Fachartikel Infrastruktur , Smart Grid

Dynamisch geregelte Wirk- und Blindleistung

Planung der Regelung mit Spannungsmessung

10.02.2017

Der Begriff Smart Grid hängt eng mit Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) zusammen. Doch muss IKT zwingend vorhanden sein, um ein Stromnetz smarter zu machen? Braucht es exzessives Data-Mining, um ein lokales Spannungsproblem zu erkennen? Das heutige Stromnetz antwortet jetzt schon auf die dezentrale Stromerzeugung durch Erhöhung der Spannung und ermöglicht dem PV-Wechselrichter, entsprechend darauf zu reagieren. Der Netzbetreiber kann so die Wirk- und Blindleistungsregelung gezielt kostengünstig planen und einsetzen.

Im Frühling 2016 wurde das dreijährige BFE-Projekt «Kosteneffektive Smart-Grid-Lösungen für die Integration erneuerbarer Stromquellen in Niederspannungsnetze»1) an der ZHAW gestartet. Ziel ist es, Niederspannungsverteilnetze in unterschiedliche Netzklassen einzuteilen und für jede Klasse die wirtschaftlichste Lösung zur Spannungshaltung vorzuschlagen. Unter Betrachtung der relevantesten und spannungskritischen Teile verschiedener Verteilnetze werden kosteneffektive Lösungen zur Spannungshaltung analysiert und gegeneinander klassifiziert. Die zu untersuchenden Lösungen sind:

  • Klassischer Netzausbau
  • Blindleistungsregelung (in Abhängigkeit der Netzspannung)
  • Wirkleistungsregelung (in Abhängigkeit der Netzspannung)
  • Spannungslängsregler
  • Regelbarer Ortsnetztransformator
  • Batteriespeichersystem
  • Lastmanagement

Dabei zeigte sich, dass je nach verwendeter kommerzieller Softwarelösung zur Berechnung von Lastflüssen, die Analyse der Blind- bzw. Wirkleistungsregelung in Abhängigkeit der Netzspannung schwierig bis kaum umsetzbar ist. Die Problematik und ein Lösungsvorschlag werden an einem Fallbeispiel in Deutschland aufgezeigt.

Fallbeispiel Dettighofen

Im Frühling 2014 wurde das Niederspannungsverteilnetz in der deutschen Gemeinde Dettighofen vermessen und analysiert.[1] Das deutsche Versorgungsnetz, das historisch bedingt von der Schweizer EKS betrieben wird, besitzt einen PV-Erzeugungsanteil von 46 % verglichen mit dem Gesamtverbrauch. Dabei wurde die Spannung nach der Norm EN  50160 [2] kurzzeitig einmal während 10 Minuten verletzt. Die Gründe waren zum einen die mit 5 % über der Nennspannung zu hoch eingestellte Sekundärspannung des Transformators. Zum anderen erbrach­te der dezentral erzeugte PV-Strom eine zusätzliche Spannungserhöhung von bis zu 5 %. Die Verletzung der Norm trat an einem Verteilerkasten auf, an dem 100  kW PV-Nennleistung, verteilt auf zwei Stichleitungen, angeschlossen sind. Die Simulation mit Neplan [3] konnte zeigen, dass durch den einheitlichen Einsatz von Wirk- und Blindleistungsregelung im ganzen Dorf die Spannungserhöhung auf 3 %, gemäss den technischen Regeln zur Beurteilung von Netzrückwirkungen D-A-CH-CZ [4], begrenzt werden könnte. Dabei sollte überall und zu jeder Zeit die Wirkleistung auf 70 % der entsprechenden Anlagennennleistung limitiert und konstant Blindleistung mit einem cosϕ von 0,95 oder 0,9 untererregt je nach Anlagengrösse eingesetzt werden. Dies entspricht aber nicht der üblichen Praxis, da im realen Betrieb nur lokale Massnahmen aktiviert werden, wo auch Spannungsprobleme auftreten, und nicht pauschal im ganzen Verteilnetz. Auch mit anderen gängigen Netzberechnungstools ist es nicht möglich, mit zeiteffizientem Aufwand die Blind- und Wirkleistungsregelung lokal zu steuern. Dies ist aber nötig, um mögliche Kombinationen von Lösungen und ökonomischen Aspekten zu untersuchen.

