Dynamischer Tarif in der Praxis
Funktionsweise und erste Erkenntnisse
Dynamische Tarife bieten gleich zwei Vorteile: Sie ermöglichen es dem Netzbetreiber, dezentrale Flexibilitäten effizient zu einem netzdienlichen Verhalten zu motivieren, während die Kunden gleichzeitig ihre Stromkosten senken können. Ein Blick auf die Einführung und Funktionsweise des dynamischen Tarifs Vario bei Groupe E.
Groupe E hat die Herausforderungen der Energiewende analysiert und eine Smart-Grid-Strategie entwickelt, um die Aktivitäten als Verteilnetzbetreiber so zu optimieren, dass das Verteilnetz die Energiewende aktiv unterstützt [1].
Eine der zentralen Herausforderungen für ländliche und vorstädtische Netze, wie das von Groupe E, ist die steigende Spitzenlast am Abend im Winter. Diese wird durch die zunehmende Verbreitung von Elektroautos und Wärmepumpen verursacht. Eine weitere Herausforderung ist die wachsende Einspeisespitze am Nachmittag, die an sonnigen Tagen von Jahr zu Jahr stärker wird. Diese zunehmenden Netzlastspitzen können erhebliche Investitionen in die Verstärkung des Stromnetzes erforderlich machen.
Studien aus der Schweiz und Europa [2, 3] weisen auf einen massiven Investitionsbedarf in die Verteilnetze hin, zeigen jedoch auch, dass ihn intelligente Massnahmen deutlich reduzieren können. In der Schweiz sind die Verteilnetzbetreiber gesetzlich verpflichtet, zu prüfen, ob Investitionen in das Verteilnetz durch die Nutzung von Flexibilität reduziert werden können (StromVG, Art. 9b Abs. 2).
Die grössten flexiblen Stromverbraucher der Zukunft sind Wärmepumpen und Elektroautos. Diese können ihren Stromverbrauch zeitlich so anpassen, dass sie einerseits erneuerbaren Strom nutzen, wenn er verfügbar ist, und andererseits Netzlastspitzen vermeiden. Ihre Flexibilität kann entweder direkt durch den Netzbetreiber über intelligente Steuer- und Regelsysteme gesteuert oder durch gezielte Netznutzungstarife angeregt werden. Letzteres ermöglicht es den Kunden, ihre Geräte selbst netzdienlich zu betreiben.
Um die dezentrale Flexibilität zu aktivieren, setzt die Smart-Grid-Strategie von Groupe E auf eine Kombination aus intelligenten Steuer- und Regelsystemen und tariflichen Anreizen. Diese Ansätze sprechen unterschiedliche Kundengruppen an, ergänzen sich gegenseitig und ermöglichen eine effektive Nutzung von Flexibilität im Netz.
Der dynamische Tarif Vario
Groupe E hat am 1. Januar 2024 den dynamischen, variablen Netztarif «Vario» als Wahltarif eingeführt [4]. Dieser Tarif richtet sich an eine noch kleine, aber stetig wachsende Kundengruppe, die den Verbrauch von flexiblen Stromverbrauchern mithilfe von Energiemanagementsystemen (EMS) automatisieren möchte. Der Tarif ergänzt das bestehende Angebot und steht neben dem Einheits- und Doppeltarif, die bestehen bleiben, und für Kunden ohne EMS auch zukünftig die wichtigsten Optionen darstellen.
Der Vario-Netztarif ist ein dynamischer, 15-minütig variabler Day-Ahead-Tarif. Das bedeutet, dass sich die Netznutzungspreise alle 15 Minuten ändern, jedoch bereits am Vortag für den kommenden Tag fixiert und veröffentlicht werden. Die Preise sind sowohl auf der Webseite als auch über eine Maschinenschnittstelle (REST-API) zugänglich. Bild 1 zeigt Beispiele dafür, wie die Tarife auf der Webseite und auf der REST-API dargestellt werden.

Neben dem dynamischen Netznutzungstarif werden auch die für den Kunden relevanten integrierten Tarife veröffentlicht. Der integrierte Vario-Tarif umfasst den dynamischen Netznutzungstarif, den Energie-Doppeltarif, alle Abgaben (Swissgrid, Stromreserve und Förderung erneuerbarer Energien) sowie die Mehrwertsteuer.
