Fachartikel Automation , Energienetze , Infrastruktur

Digital Substation: Prozessbus im Einsatz

Digitalisierung der Prozessbus-Technologie

06.11.2017

Die Digitalisierung der Prozessebene beziehungsweise die Implementierung der Prozessbus-Technologie für sogenannte «Digital Substations» stellt einen der herausforderndsten Paradigmenwechsel sowohl in der Schutztechnik als auch in der Stationsautomatisierung dar. In einem Pilotprojekt sammelte Sprecher Automation GmbH wichtige Erfahrungen.

Der Wandel von hartverdrahteten Signalen zu netzwerkbasierter Kommunikation von Messwerten verspricht viele Vorteile, birgt aber ebenfalls wesentliche technologische Hürden, welche gelöst werden müssen. Gemeinsam mit dem norwegischen Transportnetzbetreiber Statnett SF hat sich Sprecher Automation GmbH dieser Herausforderung im Rahmen eines Pilotprojektes gestellt.

Die Prozessbus-Technologie

Der Wandel zur Digitalisierung und netzwerkbasierten Kommunikation hat den Bereich der Stationsautomatisierung in den vergangenen Jahrzenten bereits massgeblich geprägt. In diesem Kontext wurde der sogenannte Prozessbus basierend auf Sampled Values gemäss IEC  61850-9-2 ins Leben gerufen. Dieses Konzept geht in der Hierarchie der Stationsautomatisierung auf die unterste Ebene und beschreibt die digitale Einbindung von Komponenten auf Prozessebene.

Diese Komponenten, wie etwa Spannungs- und Stromwandler (CT/VT), werden bisher hartverdrahtet an Schutz-/Automatisierungsgeräte angeschlossen, und sollen nun digital in ein Netzwerk eingespeist werden können. Anstatt eines analogen Signals, welches beispielsweise dem momentanen Spannungswert entspricht, werden nun innerhalb sogenannter Sampled Value Streams die digitalisierten Messwerte vom Wandler über das Prozessbus-Netzwerk an die Schutzgeräte gesendet.

Diese Gegenüberstellung zwischen konventioneller Technologie und dem «Digital Substation»-Begriff kann einfach veranschaulicht werden. Im ersten untenstehenden Bild wird ein konventionelles System schematisch dargestellt. Das Wesentliche in dieser Darstellung sind die notwendigen Kupferleitungen, welche zwischen Schalthaus, Freiluftschrank sowie den Primärkomponenten verlegt werden müssen, um die analogen Signale und Steuerbefehle zu übertragen.

Demgegenüber stellt das zweite untenstehende Bild – stark vereinfacht – eine mittels Prozessbus digitalisierte Station dar. In diesem Sinne sind die genannten Komponenten nicht durch dezidierte Kupferleitungen, sondern durch ein gemeinsames Netzwerk verbunden. Kupfer wird somit wortwörtlich durch digitale Kommunikation ersetzt.

Potenzielle Einsparungen

Aus diesem sehr abstrakten Vergleich werden die wesentlichen Charakteristiken und damit verbundene Vorteile, die man sich in der Fachwelt verspricht, deutlich. Neben der Ersparnis von Kupferleitungen und den damit verbundenen Kosten für Verlegung und Prüfung resultiert auch eine Platzersparnis: Während in den Steuerschränken bisher teilweise mehrere 100  Ein- und Ausgänge notwendig waren, werden diese nun durch einige wenige Kommunikationsschnittstellen ersetzt.

Mit Sprecon bietet Sprecher Automation eine innovative und hoch modulare Automatisierungs- und Schutzplattform für alle Spannungsebenen und Anlagenbauformen in der Energieübertragung und der Energieverteilung, welche die neuen Standards für IT-Sicherheit erfüllt und daher für den Einsatz in kritischen Infrastrukturen bestens geeignet ist. Sprecon bildet somit die optimale Ausgangsbasis für dieses Pilotprojekt.

