Verband Fachkräfte , Märkte und Regulierung , VSE

Ein Denkmodell anstatt einer Prognose

Bericht zu den Energiewelten

25.07.2017

Am 6. Juli 2017 ist der Bericht «Energiewelten 2017» erschienen. Er reiht sich ein in die Liste der vom VSE publizierten Berichte zur Strom-/Energiezukunft der Schweiz. Und doch unterscheidet sich der Bericht «Energiewelten 2017» wesentlich von seinen Vorgängern.

Für den Blick in die Zukunft hat der VSE anstelle von bisher verwendeten, quantitativen Prognosen neu einen deskriptiven Ansatz gewählt. Die Energiewelten haben zum Ziel, einen weiten, qualitativen Entwicklungskorridor aufzuspannen und eine Gesamtsicht auf die Energiezukunft im Jahr 2035 zu ermöglichen. Unter den aktuellen Rahmenbedingungen kommen nummerische Modelle und quantitative Prognosen ans Limit. Technologische Innovationen, das wirtschaftliche Umfeld oder politische Entscheide haben stärker als bisher das Potenzial, die Energiewirtschaft in den nächsten zwanzig Jahren grundlegend zu verändern.

Das VSE-Denkmodell

Die Energiewelten sollen nicht nur einen Entwicklungskorridor aufzeigen, sie dienen auch als Denkmodell. Entwicklungen sollen antizipiert, Risiken erfasst und Chancen erkannt werden. Die Energiewelten sind also einerseits Analyseinstrument für den Verband. Anderseits können sie auch

  • als Orientierungshilfe für Politik und interessierte Öffentlichkeit dienen;
  • eine Grundlage für Empfehlungen an den Gesetzgeber bilden;
  • eine Basis für Strategieentwicklungen bei den Mitgliedsunternehmen bieten.

Fünf Dimensionen und ihre Game Changer

Zur Herleitung der Energiewelten wurden Themen bestimmt, welche das Potenzial haben, die Energiezukunft der Schweiz in den nächsten 20 Jahren spürbar zu verändern (Game Changer). Diese Game Changer wurden zu fünf Dimensionen zusammengefasst. Dabei handelt es sich um die Dimensionen «Nachfrage/Flexibilisierung», «Zentrale/Dezentrale Versorgung», «Märkte/EU-CH», «Digitalisierung» und «Regulierung/Staatseingriffe». Die unterschiedlichen Energiewelten nehmen unterschiedliche Ausprägungen dieser Dimensionen an (Bild 1).

Vier Energiewelten

Der Bericht «Energiewelten 2017» vertieft vier extreme Energiewelten im Jahr 2035. Diese unterscheiden sich insbesondere über zwei der fünf Dimensionen: über die «Zentrale/Dezentrale Versorgung» und «Märkte/EU-CH» respektive vernetzte/nicht vernetzte Schweiz mit der EU (Bild 2). Die vier extremen Welten heissen Trust World, Trade World, Local World und Smart World. Jede dieser vier Energiewelten besteht aus drei Elementen: einer Ausprägung, einem dazugehörenden Marktmodell sowie möglichen Geschäftsmodellen (Bild 3).

Trust World

In der Trust World (Bild 4) ist der Umbau der Energieversorgung zu schnell vorangeschritten. Die Versorgungssicherheit hat dadurch in ganz Europa gelitten – und hat nun höchste Priorität. Dazu beschliessen die europäischen Länder, ihre Autonomie je zu erhöhen, um die Kontrolle über das nationale Stromnetz und die nationale Produktion zurückzugewinnen und damit weitere Netzausfälle zu verhindern. Dies führt dazu, dass die weitgehend autonome Stromversorgung der Schweiz im Jahr 2035 mehrheitlich durch steuerbare Wasser- und Gaskraftwerke erfolgt. Erneuerbare Energien werden nicht mehr gefördert, jedoch werden die Abgaben auf den CO2-Ausstoss fossiler Energieträger deutlich erhöht. Die Bevölkerung ist bereit, hohe Preise für eine sichere Versorgung zu zahlen.