Die Funktionsweise des Tarifs ist in Bild 2 dargestellt. Der Netzbetreiber prognostiziert jeden Morgen die Netzlast für den kommenden Tag auf Basis von historischen Netzlastdaten und Wettervorhersagen (1). Da die Gesamtnetzlast nicht direkt gemessen werden kann, wird sie aus einer Vielzahl von Messpunkten berechnet und umfasst den Stromverbrauch aller Endverbraucher sowie die Einspeisung dezentraler Produktionsanlagen. Auf Grundlage der prognostizierten Netzlast wird der 15-minütig variable Tarif berechnet (2). Der Tarif für den folgenden Tag wird bis spätestens 18 Uhr über eine API-Management-Plattform von Azure bereitgestellt und ist über die REST-API abrufbar (3). Energiemanagementsysteme (EMS) können den Tarif für den nächsten Tag sowie historische Tarifdaten mit einer HTTPS-GET-Anfrage abrufen (4). Diese Daten ermöglichen es, den Stromverbrauch der gesteuerten Geräte des Kunden zu optimieren und die Stromkosten zu senken (5). Ein Elektroauto wird mit der Tarifoptimierung zum Beispiel nicht unmittelbar um 17 Uhr geladen, wenn es nach Hause kommt, sondern zu einem günstigeren Zeitpunkt, etwa um 2, 3 oder 4 Uhr morgens, je nach benötigter Ladezeit. Der intelligente Zähler misst die 15-Minuten-Lastkurve, mit der in den Systemen von Groupe E zusammen mit der 15-Minuten-Preiskurve ein kundenspezifischer Durchschnittspreis ermittelt und für die Quartalsabrechnung verwendet wird (6).

Berechnung des Vario-Tarifs
Für die Berechnung des Tarifs wurde Formel 1 entwickelt, die auf folgenden Grundsätzen basiert:
Abbildung der Netzbelastung: Die «Form» des Tarifs orientiert sich an der «Form» der prognostizierten Netzbelastung. Je höher die Netzlast, desto höher ist der Preis des Tarifs für das entsprechende 15-Minuten-Intervall. Dieser Zusammenhang wird durch den ersten Faktor der Formel dargestellt.
Verursachergerechte Kostendeckung: Kunden, die den Tarif nutzen, sollen entsprechend ihres Verbrauchs zur Deckung der Netzkosten beitragen. Die Skalierung des Tarifs erfolgt so, dass die theoretischen Tageseinnahmen aus dem prognostizierten Verbrauch bei einem Standardlastprofil mit dem Tarif den Einnahmen des Doppeltarifs entsprechen. Diese Skalierung wird durch den zweiten Faktor der Formel gewährleistet.
Anreize im Vergleich zum Doppeltarif: Die höchsten Preise des Tarifs im Tagesverlauf sollen über dem Hochtarif und die niedrigsten Preise unter dem Niedertarif des Doppeltarifs liegen. Der Tarif soll ausreichend Anreize bieten, um Pionierkunden trotz der noch bestehenden Einstiegshürden einen finanziellen Nutzen zu ermöglichen. Die Variabilität des Tarifs wird durch den Variabilitätsfaktor F bestimmt, der im Jahr 2025 zwischen 35 und 55 liegt. Die Variabilität ist tiefer an Tagen, bei denen die prognostizierte Netzlast zwischen 250 und 350 MW liegt und nimmt zu, wenn sich die prognostizierte Netzlast der maximalen Netzlast von Groupe E bei 550 MW oder der minimalen Netzlast bei –30 MW nähert.
Ähnlich wie bei den Strompreisen auf dem Markt können auch negative Netzentgelte auftreten. Dies geschieht z.B. bei sehr geringer oder negativer Netzbelastung, wenn Strom von niedrigeren auf höhere Netzebenen verschoben wird. In solchen Situationen kann ein negativer Netzpreis einen Anreiz schaffen, den Stromverbrauch auf lokaler Ebene zu erhöhen und dadurch die höheren Netzebenen zu entlasten.
Um die Preisvariationen für die Kunden besser absehbar zu machen, werden Preisgrenzen festgelegt. Für das Jahr 2025 gilt eine Untergrenze für den integrierten Tarif von 7 Rp./kWh und eine Obergrenze von 44 Rp./kWh.
Einführungsstrategie und Weiterentwicklungen
Ein dynamischer Stromtarif ist für Haushaltskunden in der Schweiz eine Neuheit. Bisher gibt es nur wenige EMS, die für die Optimierung mit solchen Tarifen ausgelegt sind. Die Einführung des innovativen variablen Tarifs zielt daher insbesondere darauf ab, Anbieter von EMS zu motivieren, ihre Algorithmen so weiterzuentwickeln, dass sie nicht nur den Eigenverbrauch, sondern auch dynamische Tarife optimieren können. Erst wenn die EMS in der Lage sind, dynamische Tarife effektiv zu nutzen, kann der Tarif von einer breiten Kundengruppe für die automatisierte Optimierung flexibler Geräte genutzt werden.