Da Sprecon-Geräte modular aufgebaut sind und je nach Einsatzzweck spezifisch bestückt werden können, kann die Produktlinie auch in einer Digital Substation sofort eingesetzt werden. Die Modularität ermöglicht dabei eine einfache Reduktion der I/O-Bau­gruppen zugunsten der Konzentration auf Kommunikationsbaugruppen und redundante Netzwerkschnittstellen für den Prozessbus. Weitere potenzielle Vorteile, wie etwa zentralisiertes Testen, erhöhte Personensicherheit bei Anwendung von LWL-basierenden Sensoren anstelle von klassischen Messwandlern und viele mehr, werden in der Fachwelt diskutiert.

Demgegenüber bestehen natürlich auch Hürden, welche überwunden werden müssen. Diese sind etwa Wartung und Lebenszykluskosten von nun neuen Netzwerkkomponenten, Risiken in Verbindung mit Cybersicherheit, Abhängigkeit von Herstellern, und viele mehr. Ebenfalls müssen Prozesse und Richtlinien für das Testen des Schutzsystems grundlegend überdacht und angepasst werden, da dieses nun über simulierte Mess- und Auslösesignale funktioniert. Um die erreichbaren Vorteile und die zu überwindenden Hürden klar und deutlich verifizieren zu können, wurde ein Pilotprojekt ins Leben gerufen, welches Sprecher Automation GmbH als Hersteller im Auftrag des norwegischen Transportnetzbetreibers Statnett umsetzt.

Das Pilotprojekt

Um die Zukunft digitaler Stationsautomatisierung umfangreich bewerten zu können, hat Statnett entschieden, ein Pilotprojekt zu realisieren, welches nicht nur die Prozessbustechnologie an sich evaluiert, sondern im Rahmen eines zweijährigen Probebetriebes sämtliche praktischen Aspekte beginnend bei ökonomischen Gesichtspunkten über Interoperabilität bis hin zu technischer Machbarkeit und Technology Readyness betrachtet. Ziel war es, gemeinsam mit Sprecher Automation innerhalb eines Jahres eine auf Prozessbus und nicht-konventionellen Wandlern basierende Stationsautomatisierung umzusetzen, welche in einem realen 300-kV-Umspannwerk, parallel zur existierenden Leit- und Schutztechnik, in Betrieb genommen wird.

Um eine ganzheitliche Bewertung zu ermöglichen, wurde dabei nicht nur Sprecon-Leit- und -Schutztechnik eingesetzt, sondern es kamen parallel dazu ebenfalls Schutzgeräte von zwei weiteren Herstellern zum Einsatz, um die Eigenschaften der jeweiligen Systeme sowie die tatsächliche Interoperabilität abzubilden.

Eine verallgemeinerte Topologie zeigt das untenstehende Bild. Rechts im Bild befindet sich das Schalthaus, wo sich Schutz- und Leittechnikgeräte sowie Merging Units (MU) und weitere Geräte wie Zeitquellen befinden. Nach links gehend wird die Primärebene dargestellt, wobei im Freiluftschrank, der sich in zukünftigen Anlagen direkt bei der Primärtechnik befindet, die Switch Control Unit (SCU) zur Erfassung der Stellungen und Ausgabe der Schaltbefehle und die Stand Alone Merging Units (SAMU) zur Erfassung konventioneller Strom- und Spannungssignale betrieben wird.

Vergleich zu konventioneller Technologie

Weil alle konventionellen Signale im Schalthaus auf einer Klemmleiste bereits vorhanden sind und um das Verhalten der «Digital Substation» im Zuge des zweijährigen Pilotbetriebes einfach auswerten zu können, werden im konkreten Pilotprojekt alle Schränke des Systems nebeneinander im Schalthaus aufgestellt. Das Pilotprojekt wurde in einer bestehenden Anlage umgesetzt, weshalb sich neben neuen, nicht-konventionellen Stromwandlern (NCIT) auch konventionelle via Kupfer direkt verdrahtete Wandler befinden.

Diese Kombination wurde mit der Absicht eingesetzt, die Funktionsweise beziehungsweise das Verhalten von NCIT gegenüber konventionellen Wandlern zu untersuchen und zu validieren. Die Wandler geben dabei die Messsignale (im Falle der NCIT über proprietäre Kommunikation) an die MU/SAMU weiter, welche die Verbindung zum Prozessbus realisieren, die Messwerte über sogenannte Sampled Values am Prozessbus einspeisen und so den Leittechnik- und Schutzgeräten (PCU) zur Verfügung stellen.