Es ist möglich, die Lastflussberechnung mittels Neplan Programming Library (NPL) [3] umzusetzen. Dabei wird gemäss dem Diagramm in Bild 1 nach jeder Lastfussrechnung geprüft, ob und wo eine Spannungsverletzung vorliegt und dementsprechend bei den dezentralen Erzeugern die Blind- bzw. Wirkleistungen solange angepasst, bis keine Verletzung mehr vorliegt. Der iterative Prozess muss durch eine dll-Datei, die speziell für das vorhandene Verteilnetz programmiert wird, in Neplan hinterlegt werden. Dieses Vorgehen ist nicht übertragbar, sondern individuell sehr komplex, sobald viele dezentrale Erzeuger zu regeln sind.

Die eleganteste Lösung für die Netzplanung wäre es, die spannungsabhängige Regelung des Wechselrichters direkt in die Lastflussberechnungen zu implementieren. Die Anpassungen der Lastflussgleichungen und des Newton-Raphson-Verfahrens zum Lösen der Gleichungen wurden im Programm Matpower [5], eine Open-Source Toolbox für Matlab, umgesetzt. Der Import der Netzdaten kann über den UTCE-Export in Neplan erfolgen. Eine nach dem Import durchgeführte statische Lastflussberechnung ohne Regelung unter Verwendung des gleichen Solvers (Newton-Raphson) zeigte, dass die Resultate in Matpower identisch mit denen in Neplan sind.

Wie in Bild 2 ersichtlich ist, wird an einem klaren Tag die Nennleistung nie erreicht, weil die Leistung bei zunehmender Temperatur abnimmt. Deswegen kann die Wirkleistungsregelung bei der gleichen Spannung beginnen. Bei Anlagen mit unterdimensionierten Wechselrichtern sollte die Begrenzung bei höherer Spannung einsetzen, da es ökonomisch sinnvoller ist.

Die spannungsabhängige Steuerung der Lasten ist softwaremässig umgesetzt, jedoch nicht genauer analysiert worden, weil das Prinzip aus Sicht der Lastflussberechnung identisch mit dem Regeln der Wechselrichter ist. Diese Option kann genutzt werden, um z.B. spannungsabhängiges Demand Side Management zu betreiben.

Resultate

Das simulierte Niederspannungsnetz in Dettighofen besitzt 218 Knoten, 228 Leitungen und 33 PV-Anlagen verteilt auf 25 Knoten mit einer gesamten Nennleistung von 535,5  kW. Die Analyse beschränkt sich auf einen sehr klaren Sonntag im Mai (18. 5. 2014) und einer Datenauflösung von 10 Minuten. Die eingespeiste PV-Leistung kann aus der gemessenen Einstrahlung berechnet werden. Als Worst Case wird angenommen, dass alle PV-Module 30° nach Süden orientiert sind. Bei den Lasten wird das Standardlastprofil (VDEW) H0 von E.ON Westfalen Weser [6] eingesetzt unter der Annahme eines Jahresstromverbrauchs von 4,5 MWh und einem cosϕ von 0,9. Dies ist die gleiche Ausgangslage wie bei der in der Einleitung beschriebenen Analyse.[1]

Zuerst wurde eine Standardsimulation, in der keine spannungsabhängige Regelung aktiv ist, durchgeführt und in Bild 2 für den Zeitpunkt 14:00 Uhr dargestellt. Die erste Zahl und die Farben repräsentieren die relative Spannung (pu-System) am entsprechenden Netzpunkt. Die Zahlen darunter (nur bei Punkten mit PV-Anlagen) repräsentieren die prozentuale Abregelung der Wirkleistung gemessen an der aktuellen maximal möglichen Leistung (2. Zahl) und um wie viel Prozent die Blindleistungsregelung ausgeschöpft ist (3. Zahl). Im südwestlichen Teil des Niederspannungsnetzes befinden sich die zwei Stichleitungen mit insgesamt 100  kW installierter PV-Leistung. An den Enden beider Stichleitungen entstehen Spannungserhöhungen von 5,0 % bzw. 5,6 %.

