Interview Erneuerbare Energien

«Dieses Thema müssen wir weiterverfolgen»

Periglaziales Potenzial

03.02.2020

Die Gletscher in den Alpen ziehen sich immer weiter zurück. Diese Gletscherrückzugsgebiete eröffnen der heimischen Wasserkraft neue Potenziale. Wo diese liegen, und weshalb sie trotz nicht einfacher Rahmenbedingungen weiter abgeklärt werden sollten, erklärt Robert Boes im Interview.

Bulletin: Robert Boes, welche neuen Möglichkeiten gibt es für die Wasserkraft, wenn sich die Gletscher weiter zurückziehen?

Robert Boes: In den Gletscherrückzugsgebieten, die auch als «periglaziales Umfeld» bezeichnet werden, wird es landschaftliche Veränderungen geben. Weil sich unter den heutigen Gletschern viele Geländemulden befinden, das heisst die Gletscherbett-Topo­grafie Vertiefungen aufweist, können in eisfrei werdenden Gebieten nebst Gletschervorfeldern an einigen Stellen natürliche Seen entstehen.[1] Zudem wird im Hochgebirge mit dem Rückzug der Gletscher zusätzliche Fallhöhe für die Wasserkraft nutzbar. Mit dem Abschmelzen der Gletscher ändert sich auch die Verteilung des Abflusses über das Jahr. Es ist denkbar, solche neuen Seen künftig für die Wasserkraft und andere Zwecke zu nutzen, beziehungsweise diese leicht höher zu stauen, oder in geeigneten Geländekammern neue Stauseen mit Sperrbauwerken zu erstellen. So könnte zumindest ein Teil der ausgleichenden Wirkung der Gletscher auf den Abfluss «kompensiert» werden.

Verfügen alle Gletscher über ein Wasserkraftpotenzial oder braucht es bestimmte topografische oder andere Voraussetzungen, um ein solches Potenzial zu realisieren?

Auch wenn die Gletscher zum Grossteil abgeschmolzen sein werden, wird es einen gewissen Abfluss aus dem Niederschlag geben, der in der Jahressumme ähnlich erwartet wird wie heute. Da es ein Wasserdargebot und aufgrund der alpinen Umgebung gewisse Fallhöhen gibt, verfügen alle heutigen Gletscherstandorte über ein theoretisches Wasserkraftpotenzial. Das realisierbare Potenzial ist aus technischen, wirtschaftlichen, ökologischen und gesellschaftlichen Gründen kleiner als das theoretische Potenzial. Viele Gletscherrückzugsgebiete liegen in oder oberhalb von Schutzgebieten (Landschaftsschutz, Auenschutz etc.). Es werden Interessenabwägungen erforderlich sein, um die soziale Akzeptanz zu erreichen. Mit dem Energiegesetz wird Wasserkraftanlagen ab einer bestimmten Grösse ein nationales Interesse zugesprochen, und es wurden Investitionsbeiträge für die Grosswasserkraft eingeführt. Aus wirtschaftlicher Sicht sind Standorte attraktiv, an denen ein nennenswerter jährlicher Abfluss vorhanden ist, Wasser mit möglichst geringem Aufwand gespeichert werden kann, grosse Höhenunterschiede mit möglichst kurzen Triebwasserwegen genutzt werden können und in deren Nähe nutzbare Anlagen vorhanden sind (Erschliessung, Energieableitung, schon bestehende Kraftwerke). In der Regel haben Anlagen mit grosser Leistung geringere Gestehungskosten (Skaleneffekt). In einer jüngeren Studie [2] wurden alle Gletscher mit Abflussvolumina von mindestens 10  Mio.  m3/Jahr (im Mittel der Periode 2017–2035) näher berücksichtigt. Das entspricht einem mittleren jährlichen Abfluss von 0,32  m3 pro Sekunde.

Wie hoch schätzen Sie das Potenzial in der Schweiz ein?

