Digitalisierung und Vertrauen
Energiesystem der Zukunft
Der Aufbau eines nachhaltigen Energiesystems ist ohne Digitalisierung nicht umsetzbar. Dabei bietet die automatisierte Steuerung dezentraler Ressourcen viele Möglichkeiten für den Einsatz von Flexibilität.
Der Aufbau eines nachhaltigen Energiesystems ist ohne Digitalisierung nicht denkbar. Automatisierte Steuerung, datenbasierte Prognosen und intelligente Vernetzung eröffnen neue Möglichkeiten, um Energie effizient, flexibel und kostengünstig zu nutzen. Doch je stärker Maschinen Entscheidungen treffen, desto drängender wird eine andere Frage: Wie bleibt der Mensch in dieser digitalisierten Energiewelt handlungsfähig – und wie entsteht Vertrauen in Systeme, die wir kaum mehr vollständig überblicken können? Anhand aktueller Themen werden diese Fragen hier diskutiert. Es wird ein Bild gezeichnet, in dem technische Systeme und menschliche Akteure über die Digitalisierung eng zusammenwirken, um die Transformation im Spannungsfeld von Versorgungssicherheit und Klimazielen zu erreichen.
Zunächst stellen wir uns die Frage, inwieweit der Mensch mit seinen individuellen Vorstellungen in einem vollautomatisierten System repräsentiert werden kann. Die Forschung an Multi-Agentensystemen erlaubt hier neue Wege, nicht nur das menschliche Individuum, sondern auch Interaktionen auf der Ebene von Agenten abzubilden.
In der Bevölkerung haben sich in den letzten Jahren Vorbehalte gegenüber dem Ausbau erneuerbarer Energien und der flächendeckenden Digitalisierung (z. B. mittels Smart Metering) entwickelt, welche die Akzeptanz aufgrund unklarer Auswirkungen auf den eigenen Komfort, die Mündigkeit und den Datenschutz gefährden. Fehlendes Vertrauen verlangsamt die Transformation des Energiesystems. Daher müssen die Bedingungen für die Entstehung vertrauenswürdiger technologischer Systeme in den Blick genommen werden. Dieser Thematik ist der zweite Abschnitt gewidmet. Im dritten Abschnitt stellen wir uns die Frage, wie diese Erkenntnisse über persönliche Bedarfe und Bedürfnisse sowie die entwickelten Konzepte eines menschlichen und technischen Vertrauens in die Entwicklung der Systeme der zukünftigen Energiewirtschaft eingebracht werden können.
Vollautomation und Selbstorganisation – und der Mensch?
Intelligente Software-Agenten stellen in den unterschiedlichsten Bereichen die Grundlage für eine Vollautomation von Prozessen dar. Auch in Energiesystemen werden Agenten und sogenannte Multi-Agentensysteme (MAS) mittlerweile in ersten kommerziellen Produkten eingesetzt. Wie aber können Endnutzer nachvollziehen, wie diese Systeme Entscheidungen treffen? Das Problem verschärft sich, wenn individuelle Agenten über eine Fähigkeit zum eigenständigen Lernen verfügen und sich mehrere Agenten zu einem selbstorganisierten Agentensystem zusammenschliessen, um beispielsweise gemeinsam an der Stabilisierung von Stromsystemen zu arbeiten.
PV-Anlagen, Batteriespeicher, Wärmepumpen oder Elektrofahrzeuge stellen Flexibilitäten dar. Um diese dezentralen Komponenten ökonomisch effizient und koordiniert zu betreiben, braucht es intelligente Steuerungssysteme – nicht nur in einzelnen Haushalten, sondern auch als koordinierendes, hochautomatisiertes Gesamtsystem. In Haushalten können autonome Software-Agenten als Heimenergiemanagementsysteme (HEMS) agieren. Dabei werden in der Regel drei Optimierungsziele verfolgt: die Minimierung der Betriebs- bzw. Strombezugskosten, die Minimierung der CO2-Emissionen sowie die Maximierung des Komforts für die Hausbewohnenden. Diese mehrdimensionale Zielsetzung erfordert transparente, adaptive und am Ende auch nachvollziehbare Entscheidungsprozesse.
Auf der Ebene von Quartieren können sich die Agenten zu einem selbstorganisierten Multiagentensystem vernetzen und als gebündelte Flexibilitäten Engpässe in Stromnetzen beheben. Unter Selbstorganisation wird dabei die Fähigkeit des Systems verstanden, gemeinsame Ziele eigenständig zu verfolgen und sich ohne den Eingriff einer übergeordneten Überwachungskomponente an Veränderungen im Systembetrieb anzupassen.
Solche Systeme werden aber nur dann akzeptiert und damit genutzt, wenn sie als vertrauenswürdig erlebt werden. Nachvollziehbarkeit, Zuverlässigkeit sowie die Abbildung von Interessen der Bewohner sind hier wesentliche Aspekte.
Auf der Systemseite wiederum gilt: Versprochene Flexibilitäten müssen mit sehr hoher Zuverlässigkeit erbracht werden, damit Netzbetreiber mit Multiagentensystemen als verlässlichem Partner arbeiten können. Vertrauen wird damit zur zentralen Voraussetzung: Nur wenn Menschen den Systemen vertrauen, werden sie deren Entscheidungen akzeptieren und mittragen. Das gilt sowohl für Endkunden als auch für Netzbetreiber, die sich auf die zugesagte Flexibilität technisch wie organisatorisch verlassen müssen. Vertrauen ist damit kein blosses «weiches» Thema, sondern eine harte Bedingung für das Funktionieren künftiger Energiesysteme. Wie aber kann der erste Schritt in diesem komplexen Gefüge gelingen – die Modellierung des vielschichtigen Vertrauenskonzeptes im sozio-technischen System?