Die Nachfrage in der Trust World ist hoch. Der Strommarkt ist neu klein und illiquid. Der Versuch, einen funktionierenden Markt aufrechtzuerhalten, scheitert. Es braucht Staatseingriffe, damit Produktionseinheiten erstellt und betrieben werden. Die Rückkehr zu Gebietsmonopolen und die Schaffung staatlich garantierter Abnahmepreise, verbunden mit Ausschreibungen für neue Kraftwerkskapazitäten, werden als Ausweg gewählt. Wegen des fehlenden Marktes findet weder beim Strom noch beim Erdgas eine Entflechtung von Netz und Vertrieb statt. Erdgas spielt zur Deckung des Gasbedarfs der Gaskraftwerke in der Trust World eine grosse Rolle. In der fast vollständig planwirtschaftlich organisierten Energieversorgung ist der unternehmerische Handlungsspielraum eingeschränkt. Gestaltungsraum haben vor allem Produzenten bei den Ausschreibungen und Verteilnetzbetreiber/Versorger beim Anbieten von Dienstleistungen.

Trade World

Ganz anders in der Trade World (Bild 5). Dort findet ein umfangreicher europäischer Stromhandel statt. Produktionskapazitäten werden europaweit an den geeignetsten, sprich kostengünstigsten Standorten zugebaut. Grund für diese Entwicklung ist ein hohes Kostenbewusstsein der Konsumenten. Denn aufgrund zahlreicher Unterstützungssysteme erreichten die Kosten für die Stromversorgung vorgängig eine Höhe, welche die Konsumenten nicht mehr zu zahlen bereit waren. Diese Unterstützungssysteme sind daher eingestellt worden.

Sämtliche Entwicklungen zielen im Jahr 2035 auf eine möglichst günstige Stromversorgung ab, auch Klimaschutzziele treten in den Hintergrund. Die Wasserkraft hat es mit ihren hohen Gestehungskosten schwer, in diesem Umfeld zu bestehen. Aufgrund der günstigen Preise gibt es keine Anreize für Energieeffizienz, die Stromnachfrage bleibt hoch. Die Marktordnung der Schweiz ist mit der EU abgestimmt. Die Schweiz nimmt als Transitland und zur Stützung der Systemstabilität eine wichtige Rolle ein. Alle Endverbraucher haben bei Strom und Erdgas freien Netzzugang. Sie beziehen Strom und Erdgas von den günstigsten Lieferanten und Produzenten in Europa. Es gibt keine Grundversorgung (nur noch eine Netzanschlusspflicht), denn der Markt spielt und gewährleistet jederzeit eine sichere und preiswerte Energieversorgung.

In der Trade World bestimmen Wettbewerb und Preisdruck die Geschäftsmodelle. Um bestehen zu können, sind schlanke Geschäftsstrukturen, Grössenvorteile durch Skaleneffekte bei der Produktion und im Vertrieb oder das Ausnutzen von Nischen entscheidend. Kooperationen mit geeigneten Partnern und Beteiligungen im In- und Ausland ermöglichen den Akteuren Wettbewerbsvorteile. Durch Konzentration entstehen europaweit tätige Grosskonzerne, die eine breite Dienstleistungspalette im Strom- und Gasbereich anbieten.

Local World

In der Local World (Bild 6) treibt die Bevölkerung den Umbau des Energiesystems hin zu einer dezentralen, klimafreundlichen und möglichst inländischen Energieversorgung voran. Um dieses Ziel zu erreichen, nimmt sie Vorschriften zu Energieverbrauch, Energieeffizienz und hohe Kosten in Kauf. Dadurch kann die Nachfrage nach Strom gesenkt werden, trotz Substitution fossiler Brennstoffe. Dank einem gleichzeitigen Voranschreiten der Digitalisierung versorgen sich 2035 vernetzte Dörfer und Städte weitgehend selbst. Die zentralen Wasserkraftwerke beliefern noch jene Verbraucher, welche sich nicht oder nur teilweise selbständig versorgen. Zudem dienen sie als Back-up-Kraftwerke, um insbesondere im Winter die Versorgung aller Konsumenten zu sichern.

In der Local World ist der Verteilnetzbetreiber für Netzbetrieb und für die Versorgung verantwortlich. Der Verteilnetzbetreiber/Versorger stimmt in seinem Netz die Netzinfrastruktur, die Speichermöglichkeiten bei Strom und Gas, die Flexibilität sowie die Produktion der dezentralen Kraftwerke aufeinander ab. Leistungsstarke Datenanalysen und Optimierungsalgorithmen sind wichtige Faktoren für den Erfolg. Es herrscht Markt zwischen den Betreibern der grossen Wasserkraftwerke und den Verteilnetzbetreibern/Versorgern. Innerhalb ihres Verteilnetzes verfügen die Verteilnetzbetreiber/Versorger allerdings über ein Monopol, das durch den Regulator überwacht wird. Im Dienstleistungsgeschäft herrscht ein sehr lebendiger und hart umkämpfter Markt; hier sind massgeschneiderte Kundenlösungen gefragt.