Das Resultat der zweiten Simulation mit aktiver Regelung und angepasster Lastflussberechnung ist in Bild 3 dargestellt. Sobald die Wirk- und Blindleistungsregelung aktiv ist, kann die Spannungserhöhung an den Enden beider Stichleitungen auf 2,9 % bzw. 3,1 % begrenzt werden. Ausserdem wird nur an jenen Netzknoten geregelt, an denen es nötig ist. Die komplexeren Lastflussberechnungen führen zu Einbussen in der Performance der Simulation (Tabelle). Gegenüber der ersten Simulation braucht es für die Analyse eines ganzen Tages je nach verwendeten Wechselrichterprofilen ca. 5- bis 7-mal mehr Rechenzeit. Der Grund liegt in der höheren Anzahl Iterationen pro Lastflussberechnung an Zeitpunkten, an denen die PQ-Regelung aktiv ist. 

Erkenntnisse

Die vorgestellte Lösung ermöglicht es dem Verteilnetz­betreiber einfach und kosten­günstig, eine durch dezentral einspei­senden Solarstrom verursachte Spannungsanhebung von 3 % zu vermeiden – ohne zusätzliche Investitionen in IT oder Hardware. Dazu gibt der Verteilnetzbetreiber dem PV-Wechselrichter seines Kunden einmalig eine Charakteristik vor, wie die Blindleistung als Funktion der aktuellen lokalen Netzspannung am Wechselrichter gesteuert werden muss. Dezentrale Steuerbefehle vom Netzbetreiber erübrigen sich. Bei Bedarf kann dies zusätzlich mit einer Wirkleistungsbegrenzung kombiniert werden.

Die beiden Massnahmen zur Spannungshaltung können realistischer (technisch und ökonomisch) analysiert werden. Das heisst, es entstehen deutlich weniger Verluste gegenüber dem flächendeckenden Einsatz von Wirk- und Blindleistungs­regelung, da die Massnahmen gezielter in der Simulation eingesetzt werden. Mit dieser Lösung kann auch das Verhalten der Spannung im Niederspan­nungsnetz bei gleichzeitiger Anwendung von verschiedenen Massnahmen untersucht werden. Eine weitere Anwendungs­möglichkeit liegt in der Analyse, wo welche PQ-Kurven dem Inverter hinterlegt oder angepasst werden müssen.

Referenzen

[1] F. Carigiet, M. Niedrist, C. Scheuermann and F. Baumgartner, «Case study of a low-voltage distribution grid with high PV penetration in Germany and simulation analyses of cost-effective measures: Case study of a low-voltage distribution grid,» Prog. Photovolt. Res. Appl., 2015.

[2] «EN  50160: Voltage characteristics of electricity supplied by public distribution networks,» DIN,
Febr. 2011.

[3] NEPLAN. Erlenbach: BCP Busarello + Cott + Partner AG, 2014.

[4] «D-A-CH-CZ: Technische Regeln zur Beurteilung von Netzrückwirkungen,» VEÖ, Austria, VSE Switzerland, CSRES Czech Republic, VDN Germany, Juli, 2007.

[5] R. D. Zimmerman, C. E. Murillo-Sanchez and R. J. Thomas, «MATPOWER: Steady-State Operations, Planning, and Analysis Tools for Power Systems Research and Education,» IEEE Trans. Power Syst., vol. 26, no. 1, pp. 12–19, Feb. 2011.

[6] «Synthetisches Verfahren Strom | Westfalen Weser Netz,» 2014. [Online]. https://ww-netz.com/synthetisches-verfahren-strom.

Autor
Fabian Carigiet

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Fachgruppe Photovoltaik-Systeme am Institut für Energie und Fluid Engineering (IEFE).

  • ZHAW, 8400 Winterthur

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