Mit der Einführung der variablen Tarife hat Groupe E gezeigt, dass die Umsetzung eines dynamischen 15-Minuten-Netztarifs für einen Verteilnetzbetreiber zu vertretbaren Kosten möglich ist. Bis Ende 2024 haben sich bereits zehn EMS-Anbieter bei Groupe E registriert, um die Kompatibilität ihrer Systeme mit dem Vario-Tarif zu bestätigen [4]. Anfang 2025 zählten etwa 70 Kunden zu den ersten Nutzern des neuen Tarifs. Die Auswertungen der ersten Pionierkunden zeigen, dass Haushalte, die ihre flexiblen Verbraucher mithilfe des Vario-Tarifs automatisch optimieren, ihre Stromkosten typischerweise um 10 bis 20% senken können, indem sie Verbrauchsspitzen gezielt verlagern.
Bild 3 zeigt die Strombezugskurve und die Bezugsspitzen eines Kunden ohne Tarifoptimierung und mit der Vario-Optimierung. Die Strombezugsspitzen fanden ohne Optimierung meistens am Abend statt, zu Zeiten mit hoher Netzlast und wurden durch die Optimierung vom Kunden in die nächtlichen Stunden mit der tiefsten Netzlast verschoben. Der Kunde hat dadurch seine Stromkosten gesenkt und die Netzlastspitzen reduziert.

Ein vergleichbares Kundenverhalten kann auch durch einen Doppeltarif mit fixen Zeitfenstern ausgelöst werden. Allerdings bietet ein dynamischer Day-Ahead-Tarif mehr Möglichkeiten, auf die zunehmende Variabilität der Stromflüsse zu reagieren. Dynamische Tarife ermöglichen ein präziseres Abbild der Netzbelastungen und können netzdienliches Verhalten effektiver fördern.
Der Vario-Tarif wurde als Wahltarif entwickelt, um Anreize für eine effiziente Netznutzung zu schaffen. Gleichzeitig muss er jedoch die Prinzipien der Kostendeckung und Verursachergerechtigkeit wahren. Wie bei allen Wahltarifen ist davon auszugehen, dass ihn vor allem Kunden wählen, die finanziell davon profitieren können. Die durch den Tarif eingesparten Netzkosten dieser Kunden sind als indirekte Vergütung für die Bereitstellung ihrer netzdienlichen Flexibilität zu betrachten. Diese Vergütung sollte langfristig in einem angemessenen Verhältnis zu den durch den Verteilnetzbetreiber eingesparten Kosten für Netzverstärkungen stehen.
Ein wesentlicher Vorteil dynamischer Netztarife besteht darin, dass sie sich ideal mit dynamischen Energietarifen kombinieren lassen. Die Netzlast und die Strommarktpreise, die den Bedarf für den Ausgleich von Energieerzeugung und -verbrauch abbilden, sind eng korreliert [5]. Die Einführung eines dynamischen Energietarifs und die dynamische Vergütung für die Einspeisung dezentraler Energieerzeugung sind zukünftige Entwicklungen, die dazu beitragen können, Lastspitzen im Stromnetz zu reduzieren.
Trotz der Vorteile dynamischer Tarife besteht das Risiko, dass es mittel- bis langfristig zu neuen Verbrauchsspitzen kommt, wenn viele Verbraucher ihre Flexibilität in Zeiten mit den niedrigsten Tarifen nutzen (sogenannte «Rebound Peaks» oder «Herding-Effekt»). Dieses Risiko könnte beispielsweise durch die Einführung einer zusätzlichen Leistungskomponente während Tiefpreiszeiten oder durch zeitliche Staffelungen verschiedener Tarife minimiert werden. Die mittelfristigen Auswirkungen unterschiedlicher Tarifmodelle sowie potenzielle Verbesserungen und Weiterentwicklungen werden im Rahmen des vom BFE unterstützten P+D-Projekts Nedela analysiert und simuliert [6].
Fazit
Die Energiewende und die damit verbundenen Veränderungen und Herausforderungen betreffen vor allem die unteren Netzebenen im Verteilnetz. Der netzdienliche Betrieb dezentraler Flexibilitäten gehört zu den zentralen Elementen eines effizienten Gesamtsystems mit erneuerbaren Energien. Dynamische Netztarife, wie der von Groupe E eingeführte Vario-Tarif, schaffen eine Win-win-Situation: Sie ermöglichen es dem Netzbetreiber, dezentrale Flexibilitäten effizient zu einem netzdienlichen Verhalten zu motivieren, während die Kunden gleichzeitig ihre Stromkosten senken können.
Referenzen
[1] Peter Cuony, Alain Ruffieux, «Das Stromnetz für die Energiewende neu denken», Bulletin Electrosuisse 1/2025, S. 20.
[2] Sebastian Willemsen et al., «Auswirkungen der Elektrifizierung und des starken Ausbaus der erneuerbaren Energien auf die Schweizer Stromverteilnetze», BFE-Studie, 2022.
[3] Eurelectric, Grids for speed – Eurelectric Power Summit 2024.
[4] www.groupe-e.ch/de/energie/elektrizitaet/privatkunden/vario
[5] Peter Cuony, «Dynamische Tarife für ein effizientes Stromsystem», VSE, 2023.
Kommentare