Smart World

Auch in der Smart World (Bild 7) schreitet die Digitalisierung stark voran. Sie geht einher mit grossen Kostensenkungen bei erneuerbaren Produktions- sowie Speichertechnologien. Diese setzen sich ohne Unterstützung am Markt durch. Entsprechend hoch ist der Anteil an Photovoltaik- und Windkraftanlagen, gekoppelt mit Speichern. Anlagen werden dort gebaut, wo die geografischen Bedingungen am geeignetsten sind – auch über die Landesgrenzen hinweg.

2035 herrscht ein reger Stromaustausch zwischen den europäischen Ländern. Die Schweizer Speicherkraftwerke sind dank ihrer Fähigkeit, Strom saisonal zu speichern, weiterhin von grosser Systemrelevanz. Die Nachfrage nach Strom steigt, wegen der starken Zunahme an Anwendungen und Geräten sowie Elektromobilität. In der Smart World besteht wenig Bedarf an Regulierung. Diese ist neben der CO2-Politik vor allem auf den Netzbereich beschränkt. Die Endverbraucher wechseln Lieferanten mit hoher Kadenz. Dank dem hohen Grad an Digitalisierung liegen Informationen zu Marktpreisen und Netz für alle Marktteilnehmer zeitnah und transparent vor. Es gibt viele lokale Prosumer und Produzenten.

Durch die Schaffung von Märkten für Strom, Gas und Wärme auf Verteilnetzebene mussten die Aufgaben und Kompetenzen der Verteilnetzbetreiber bei der Netzführung neu definiert werden. Darüber hinaus mussten neue Netznutzungsmodelle, wie dynamische Netznutzungstarife bei Strom, Gas und Wärme, entwickelt werden, da der Anteil der Verbraucher mit Eigenproduktion sehr hoch ist. Die Prosumer beziehen wenig Energie vom Netz, beanspruchen – im Winter und als Back-up – jedoch nach wie vor viel Leistung.

In der Smart World ergeben sich sehr viele mögliche Geschäftsmodelle und die Zahl der Marktakteure nimmt zu. Die Liberalisierung aller Bereiche der Energiewirtschaft, mit Ausnahme der Netze, trägt wesentlich dazu bei. Im Zentrum stehen digitale Technologien und Anwendungen. Spezialisierung und Grösse oder das Besetzen von Nischen sowie konstante Verbesserungs- und Innovationsprozesse sind Voraussetzung, um sich im intensiven Wettbewerb und der schnelllebigen Welt durchzusetzen.

«VSE-Trend 2035» und die Vision für die Energiewirtschaft

Neben diesen vier extremen Welten hat sich der VSE im Bericht «Energiewelten 2017» auch mit der Frage befasst, wie die Energiezukunft aus heutiger Sicht am ehesten aussehen könnte. In diesem «VSE-Trend 2035» wird jene Energiewelt beschrieben, die der Verband aufgrund des heutigen Wissensstandes für das Jahr 2035 als am plausibelsten betrachtet (Bild 8). Er liegt innerhalb des durch die vier beschriebenen Energiewelten aufgespannten Korridors.

Zudem hat der Vorstand des VSE seine Vision der Energiewirtschaft der Schweiz für die nächsten 20 Jahre entwickelt. Diese Vision zeichnet das Idealbild der Energiewirtschaft von morgen (vgl. unten sowie Kasten «Die Vision für die Energiewirtschaft der Schweiz»). Der «VSE-Trend 2035» wird zukünftig jährlich aktualisiert und mit der Vision verglichen. So kann der VSE Abweichungen der tatsächlichen Entwicklung zum Idealbild frühzeitig erkennen und thematisieren.

Der Verband geht mit dem «VSE-Trend 2035» (Stand 2016/17) davon aus, dass die Produktionsstruktur 2035 ein Mix aus zentraler und dezentraler Produktion sein wird. Die Wasserkraft wird weiterhin eine tragende Rolle einnehmen. Die bis dann wegfallende Kernkraft wird durch den Zubau von Erneuerbaren nur teilweise kompensiert. Die Schweiz ist insbesondere im Winterhalbjahr noch stärker als heute auf Importe angewiesen. Die Vernetzung mit Europa ist somit zentral, aber aufgrund des fehlenden Stromabkommens mit der EU ungewiss. Die Eigenversorgung gewinnt an Bedeutung. Die Nachfrage steigt gegenüber heute an – bedingt durch Bevölkerungswachstum und zunehmende Elektrifizierung von Wärme und Mobilität. Die Digitalisierung wird den Energiemarkt bis 2035 stark durchdringen und zu enormen Veränderungen in der Energiewirtschaft führen.