In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass eine direkte Abhängigkeit zwischen NCIT und MU besteht, da für deren Zusammenschluss keine standardisierten Signale existieren. Die entstehende Herstellerabhängigkeit bei NCIT und MU ist somit besonders in der Lebenszyklusbetrachtung der Anlage zu berücksichtigen.

Über den Prozessbus können Schutzgeräte somit sämtliche Messwerte beziehen, Fehler entsprechend erkennen und im Fehlerfall auslösen. Das Auslösen geschieht über IEC-61850-8-1-GOOSE-Nachrichten, welche an die SCU geschickt werden (Anm.: Im Pilotprojekt ist die SCU/IO entgegen der Darstellung aus praktischen Gründen nicht im Freiluftsteuerschrank eingebaut, sondern im Schalthaus). Am Prozessbus wird somit nicht nur Sampled Values eingesetzt, sondern ebenfalls GOOSE. Da zusätzlich eine hochgenaue Synchronisation erreicht werden muss, wird die Menge der eingesetzten Protokolle um PTP (Precision Time Protocol) ergänzt.

Neben dem Prozessbus wird ebenfalls ein Stationsbus betrieben. Dieser verbindet die Schutzgeräte mit dem Stationsleitgerät, welches wie üblich die Kommunikation zur Leitwarte übernimmt. Am Stationsbus wird neben IEC 61850 MMS ebenfalls GOOSE (zum Beispiel für Verriegelungen) eingesetzt. Die Sprecon-Geräte erlauben hier die flexible Kombination und Umsetzung verschiedener Protokolle (wie IEC  60870-5-104 mit IEC  61850  MMS).

Diese Ausführung beschreibt die Implementierung einer Digital Substation auf sehr abstraktem Niveau. Im Detail müssen speziell im Bereich der Netzwerktechnik vielgestaltige technologische Herausforderungen gelöst werden, um ein präzise funktionierendes Gesamtsystem zu erhalten.

Zeitsetzung und Synchronisierung

Üblicherweise wird in der konventionellen Stationsautomatisierung NTP (Network Time Protocol) zur Synchronisation der Uhren verschiedener Geräte am Stationsbus eingesetzt. Während NTP eine Synchronisationsgenauigkeit im Bereich von Millisekunden ermöglicht, ist besonders die einfache Implementierbarkeit vorteilhaft, da die NTP-Kommunikation über beliebige Netzwerktechnik ausgeführt werden kann und keine spezielle Netzwerkinfrastruktur verlangt.

Während am Prozessbus Messwerte zwischen Wandler beziehungsweise SAMU/MU und Schutzgeräten kommuniziert werden und Ungenauigkeiten in der Zeitgebung direkt zu Ungenauigkeiten der Messungen und somit der Schutzauslösungen führen, wird hierbei eine genauere Methode für Zeitsynchronisation benötigt. IEEE  1588  PTP bietet diese Genauigkeit und ermöglicht eine Synchronisation bis auf Nanosekunden. Die Ausrollung von PTP ist jedoch wesentlich komplexer, da die Netzwerkinfrastruktur PTP unterstützen muss – und somit jedes Gerät im Prozessbus. Dies beeinflusst massgeblich die gesamte Konzeptionierung des Netzwerkes sowie die Auswahl der eingesetzten Produkte und begründet somit zusätzliche Komplexität im Gesamtprojekt.

Bandbreitenanforderungen

In der konventionellen Stationsautomatisierung werden am Stationsbus typischerweise Datenraten im Bereich von einigen MBits/s erreicht. Klassisches 100-Mbit/s-Fast-Ethernet ist somit ausreichend. Beim Einsatz von Prozessbus ergibt sich hier eine völlig neue Situation. Während das Prinzip hierbei ist, zeitlich hochaufgelöste Messungen digitalisiert an Schutzgeräte zu verteilen, ergeben sich durch diese hohen Auflösungen entsprechend höhere Datenraten.