Die Ergebnisse der oben erwähnten Studie zeigen Folgendes: Je nach Gewichtung von diversen Kriterien zu Energiewirtschaft, Umwelt und Gesellschaft ergeben die besten 20 Standorte ein Jahresproduktionsvermögen von 1,6 bis 1,8  TWh/Jahr. Im Prinzip lässt sich dies auf weitere Gletscher ausdehnen, aber deren Beitrag zur Produktion nimmt relativ ab. Insgesamt wurden schweizweit 62 Standorte, die bis 2035 eisfrei werden, betrachtet. Die Top-Standorte sind (je nach Gewichtungen, in alphabetischer Reihenfolge) die Gletscher Aletsch (VS), Allalin (VS), Corbassière (VS), Gauli (BE), Gorner (VS), Hüfi (UR), Oberaletsch (VS), Palü  (GR), Rhone (VS), Roseg (GR), Schwarzberg (VS), Trift (BE), Turtmann (VS) und Unterer Grindelwald (BE).[3] Der Energie­inhalt der denkbaren Stauseen an den 20 besten Standorten wurde auf rund 1,5  TWh geschätzt, was methodisch bedingt einem unteren Grenzwert entspricht. Der effektive Wert dürfte eher bei 1,8  TWh liegen. Der Energieinhalt gibt das Produktionsvermögen an, welches mit einer Speicherfüllung in den von dem Speicher gespeisten Kraftwerken erzeugt werden kann. Bezogen auf das heute vorhandene Speichervermögen aller Speicherwasserkraftwerke in der Schweiz von 8,8  TWh entsprächen 1,8  TWh also einem Zuwachs um 20 %.

Fliessen diese Erkenntnisse bereits in Projekte ein?

Es handelt sich um eine Potenzialstudie, die einen groben Überblick über mögliche Standorte und wichtige Kennzahlen gibt. Die Erkenntnisse daraus fliessen in diverse Projektideen ein beziehungsweise stimulieren diese. Das Beispiel des Speicherkraftwerks am Triftgletscher der Kraftwerke Oberhasli AG ist bereits im Behördenverfahren. In weiterführenden Studien sind zusätzliche Aspekte zu untersuchen, zum Beispiel, ob die Standorte von der Geologie her in Frage kommen, wie sich die unterschiedlichen Nutz- und Schutzanliegen möglichst gut berücksichtigen lassen und wie solche neuen Wasserkraftanlagen mit bestehenden kombiniert werden können.

In der Diskussion vor der Abstimmung zur Energiestrategie 2050 war die Rede von rund 2 % zusätzlichem Potenzial, welches die Schweizer Wasserkraft noch habe. Ist dieses Potenzial in Gletscherrückzugsgebieten vorhanden?

Das erwähnte theoretische Jahresproduktionsvermögen der 20 besten Standorte, die bis 2035 eisfrei werden, von 1,6 bis 1,8  TWh/Jahr entspricht bezogen auf das heutige Wasserkraft-Regelarbeitsvermögen von rund 36  TWh einem Neubaupotenzial von rund 4 bis 5 %. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass vermutlich nicht alle 20 Anlagen so realisiert werden können. Weiter muss berücksichtigt werden, dass die Wasserkraftproduktion aufgrund der Umsetzung beziehungsweise erhöhter Anforderungen des Gewässerschutzgesetzes zurückgehen wird. Je nach Szenario wird diese Produktionsminderung bis 2035 auf 0,8 bis 1,6  TWh/Jahr abgeschätzt.[4] Im Saldo würde also bis 2035 etwa die Hälfte bis das gesamte periglaziale Neubaupotenzial dazu dienen, die erwähnte Produktionsminderung auszugleichen. Weiter fiel die Wasserkraftproduktion in den letzten Jahren respektive Jahrzehnten aufgrund des fortschreitenden Abschmelzens der Gletscher relativ hoch aus. Nach dem Gletscherrückzug wird dieser vorübergehende, für die schweizerische Elektrizitätsversorgung günstige Effekt wegfallen. Man geht von einem Rückgang von 0,56  TWh/Jahr bis 2050 aus.[5] Das heisst: Soll das heutige Produktionsniveau der Wasserkraft langfristig erhalten werden, müssen Neu- und Ausbauten erfolgen. Zusätzliche Speicherseen in den Alpen können aber auch dem Schutz vor Naturgefahren (vor allem Hochwasser) und anderen Zwecken wie der Bewässerung dienen (Mehrzweckanlagen). Neue periglaziale Speicherkraftwerke sind nicht nur wegen der zusätzlichen Produktion wertvoll, sondern vor allem wegen des zusätzlichen Speichervermögens. Damit sind wir im Winter weniger auf Stromimporte angewiesen. Weiter können wir so die zunehmende unregelmässige Elektrizitätsproduktion aus Sonne und Wind zukünftig besser in unser Energieversorgungssystem integrieren.

Die Ursache für das neue periglaziale Wasserkraftpotenzial ist ja die Klimaerwärmung und der damit verbundene Gletscherschwund. Könnten durch eine – zugegeben unrealistische – sehr schnelle Umsetzung der Klimaziele solche Planungen für neue Speicherwasserkraftanlagen in den Alpen hinfällig werden?