Computational Trust und menschliches Vertrauen
Vertrauen bedeutet im Kern Zuversicht in die Zuverlässigkeit eines Systems oder einer Person. In der digitalen Welt spricht man vom Computational Trust – also von algorithmischen Mechanismen, die die Vertrauenswürdigkeit von Daten, Diensten oder Akteuren bewerten. Für sozio-technische Systeme wie die der Energieversorgung sind beide Blickwinkel von hoher Relevanz. So kommunizieren vermehrt technische Komponenten miteinander und müssen einschätzen, wie vertrauenswürdig die anderen Komponenten und erhaltenen Daten sind.
Die Systeme der Energieversorgung werden zudem durch menschliche Operatoren in Leitwarten überwacht und gesteuert. Für diese Operatoren stellt sich die Frage, inwieweit sie darauf vertrauen können, dass Teile des fernüberwachten Energieversorgungssystems seine Aufgaben erfüllen. Dafür stützen sich die Operatoren auf die Aufbereitung von Messwerten aus dem Feld, die über Leitsysteme übertragen werden. So treffen einerseits Computational Trust (Algorithmen in Leitsystemen, welche die Vertrauenswürdigkeit des Energieversorgungssystems, seiner Komponenten und Daten einschätzen) und andererseits menschliches Vertrauen (die subjektive Einschätzung des Operators) aufeinander.
Neben Operatoren, die Energieversorgungssysteme überwachen und steuern, interagieren auch immer mehr Kunden direkt mit dem Energiesystem – insbesondere als Prosumer. Für diese Kunden sind andere Vertrauensaspekte relevant, u.a. Fairness, Transparenz, Datenschutz und Mündigkeit.
Netzbetreiber müssen also die Leistung und Zuverlässigkeit von Energieversorgungssystemen gut einschätzen können und auch den Menschen in diesen Systemen vertrauen. Dafür müssen technisches und menschliches Vertrauen zusammen gedacht und in einem gemeinsamen Modell beschrieben werden.
Interdisziplinäre Forschung – von Informatik und Energietechnik bis Soziologie und Psychologie – entwickelt derzeit Modelle, um menschliches Vertrauen und Computational Trust zu einem gemeinsamen Rahmen zu verschmelzen. Nur so lassen sich Systeme entwerfen, die nicht nur technisch zuverlässig, sondern auch sozial legitimiert sind.
Bedarfe und Bedürfnisse abbilden
Bei der Entwicklung digitalisierter Energiesysteme muss eine grosse Vielfalt an Akteuren mitgedacht werden. Neben Betreibern und Entwicklern rücken dabei insbesondere Verbraucher und Prosumer in den Blick. Wie aber betrachtet man die Interaktion dieser Menschen mit den verschiedenartigen, zunehmend digitalen Technologien schon während ihrer Entwicklung?
Dabei fordert die Energiewende den Menschen einiges ab: Aus einer technologischen Perspektive heraus werden Verbrauchsverhaltensanpassungen bis hin zu Komforteinschränkungen erwartet. So sollen energieintensive Prozesse aus Netzstabilitäts- oder ökonomischen Gründen zeitlich verlagert werden. Zugleich verändern sich soziale Konstellationen beispielsweise durch neue Kooperationsmöglichkeiten in Form von Energiegemeinschaften oder Energy Sharing.
Wie aber können digitalisierte Systeme so entwickelt werden, dass Menschen diese erforderlichen Systeme also tatsächlich einsetzen? Hier setzt die Idee der reflexiven Technikentwicklung an. Sie versteht Technik nicht als fertiges Produkt, sondern als Teil eines gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses. Entwickelnde, Betreibende und Nutzende gestalten dabei wechselseitig die Technologie – und reflektieren fortlaufend deren Wirkungen, Annahmen und Grenzen. In einer reflexiven Technikentwicklung werden soziale Kontexte und zwischen verschiedenen beteiligten und betroffenen Akteuren kontinuierlich in den Entwicklungsprozess zurückgeführt. Dadurch können Aushandlungsprozesse, Deutungshoheiten und Rollenzuschreibungen kritisch hinterfragt und Grundannahmen in der Gestaltung technischer Lösungen transparenter gemacht werden.
In diesem Sinne ermöglicht ein aktiv und reflexiv gestaltetes Wechselverhältnis zwischen allen beteiligten Akteuren – Netzbetreibern, Energieversorgern, Entwicklern und Endkunden – die Entwicklung einer vertrauenswürdigeren und an tatsächliche Bedürfnisse angepassten Technologie.
Fazit: Vertrauen als Voraussetzung der Energiewende
Digitalisierung kann die Energiewende entscheidend voranbringen – wenn sie von Vertrauen getragen wird. Dieses Vertrauen entsteht nicht automatisch durch technische Sicherheit, sondern durch nachvollziehbare Prozesse, faire Beteiligung und transparente Entscheidungslogik. Im Zusammenspiel von menschlichem und maschinellem Vertrauen, zwischen Automatisierung und Mitgestaltung, liegt der Schlüssel für ein Energiesystem der Zukunft, das nicht nur effizient, sondern auch gesellschaftlich legitimiert und resilient ist. Nur wenn Menschen sich auf digitale Systeme verlassen können, dann wird aus technologischer Innovation echte Transformation.
Diese Veröffentlichung ist im Rahmen des Forschungsprogramms «Transformation des Energiesystems Niedersachsen» (TEN.efzn) am Energie-Forschungszentrum Niedersachsen (efzn) entstanden. Das Projekt wurde mit Mitteln aus zukunft.niedersachsen, dem gemeinsamen Wissenschaftsförderprogramm des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur und der Volkswagen-Stiftung gefördert.