Erkenntnisse aus dem Projekt Energiewelten

Die Energiewelten zeigen, dass sich, unabhängig von der Entwicklung, in jeder Welt folgende wesentlichen Herausforderungen stellen:

  • Die Deckung der Stromnachfrage zu jeder Zeit. In allen vier Energiewelten braucht es geeignete Lösungen für die Stromproduktion im Winter und somit die Umlagerung von Produktion im Sommer in den Winter.
  • Die Finanzierung von Stromproduktion und Netz. Die Wasserkraft spielt in allen Energiewelten eine grosse Rolle. Ungeklärt ist ihre Wirtschaftlichkeit und somit ihr langfristiges Bestehen, insbesondere, solange die CO2-Politik nicht konsequent umgesetzt wird, wie dies in der Trade World der Fall ist.
  • Die Zusammenarbeit der Schweiz mit der EU. In der Trust World ist ein starker Zubau an Gaskraftwerken notwendig, die Primärenergie muss dazu aus Nachbarländer importiert werden. Auch in der Trade World und in der Smart World ist die Abhängigkeit von den Nachbarländern respektive der Bedarf nach Zusammenarbeit sehr hoch.
  • Der Einsatz der Digitalisierung in der Energieversorgung. Die Digitalisierung ist Voraussetzung für das Funktionieren der Energiewelten mit dezentraler Versorgung. Daher sind die Erfordernisse, welche mit der Digitalisierung einhergehen, anzupacken, wie beispielsweise der Umgang mit Daten.

Der VSE hat mit seiner Vision für die Energiewirtschaft der Schweiz diese Fragen beantwortet: Die Schweiz muss über eine hohe Eigenversorgung beim Strom verfügen und gleichzeitig zum gegenseitigen Nutzen am europäischen Energiebinnenmarkt teilnehmen. Die Unternehmen der Energiewirtschaft übernehmen auch künftig Verantwortung für die Versorgungssicherheit und dabei insbesondere für Neu- und Ersatzinvestitionen in der Stromproduktion. Die Energiewirtschaft setzt sich dabei für langfristig CO2-arme Lösungen ein. Der VSE macht sich für geeignete Rahmenbedingungen und die Sicherstellung der langfristigen Investitionsfähigkeit stark. Neue technologische Entwicklungen, insbesondere im Bereich der Digitalisierung, werden zur Steigerung der Gesamtenergieeffizienz eingesetzt.

Auch Politik und Gesellschaft müssen sich mit diesen Fragen auseinandersetzen. Wichtig ist, dass realistische Ziele für die zukünftige Energieversorgung formuliert werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass wegen der grossen Abhängigkeit der Schweiz von externen Entwicklungen lediglich Stossrichtungen vorgegeben werden können. Der Regulierungsrahmen soll daher genügend Raum für Entwicklungen und Richtungswechsel bieten.

Erweiterte und vertiefte Berichte sind geplant

Der Bericht «Energiewelten 2017» bezeichnet nicht etwa den Abschluss der Arbeiten zu den Energiewelten, er ist vielmehr der Startpunkt. Das Projekt «Energiewelten» wurde offen und ausbaufähig in die verschiedensten Richtungen konzipiert und wird die Branche sowie den VSE noch einige Jahre begleiten. Im Rahmen des Projektes hat der VSE zudem die Zusammenarbeit mit Hochschulen, Fachhochschulen und Forschungsinstituten wie der Empa und dem SCCER lanciert. Erste Resultate dieser Zusammenarbeit werden im nächsten Bericht ausgeführt.

Autorin
Nadine Brauchli

ist Bereichsleiterin Energie des VSE.

Die Vision für die Energiewirtschaft der Schweiz

Energie soll auch in Zukunft für alle in ausreichender Menge und zu erschwinglichen Preisen zur Verfügung stehen. Die Schweiz soll einen grossen Teil ihres Stromverbrauchs mit inländischer Produktion decken können. Dabei gilt es, die gut ausgebaute Netzinfrastruktur für Strom und Gas zu erhalten. Aufgrund der flexiblen Stromproduktion, der zentralen geografischen Lage und des spezialisierten Fachwissens kann die Schweizer Energiewirtschaft im Austausch mit den europäischen Ländern aktiv als stabilisierendes Element im europäischen Gesamtsystem wirken. Sie kann als Transitland und als Anbieter massgeschneiderter Energiedienstleistungen fungieren. Bei der Einführung neuer Technologien, insbesondere solcher zur Steigerung der Gesamtenergieeffizienz, soll die Branche eine führende Rolle übernehmen.

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