Wird beispielhaft eine Abtastrate von 4  kHz eingesetzt, ergibt sich eine benötigte Bandbreite von ca. 4  Mbit/s pro Sampled Value Stream (und somit pro Messwert). Werden beispielhaft drei Streams/Messwerte kommuniziert, ergibt sich eine Basislast von bereits 12  Mbit/s, welche stetig vorhanden ist. Durch zusätzliche GOOSE Broadcasts und PTP-Nachrichten, welche sich wie vorhin gezeigt ebenfalls am Prozessbus befinden, erhöht sich die notwendige Bandbreite. Im Endeffekt verbleibt die Erkenntnis, dass zur Realisierung einer Digital Substation Gigabit-Ethernet notwendig ist.

Verfügbarkeit und Redundanz

Die Gewährleistung der notwendigen Verfügbarkeit ist eine der wichtigsten Herausforderungen. Schliesslich muss das nun auf Kommunikationstechnologie basierende Schutzsystem ebenso verlässlich wie das bisher auf Kupferleitungen basierende konventionelle System funktionieren. In der Netzwerktechnik wird Verfügbarkeit primär durch Redundanz erreicht.

Gemäss IEC  61850 stehen dabei zwei Alternativen zur Auswahl, und zwar HSR (High Availability Seamless Redundancy) und PRP (Parallel Redundancy Protocol). Ein Vergleich beider Technologien ist umfangreich und wurde bereits vielfach durchgeführt, wobei jede Variante für sich spezifische Vor- und Nachteile besitzt. Aktuelle Pilotprojekte – und so auch das gegenständliche Projekt – entscheiden sich für PRP. Gründe hierfür sind vielfältig und reichen von flexiblerem Netzwerkdesign über geringere technologische Hürden beim Verbund verschiedenster Geräte bis hin zu detailliert technischen Gründen wie etwa der möglichen Netzwerksegmentierung mittels VLANs (virtuelle LANs).

Letztendlich ist Netzwerkre­dundanz jedoch ein wichtiger Eckpfeiler zur Erreichung einer höchstmöglichen Verfügbarkeit des Gesamtsystems und wurde so auch im Pilotprojekt realisiert. Das nun wesentlich komplexere Netzwerkdesign, die Auswahl geeigneter Komponenten sowie die Redundanzfähigkeit der eingesetzten Protokolle beeinflussen allerdings auch hier die Komplexität des Gesamtprojektes.

Herausforderungen bei der Kommunikationstechnologie

In Summe ist aus diesen Anforderungen eindeutig ableitbar, dass auf dem Weg zu Digital Substations wesentliche Herausforderungen im Bereich der Kommunikationstechnologie liegen. Diese müssen nicht nur in der darunterliegenden Netzwerktechnik gelöst werden, sondern ebenfalls im Bereich der Schutz- und Leittechnikgeräte. In diesem Kontext wurde die Sprecon-Plattform bereits ausreichend vorbereitet. Durch den Wechsel auf eine leistungsstarke Multicore-CPU wurden in der aktuellen Hardwareplattform schon ausreichende Reserven vorgesehen, um für ressourcenintensive Aufgaben der Zukunft, wie etwa hohe Bandbreiten, redundante Kommunikation, hochgenaue Zeitsynchronisation oder Cybersicherheit gerüstet zu sein.

Erfolgreiches Pilotprojekt

Das Konzept vollständig digitaler Stationen, sogenannte Digital Substations mit Prozessbus, verspricht umfangreiche und vielgestaltige Vorteile. Nichtsdestotrotz birgt es auch zusätzliche technische Komplexität, welche beherrscht werden muss und wofür kompetente Technologiepartner eine grundlegende Voraussetzung darstellen. Das ambitionierte Vorhaben, innerhalb eines Jahres ab Angebotsannahme eine reale Digital Substation zu implementieren, konnte im vorliegenden Projekt erfolgreich gemeistert werden. Während im August die Factory Acceptance Tests im Sprecher Automation Stammhaus in Österreich erfolgreich absolviert wurden, wird aktuell die Anlage in Norwegen real in Betrieb genommen.

Autor
Dr. Stephan Hutterer

arbeitet im Produktmanagement Schutz- und Leittechnik bei Sprecher Automation GmbH.

  • Sprecher Automation GmbH, A-4018 Linz

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