Nein. Studien unserer Glaziologen an der VAW zeigen: Auch wenn wir heute das Klima auf das der Periode 1988–2017 «einfrieren» könnten, es also zu keiner weiteren Erwärmung käme, würden die Gletscher bis zum Ende des Jahrhunderts weitere fast 40 % ihres Eisvolumens verlieren.[6] Die Gletscher werden weiter schmelzen, bis sie ein neues Gleichgewicht erreichen werden. Die oben genannten Potenzialwerte beziehen sich auf ein Emissionsszenario, welches auf der Annahme eines mittleren globalen Lufttemperaturanstiegs zwischen der Referenzperiode 1986–2005 und 2100 von 1,8°C basiert. Es wird also unabhängig von Bestrebungen zur Begrenzung der weiteren globalen Erwärmung zusätzliche eisfreie Gebiete in den Schweizer Alpen geben, in denen das Wasserkraftpotenzial genutzt werden kann. Für EVU ist derzeit ungewiss, wie sich Investitionen in neue periglaziale Wasserkraftanlagen mit der heutigen und künftigen Energiemarktsituation über die Konzessionsperiode von bis zu 80 Jahren wirtschaftlich begründen lassen.[7] Da aber von einer Projektidee bis zur Inbetriebnahme einer Grosswasserkraftanlage ohne Weiteres 15 Jahre erforderlich sein können, die Wasserkraft auch zukünftig eine wichtige Rolle in der Elektrizitätsversorgung der Schweiz spielt und indirekte Zusatznutzen bringt, empfehle ich, die Planungen und Abklärungen für neue Mehrzweck-Wasserspeicher in den Alpen weiterzuverfolgen.

Referenzen

[1]   Wilfried Haeberli, Michael Bütler, Christian Huggel, Hansruedi Müller, Anton J. Schleiss, «Neue Seen als Folge des Gletscherschwundes im Hochgebirge», Nationales Forschungsprogramm «Nachhaltige Wassernutzung» (NFP  61), VDF Hochschulverlag, 2013.

[2]   Daniel Ehrbar, «Hydropower Potential and Reservoir Sedimentation in the Periglacial Environment Under Climate Change», VAW-Mitteilungen 248, Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie, Herausgeber: Robert Michael Boes, ETH Zürich, 2018, abrufbar unter: vaw.ethz.ch/das-institut/vaw-mitteilungen/2010-2019.html.

[3]   Daniel Ehrbar, Lukas Schmocker, David Vetsch, Robert Boes, «Wasserkraftpotenzial in Gletscherrückzugsgebieten der Schweiz», Wasser Energie Luft 4/2019 (111), S. 205–212, abrufbar unter: issuu.com/swv_wel/docs/_wel_4_dezember_2019_issuu.

[4]   Roger Pfammatter, Nadia Semadeni Wicki, «Energieeinbussen aus Restwasserbestimmungen – Stand und Ausblick». Wasser Energie Luft 4/2018, S. 233–245, abrufbar unter: issuu.com/swv_wel/docs/wel_4_2018.

[5]   Bettina Schaefli, Pedro Manso, Mauro Fischer, Matthias Huss, Daniel Farinotti, «The role of glacier retreat for Swiss hydropower production», Renewable Energy 132, S.  616–627, 2019.

[6]   Harry Zekollari, Matthias Huss, Daniel Farinotti, «Modelling the future evolution of glaciers in the European Alps under the Euro-Cordex RCM ensemble», The Cryosphere, 13, S. 1125–1146, 2019, DOI: 10.5194/tc-13-1125-2019.

[7]   Helmut Stalder, «Wo mit der Gletscherschmelze aus neuen Gletscherseen Stauseen werden könnten – und warum keiner sie bauen will», Neue Zürcher Zeitung vom 20.  September 2019.

Autor
Ralph Möll

war Kom­mu­ni­kations­spezia­list beim VSE.

Zur Person

Robert Boes studierte Bauingenieurwesen an der RWTH Aachen, der Ecole Nationale des Ponts et Chaussées in Paris und der TU München. Im Jahr 2000 promovierte er an der ETH Zürich. Im Anschluss arbeitete er bei der Tiwag-Tiroler Wasserkraft AG, wo er interdisziplinäre Projekte in den Bereichen Wasserbau, Wasserkraft und Hochwasserschutz leitete. Seit 2009 ist Robert Boes ordentlicher Professor für Wasserbau und Direktor der Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie (VAW) am Departement Bau, Umwelt und Geomatik der ETH Zürich.

www.vaw.ethz.ch

boes@vaw.baug.ethz.ch

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