Versorgung. Der Nutzen ergibt im Daten-Denkmodell erst dann effektiv Sinn, wenn die «gläserne Gesellschaft» akzeptiert und angestrebt wird. Netzsimulationen werden erst bei einer grossen Datenmenge und einer hohen Datenqualität akkurat, und erst stark verbundene Teilnetze sind auch auf einen hohen Datenaustausch angewiesen.

Gemäss obenstehendem Bild kommen bei beiden Szenarienräumen die Zukunftsszenarien in den Bereich zu liegen. Eine Nutzung der Smart-Meter-Daten bei Netzsimulationen und der damit verbundenen Vereinfachung der Planung von Netzausbauprojekten ist dieser Einschätzung nach also realistisch.

Anpassung der Vorhersage an Informationen

Nochmals gilt es, zu betonen, dass die oben genannten Zukunftsszenarien und Bewertungen arbiträr sind und keinen Anspruch auf unbedingte Gültigkeit erheben. Neben der verbesserten Nachvollziehbarkeit, hat diese Art der Betrachtung aber auch den Vorteil, schnell und unkompliziert anpassbar zu sein. Wenn nach einer Einschätzung neue Informationen vorhanden sind, wird jeweils nur deren Auswirkung auf die vier Variablen «Vernetzung mit der EU», «Zentralität der Versorgung», «Umgang mit persönlichen Daten» und «Systemfragmentierung» bestimmt. Sollten neue Informationen Auswirkungen auf diese Variablen haben, dann kann das Zukunftsszenario korrigiert und die Bewertung erneuert werden.

Als Beispiel sei hier der bereits erwähnt Facebook-Datenskandal genannt. Auslöser war der Umstand, dass Facebook der Data-Mining-Firma «Cambridge Analytica» Zugriff auf einen grossen Datensatz seiner User gewährte. Der Fall hat zu einer Anhörung vor dem amerikanischen Kongress geführt, die zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Artikels noch nicht abgeschlossen ist. Die Annahme lautet nun, dass dieser Vorfall die ursprüngliche Einschätzung zum zukünftigen Umgang mit persönlichen Daten verändern werde. Diese neue Information könnte zu einer Verschiebung des Szenarios führen (wie untenstehend dargestellt).

Dies hat direkte Auswirkungen auf die Einschätzung zur Nutzbarkeit von Smart-Meter-Daten für Netzsimulationen. Erhöhte Datenschutzregularien können den Zugriff auf und die Nutzung von Daten erschweren, sodass dieser Nutzen nicht mehr gegeben ist. Das Beispiel zeigt, dass eine Anpassung erster Einschätzungen mit neuer Information sehr schnell und nachvollziehbar durchgeführt werden kann.

Letztlich ist jedes Zukunftsszenario subjektiv

Die hier vorgestellte Art, Denkmodelle als Entscheidungs- und Bewertungsgrundlage zu nutzen, hat mannigfache Vorteile. Gerade in der Energie- und Telekommunikationsbranche, die sich in einem schnelllebigen Wandel befinden, ist ein nachvollziehbares und einfach anpassbares Modell sinnvoll. Tägliche Meldungen zu neuen Technologien, potenziellen regulatorischen Änderungen oder Ereignissen wie dem Facebook-Datenskandal werden jeweils erst auf ihre Auswirkungen auf den Szenarienraum geprüft. Dieses Vorgehen führt zu einer erhöhten Resilienz gegenüber Überreaktionen.

Gleichzeitig bilden diese Modelle ein durchdachtes Gerüst für Diskussionen zwischen Entscheidungsträgern vor der Kommunikation von Entscheidungen an Dritte. Letztlich unterliegt aber jedes Zukunftsszenario immer subjektiven Einschätzungen, weshalb das Ziel sein muss, in der Erstellung des Zukunftsszenarios so transparent und nachvollziehbar wie möglich zu sein.

Referenzen

[1]   «62 Prozent des Stroms aus Schweizer Steckdosen stammt aus erneuerbaren Energien», Medienmitteilung des BFE vom 26. März 2018, www.admin.ch.
[2]   Andrew Perrin, «Social Media Usage: 2005-2015», www.pewinternet.org/2015/10/08/social-networking-usage-2005-2015/.

Autor
Tobias Mohrhauer

ist Teamleiter Marketing, Innovation & Produktmanagement bei der Esolva AG.

  • Esolva AG, 7302 Landquart

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